Freiheit predigen

Der Reformationstag 2021 in fünf Auslegungen

von Martin Böger, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Niklas Schleicher und Julian Scharpf
(ein Klick auf die Namen springt direkt zur jeweiligen Predigt)

Es ist ruhiger im auf dem Blog des Netzwerkes für Theologie in der Kirche geworden. Wenn wir Texte verfassen, dann höchstens ab und an in der „Eule“. Die Ruhe hat mehrere Gründe, einer ist sicherlich, dass wir mittlerweile an unterschiedlichen Orten tätig sind, die gerade mehr Aufmerksamkeit fordern, sei es Vikariat, Pfarramt oder Assistenz an der Universität.

Anyway, der große Teil von uns ist mehr oder weniger regelmäßig sonntags im Einsatz und predigt. Wie es der Zufall so will, haben fünf (also fast alle der Stammmannschaft) am Reformationstag Gottesdienst gehalten und Galater 5, 1-6 ausgelegt. Luthers Anliegen war zunächst wahrscheinlich ein genuin theologisches. Seine Ideen für die Reform der Kirche stammen aus seinen Reflexionen auf die biblischen Büchern. Auch deshalb erscheint es vielleicht interessant, was unsere Gruppe, die sich ja schon im Titel irgendwie der Rolle von Theologie in der kirchlichen Praxis gegeben hat, aus diesem Text zu diesem Tag macht.

Deshalb hier, zwei Tage nach dem Reformationstag: Predigten vom NThK zu Galater 5, 1-6 oder eben: Freiheit predigen. Es geht mal über Checklisten, mal über Pathos, mal über Luther in Worms, mal über Glaube und Werke, mal über staatliche Ordnungen, aber immer geht es um die Frage, was dieser Paulustext, die Reformation und die Freiheit, die in beiden steckt, uns heute noch bedeuten kann. Mögen die Predigten beispielhaft zeigen, was unterschiedliche Zugänge aus ein und demselben Text holen können und wie sie ihn zum Sprechen bringen. Wir freuen uns auf Rückmeldungen.

                                                                       Niklas Schleicher

Martin Böger: „Reformation als Vergewisserung: Gott will freie Menschen“

(gehalten in der Eberhardskirche Tübingen)

Liebe Gemeinde,

manchmal, ja manchmal überkommt mich ein Durst nach etwas Pathetischem. Und manchmal stille ich diesen Durst mit Gesang von Konstantin Wecker, Hannes Wader – mit Arbeiterliedern. Die Internationale, Auf auf zum Kampf oder auch Bella Ciao, Bella Ciao tönt es dann durch unser Haus und besonders aus der Küche heraus. Ich glaube, was mich an diesen Liedern besonders anspricht, ist deren besonderer Sound, deren Patina. Deren unbändiger, ansteckender Ruf nach Freiheit, nach Veränderung. Der Kampf einer kleinen hartgesottenen Gruppe, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengibt, sondern die etwas wagt, die etwas riskiert. Die um Freiheit, Gerechtigkeit und Anerkennung kämpft, ganz egal wie übermächtig und groß die Gegenmächte sind. Und selbstverständlich spricht aus ihnen auch immer eine gewisse Tragik, eine Schwere, eine Ahnung, dass die Wirklichkeit so manchen Visionen im Weg steht. Andere mögen sagen, aus ihnen spricht auch eine gewisse Wirklichkeitsferne, eine verblendete Ideologie – das mag sein. Und doch finde ich ihre Grundstimmung ansteckend, inspirierend und trotzig.

Zu diesen pathetischen, revolutionär-kämpferisch musikalischen Aufrufen passt in gewisser Weise der Predigttext zum heutigen Reformationstag aus dem Galaterbrief im 5. Kapitel, Verse 1-6:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Ich kann es mir beinahe vorstellen, wie Hannes Wader und Konstantin Wecker diese Verse mit Gitarrenmusik schmettern. Und auch ein anderer hat sich von dieser pathetischen, revolutionär- kämpferischen Grundstimmung des Evangeliums anstecken lassen -nur 500 Jahre früher auf dem Wormser Reichstag.

Vor Kaiser und Reichsständen bekannte der junge Augustinereremit Martin Luther, wohlwissend, dass seine Weigerung seine Schriften zu widerrufen ihn am eigenen Leben bedrohen könnte. „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders Gott helfe mir. Amen.“

Paulus und Luther. Zwei christliche Köpfe, an denen man sich reiben kann, die knallhart formulieren und beide in besonderer Weise für ihre Überzeugungen eingestanden sind. Beide unserem Verständnis des Glaubens einen erheblichen Schubs und Drall verpasst haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Um was ging es Paulus in diesen Versen? Es ging Paulus um die Frage der Beschneidung. Müssen sich Männer erst beschneiden lassen, bevor sie Christen werden können? Mit diesen Versen wollte Paulus keine antisemitische Ressentiments bedienen oder eine etwas verquere theologische Grundsatzdiskussion anzetteln, ob Gott sein jüdisches Volk verstoßen haben könnte. Sondern schlicht und einfach darum, wie das, was Gott in Jesus von Nazareth, der Welt offenbart hat, zu deuten ist. Es scheint so, dass die Galater in dieser Frage nicht wirklich entschieden waren. Denn sie verhielten sich einmal so. Dann wieder anders. Sie taktierten. Trafen Entscheidungen situativ. Lavierten sich durch. Und dieses Durchlavieren, dieses mal so mal so, das bringt Paulus auf die Palme. Nicht weil Paulus grundsätzlich und am liebsten schwarz/weiß denken möchte und nicht nachvollziehen könnte, dass es auch Graubereiche des Lebens gibt, wo es kein eindeutiges ja oder nein gibt. Sondern darum, weil an dieser Frage, an diesem herumlavieren das Evangelium an sich in Frage gestellt wird.

Weil das Herumlavieren an dieser Stelle das Tor zu Gedanken, man müsste etwas leisten, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden, weit und unumkehrbar aufstoßen. Und hier ist das Evangelium, die Liebe, die Freiheit in Christus, im Glauben mehr als eindeutig: Gott wertet nicht das Menschsein, stellt keinen Kriterienkatalog auf. Und deshalb stellt das Verhalten der Galater, das Ja, man könnte sich „Ja vielleicht auch einfach beschneiden lassen“ alles in Frage.

Das Evangelium ist an dieser Stelle Freiheit von Erwartungsdruck, Vorbedingungen und einem Kriterienkatalog. Die Freiheit davon, Erfolg haben zu müssen, um als Mensch etwas zu gelten, eine Würde zu haben. Die Freiheit davon, aus dem eigenen Leben und Alltag möglichst das Optimum, das Beste herauszuholen, immer perfekt zu sein müssen. Wir sind alle hineinverstrickt in Geschichten voller Illusion und Lüge, voller Schuld und Unvermögen. Stecken eigentlich in so mancher Unfreiheit und labeln sie als Freiheit. Paulus war überzeugt, kein Mensch kann sich aus eigener Kraft befreien. Die Freiheit, von der Paulus spricht, ist daher eine von Gott geschenkte, durch Christus gewirkte Freiheit. Es ist also eine Freiheit von etwas. Die Freiheit von der Angst um sich selbst. Die Freiheit, den eigenen Unzulänglichkeiten, den Zweifeln an sich selbst liebevoll begegnen zu dürfen. Die Freiheit, nicht unter dem Druck zu stehen, das eigene Leben zum Erfolg führen zu müssen. Wir sind zur Freiheit berufen, wir sind nicht zur Freiheit verdammt. Evangelische Freiheit gründet im Wissen um die Rechtfertigung des Gottlosen. Das heißt, sie gründet nicht in meinem Vermögen oder Unvermögen, nicht in meinem Erfolg und eben auch nicht Misserfolg. Sie weiß um die Abgründe und die Balken im eigenen Auge.

Und in dieser Freiheit ergeben sich neue Blickwinkel auf mich selbst und selbstkritische Überprüfungen, wie ich durchs Leben gehe, an welchen Dingen ich mein Herz aufhänge, welchen Zielen ich nachjage und welche Ketten ich mich unterjoche.

Gott will uns als freie Menschen. Franz Rosenzweig erzählt in seinem großen Werk „Der Stern der Erlösung“ von einer rabbinischen Legende, die von einem Fluss in einem fernen Lande erzählt, der so fromm sei, dass er am Sabbat nicht fließe. Rosenzweig folgert: Wenn dieser Fluss nun durch Frankfurt flösse, dann würde die ganze Judenschaft dort den Sabbat halten. Aber Gott – so Rosenzweig – will das nicht und tut das nicht. Es graut ihm vor dem unausbleiblichen Erfolg: Weil dann die Unfreiesten, die Ängstlichen und Kümmerlichen die „Frömmsten“ wären.

Gott will freie Menschen. Solche, die über ihre Angst und über ihre Anerkennungssehnsüchte hinauswachsen. Solche, die den Himmel schauen und mit offenem, freien Blick den Nächsten, die Nächste neben sich sehen. Ich muss nicht damit hadern, dass ich ein endliches Wesen bin. Ich muss nicht Gott sein. Ich darf Mensch sein. Gott will uns als freie Menschen, weil nur freie Menschen zur Liebe fähig sind. Freiheit so verstanden, ist deshalb kein Standpunkt, sondern ein Weg, auf den uns Gott gesetzt hat. Ein abenteuerlicher und riskanter Weg, der immer wieder an Grenzen führt. Ein Weg, der lebendig erhält und immer wieder auch ins Leben ruft.

Liebe Gemeinde, das Reformationsfest ist nicht nur ein Datum im Kalender. Nicht nur die Erinnerung und der Wunsch nach einer Kirche, die sich nicht eingräbt, sondern sich verändern kann und will. Reformation ist kein Standpunkt, sondern die Vergewisserung auf welchem Weg wir uns befinden und mit wem wir diesen Weg gehen. Mit einem Gott sind wir unterwegs, der uns mit Glaube, Liebe und Hoffnung beschenkt hat und der nicht will, dass wir dieses Geschenk vergraben. Angesteckt durch die Kraft der Freiheit, in die wir hineingenommen sind, die uns lebendig macht, wollen wir es uns nicht nur bequem machen, in den manchmal nur allzu bequemen Ketten, des schon immer so und weiter so. Bereit, etwas zu wagen und zu riskieren. Die aktuellen Herausforderungen für uns als Kirchen der Reformation -auch hier in Tübingen – sind riesig, aber nur gefühlt erdrückend. Evangelische Freiheit bedeutet auch hier, sich vom Druck Erfolg haben zu müssen, befreien zu dürfen und in gewisser Weise angstfreier in die Zukunft zu blicken.

Und so passt dieser Ruf, diese Vergewisserung der geschenkten Freiheit zu der eingangs erwähnten pathetischen Untertönen mancher Arbeiterliedern: als Erinnerung, als Sehnsucht, als Möglichkeit mutig zu sein, trotzig zu sein, sich nicht entmutigen zu lassen, den Spielraum der Freiheit auszuloten. Evangelische, christliche Freiheit hat für mich daher auch etwas mit Lebendigkeit zu tun. Die Freiheit aus Gott lässt uns leben, hoffen, lieben, streiten und gestalten. Gemeinsam. Miteinander. Und Füreinander.

Amen.

Tobias Jammerthal: „Wider dem himmlischen Girokonto, oder: Aus Freiheit tun was zu tun ist“

(gehalten in der Christuskirche Unterrottmannsdorf im Dekanat Ansbach)

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Lasst uns Gott in der Stille um den Segen für sein Wort bitten.

-Stille-

Segne, himmlischer Vater, unser Reden und Hören. Amen.

So steht es im Brief des Paulus an die Galater, im fünften Kapitel:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Herr segne dies Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde!

Am Reformationstag steht heute bei Ihnen ein Reformationshistoriker auf der Kanzel – Luther, Melanchthon und wie sie alle heißen, sind mein wissenschaftliches Spezialgebiet; ihr Denken und ihr Handeln fasziniert mich – und deswegen könnte ich sehr lange darüber reden. Aber in unserer Kirche ist es üblich, dass der Prediger nicht über alles Mögliche spricht, was ihn privat interessiert, sondern über einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift – und das hängt durchaus mit dem zusammen, was wir am Reformationstag feiern: Dass wir nämlich in der Heiligen Schrift alles finden, was wir für unser ewiges Heil wissen müssen. Und dass Predigt keine unverbindliche religiöse Rede ist, sondern Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott. Deshalb also heute kein kirchengeschichtlicher Vortrag über Luther und seine Freunde – sondern Predigt über einen Abschnitt aus dem Galaterbrief. Unser Predigttext ist kurz, aber er hat es in sich. Ich will versuchen, drei Punkte herauszugreifen, die für uns heute besonders wichtig sind: Der erste steht unter der Überschrift „Ganz oder gar nicht“, der zweite handelt vom Glauben und von den Werken, und ein dritter Punkt heißt schlicht, aber bedeutungsschwanger, „Freiheit“. Doch der Reihe nach!

Zum ersten: „Ganz oder gar nicht“. Paulus schreibt an eine Gemeinde aus sogenannten Heidenchristen; das waren also Menschen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, ohne vorher Juden zu sein. Bald nach der Gemeindegründung scheint es dort so gekommen zu sein, dass manche ihre Vorliebe für bestimmte alttestamentliche Vorschriften entdeckt haben. Die neutestamentliche Wissenschaft vermutet, dass es vor allem um Fasten- und Reinheitsgebote ging, also um bestimmte Praktiken der Frömmigkeit, durch die man sich sichtbar von anderen Menschen unterscheiden konnte – klar: Wenn alle außer mir Fleisch essen, bin ich etwas Besonderes, vor allem, wenn ich dann noch sagen kann, dass ich damit Gott gehorche. Der Höhepunkt dieser Frömmigkeit, die sich vor allem daran zeigte, an bestimmten Tagen zu fasten und bestimmte Reinheitsvorschriften zu befolgen, war die Beschneidung. Paulus hat für das alles nichts übrig: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ (V.2f). Wenn ihr euch am antiken Judentum orientieren wollt, ruft er den Galatern zu, dann funktioniert das nicht so, dass ihr euch nur bestimmte Teile davon aussucht – sondern das geht nur ganz oder gar nicht. Ich finde, darin steckt eine wichtige Mahnung gerade auch für uns heute: Immer wieder meinen Christen, sie wären besonders fromm, wenn sie bestimmte alttestamentliche Regeln besonders streng einhalten. Dazu gehört dann meist ein geringschätzender Blick auf alle, die das nicht tun. Paulus erinnert uns aber daran, dass es so nicht funktioniert. Wir können nicht – zum Beispiel – in der Sexualethik bestimmte Stellen aus dem Alten Testament zitieren und gegen andere Menschen ins Feld führen – und auf der anderen Seite am Samstag arbeiten oder nicht zehn Prozent unseres Einkommens spenden oder nur Menschen aus unserem eigenen Dorf heiraten oder auf der Anwendung der Todesstrafe für Ehebrecher bestehen. Wer meint, er müsste die Einhaltung alttestamentlicher Vorschriften zum Kriterium der Gottesbeziehung machen, der muss sich von Paulus anhören, dass er das nur tun kann, wenn er sich auch wirklich an alle diese Vorschriften hält. Aber das ist noch nicht alles: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen… ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (V. 2+4) ruft Paulus uns zu: Wer meint, er wäre besonders fromm, weil er – im Gegensatz zu anderen – auf bestimmte Regeln achte, seien die nun aus dem Alten Testament oder aus dem Bereich der Politik genommen, der hat sich von Christus abgewendet. Das klingt hart, ist aber nur folgerichtig: was hat es noch mit der Liebe Gottes zu tun, die in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn ich mich selbst darüber profilieren will, dass ich Dinge tue, die mich von anderen unterscheiden – und anderen vorwerfe, dass sie dabei nicht mitmachen?

Das ist starker Tobak – für uns heute wie damals für die Galater – aber damit sind wir schon beim zweiten Punkt: Glaube und Werke. Wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Wir erinnern uns dankbar daran, dass eine ganze Reihe von Theologen vor fünfhundert Jahren wirkungsvoll darauf hingewiesen hat, dass unser Seelenheil nicht davon abhängt, was wir tun. Einen der wichtigsten Bibeltexte, auf die sich Martin Luther stützte, haben wir vorhin in der Epistel gehört: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart… So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,21+28) Es gehört zum Kernbestand evangelischen Christentums, dass wir uns das immer wieder sagen lassen – gerade angesichts dessen, dass wir genauso wie alle Anderen immer wieder dazu neigen, dann eben doch Vorschriften darüber aufzustellen, unter welchen Bedingungen jemand „richtig“ Christ ist oder nicht. Aber sobald wir das Seelenheil eines Menschen an irgendwelche Bedingungen knüpfen wollen, erhebt Paulus schärfsten Einspruch – genau das ist ja das Evangelium, die frohe Botschaft, die er den Römern genauso wie den Christen in Galatien und auch uns heute vermitteln will, dass es solche Bedingungen nicht gibt. Den Römern sagt er es im Guten: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) – den Galatern schreibt er es ziemlich vorwurfsvoll ins Stammbuch, wie wir gehört haben: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt“ (Gal 5,4). Das, was wir tun, kann keine Bedingung dafür sein, dass Gott uns in Liebe annimmt. Das, was Christus für uns getan hat, reicht aus dafür, dass Gott uns in seine Gemeinschaft nimmt – wir müssen es nicht durch irgendeine Handlung bestätigen, als ob Gottes Heilshandeln von unserer Zustimmung abhängig wäre.

Soweit, so bekannt – aber hat das, was wir tun, denn wirklich gar keine Folgen für unsere Gottesbeziehung? Hier stellt sich nicht nur die Frage, warum ich mich eigentlich an irgendwelche ethischen Regeln halten sollte: Vorhin in der Evangelienlesung haben wir gehört, dass Christus Menschen, die bestimmte Dinge tun, als „selig“ preist. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. … Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,7+9) und so weiter – ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Paulus schreibt? Paulus schreibt den Galatern und den Römern ins Stammbuch, dass unsere Seligkeit nicht von dem abhängt, was wir tun – und Jesus predigt, dass alle, die bestimmte Dinge tun, selig sind? Hier gilt es, ganz genau hinzuschauen. Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch aussieht, gehört nämlich zusammen. Und den Schlüssel dafür, das zu verstehen, liefert uns unser Predigttext: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Ja: Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Handeln. Ja, was wir glauben und was wir tun, hängt miteinander zusammen – nur eben anders, als wir es auf den ersten Blick meinen. Die naheliegendste Lösung begegnet uns auch in unserer Kirche immer wieder: dass gute Taten nämlich den Glauben zeigen – mit anderen Worten: nur wer Gutes tut, glaubt auch. Und dann ist es, ehe wir uns versehen, eben doch so: Nur diejenigen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sind „richtige“ Christen. Es ist aber genau anders herum: Der Glaube ist durch die Liebe tätig – nicht gute Taten zeigen uns den Glauben. Das klingt spitzfindig – ist aber ein großer Unterschied.

Und damit sind wir beim dritten Punkt: der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) ruft Paulus aus – und das ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, dass sie Gutes tun, ohne dass sie es für irgendeinen eigennützigen Zweck tun müssten. Das ist die Seligkeit, von der Jesus spricht, dass wir aus dem Glauben daran, dass Gott uns bedingungslos liebt, selbst lieben können – ohne damit irgendwelche Nebenabsichten verbinden zu müssen. Wir sind davon befreit, etwas tun zu müssen, um von Gott geliebt zu werden; befreit davon, aus Angst vor Gott etwas tun zu müssen – und befreit dazu, uns unseren Mitmenschen liebevoll zuzuwenden, und das heißt: um ihrer selbst willen. Wenn ich liebe, helfe ich einem Anderen, weil er Hilfe nötig hat – und nicht, weil ich mein himmlisches Girokonto durch eine gute Tat auffüllen muss und Angst habe, dass mein Guthaben eventuell noch nicht reichen könnte für ein Ticket in den Himmel. Christus hat uns dazu befreit, in unseren Mitmenschen nicht Mittel zum Zweck unserer Seligkeit zu sehen – sondern eben Mit-Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das ist unsere Freiheit und deswegen preist Christus uns selig, dass wir aus dem Vertrauen auf den gnädigen und liebenden Gott heraus die Kraft gewinnen, Gutes zu tun. Nicht, weil wir es müssten, sondern weil wir es wollen.

Jedes Mal, wenn wir den Reformationstag feiern, liebe Gemeinde, sollen wir uns das aufs Neue gesagt sein lassen: Dass Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus von allen Zwängen befreit hat. Dass er uns die Freiheit geschenkt hat, uneigennützig zu sein. Und dass es deswegen gar nicht nötig ist, dass wir selbst irgendwelche Bedingungen dafür aufstellen, was ein richtiger Christ ist – egal, ob wir sie aus dem Alten Testament nehmen oder aus einem System politischer Korrektheit. Freuen wir uns lieber daran, was Gott für uns getan hat – und achten wir darauf, wo wir gebraucht werden. Denn nachdem uns die Last von den Schultern genommen ist, dass wir vor Gott irgendwelche Bedingungen erfüllen müssten, können wir uns befreit und kraftvoll dem zuwenden, was zu tun ist, damit die Not anderer Menschen gelindert wird. Ganz irdisch. Ganz im Hier und Jetzt. Zur Freude Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen. Ja: Selig sind diejenigen, die so befreit ans Werk gehen dürfen!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Claudia Kühner-Graßmann: „Zerreißt die Checklisten, oder: Die Freiheit vom Zwang, etwas für unser Heil tun zu müssen“

(gehalten in St.Leonard in Nürnberg)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen

I. Einstieg: Wunderbare Checkliste

Liebe Gemeinde,

erstellen Sie To-Do-Listen? Ich gestehe, ich mag es gerne. Mit so einer Liste hab ich alles im Blick, was ansteht. Bin also gut organisiert und minimiere die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vergessen. Aber das eigentliche Highlight einer solchen Checkliste ist das Abhaken. Es wird ganz sichtbar, was ich alles schon geschafft habe. Und gut, auch das, was ich noch machen muss. Im besten Fall stellt sich ein gutes Gefühl ein, wenn endlich der letzte Punkt abgehakt ist. Der Blick auf das, was geschafft ist. Visualisierung der eigenen Leistung.

Beruhigung und Selbstvergewisserung. Berechnung und Beherrschung des Chaos.

Wie sieht es aus mit einer Checkliste für den Glauben? Paulus hat eine starke Meinung dazu. Ich lese aus dem Brief an die Galater:

II. Predigttext

1Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!  2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

in der Provinz Galatien war was los. Kein Vierteljahrhundert ist das Christentum alt. Mit den Missionsreisen des Paulus breitete es sich weiter aus. Nun waren es nicht mehr nur Judenchristen, also Menschen, die als Juden geboren und im Judentum erzogen worden sind, aus denen sich die Gemeinde Jesu Christi zusammengesetzt hat.

Neben denen, die zuvor schon Juden gewesen waren, traten die Bekehrten anderer Völker und Religionen. Das führte zu Diskussionen. Debatten. Streit. Dabei ging es nicht bloß darum, wer den Ton angibt, was die Zusammensetzung der neuen Glaubensgemeinschaft betrifft. Nicht bloß um die Befriedung einiger weniger Egos. – Darum natürlich immer wieder auch. Aber oft ging es ums Ganze. Die existentielle Dimension, die drängende Bedeutung dieser Debatten lässt sich in dem Ausschnitt, der den Predigttext für heute bildet, spüren. Vordergründiges Thema ist die Beschneidung, die für jüdischen Männern damals wie heute religiös vorgeschrieben war und ist. Damit ist allerdings nicht einfach nur der medizinische Akt der Entfernung der Vorhaut gemeint. Ja, darum geht es schon auch. Aber nicht in dem Sinne, wie die Debatte in unserer Gegenwart immer wieder öffentlich geführt wird. Inklusive antisemitischer Ressentiments.

So macht Paulus das nicht. Dazu ist für ihn die Beschneidung aber auch auf der religiösen Ebene zu bedeutungsvoll. Er selbst ist auch beschnitten. Dieser Ritus drückt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel aus. Daher scheint es auf den ersten Blick zu verwundern, dass Paulus hier so bestimmt reagiert und den Galatern die Beschneidung regelrecht verbietet. 

Wer waren die Gemeindeglieder in der Region Galatien, mitten in der heutigen Türkei? Diese Gemeinden setzen sich aus verschiedenen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identitäten zusammen. Ich weiß nicht, was einige dazu gebracht hat, zu meinen, dass sie den Weg zu Jesus Christus über das Gottesvolk Israel gehen müssten. Ich kann mir vorstellen, dass manche von ihnen einfach alles richtig machen wollten. Es scheint auch verlockend zu sein. Ein sichtbares, körperliches Zeichen, eine formale Zuordnung zu Israel – wie eben viele ihrer Glaubensvorbilder auch. Wie Jesus, Petrus, Paulus. Dann könnte man einen Haken setzen auf der religiösen To-Do-Liste und man hätte da schon mal eine Art Gewissheit. Oder?

Genau an diesem Punkt setzt Paulus ein – und zwar gerade als einer, der diesen ganzen Weg einer frommen jüdischen Erziehung und dann der Neuaufnahme in die Christengemeinde gegangen ist.

2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 

Mit der Autorität seiner Person, seines Namens schreibt er, dass dieser Umweg über die Beschneidung den Galatern nichts bringt. Er schreibt:

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 

Ganz oder gar nicht! Es geht nicht nur um Beschneidung. Denn zum Judesein gehört für Paulus, sich an das ganze Gesetz des Mose zu halten, damit sie was nützt. Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel gibt es nicht anders.

Aber dann gibt es noch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ist frei von diesen religiösen Vorschriften und Regeln, von all diesen Bedingungen. Paulus wettert gerade nicht gegen seine jüdischen Geschwister, erhebt sich nicht über sie. Für ihn und für alle, die an Jesus Christus glauben, ist dieses Gesetz aber überwunden. Hier gilt eine andere Regel: Kein menschliches Handeln, kein Gesetzeskatalog, keine besondere Vorleistung. Allein Jesus Christus und der Glaube an ihn befreien, retten, rechtfertigen.

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

III. Luther

Das klingt ja immer alles sehr schön. Die Befreiung durch Jesus Christus. Allein durch Gnade und allein im Glauben. Und ja, wenn ich diese Zeile höre: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Dann weiß alles in mir, dass das richtig ist. Kopf und Herz stimmen zu, manchmal bekomme ich etwas Gänsehaut. Faust in die Höhe, evangelischer Kampfmodus. Ganze besonders heute am Reformationstag. Und dann gibt es noch die andere Seite in mir. Die, die gerne Checklisten schreibt, sich von außen rückversichern muss. Die Seite, die die Galater nur zu gut versteht, die sich zur Sicherheit lieber beschneiden lassen wollen. Die Seite, die auch manchmal das Bedürfnis hat, einen Katalog abzuarbeiten: Gott, was soll ich machen, damit ich eine gute Christin bin? Ich denke, damit bin ich nicht alleine. Die Geschichte und ganz besonders die Reformationsgeschichte zeigt das ja durchaus.

Da war dieser junge Mönch,  – fast hätte er Jura studiert! –, dem die Ordensregeln wichtig waren und der alles richtig machen wollte. Der alle Vorschriften befolgen wollte und damit eine Zeit lang wohl auch ganz gut zurechtkam. Aber immer wieder diese Zweifel. Das Gewissen. Die Erkenntnis, dass Menschen überhaupt nicht das leisten könnten, was gefordert sein müsste, um vor Gott wirklich gerecht zu werden. Die Worte des Liebesgebotes im Ohr: Liebe deinen Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser ernsthafte Mönch lebte in einer Umwelt, in der es üblich geworden war, sich ein Stück Seelenheil zu erkaufen – durch Geld, Bußübungen, Gebete… Fromme Checklisten: 300 Rosenkränze gebetet. 1000 Gulden bezahlt. Die Reliquie eines Heiligen geküsst.

Nein, ich möchte mich nicht darüber erheben. Es ist für uns Menschen nicht einfach zu begreifen, was Jesus Christus für uns getan hat. Da erscheint es nur zu menschlich, dass man versuchte, sich den Glaubensstand irgendwie berechenbar zu machen. Aber das System frommer Absicherungen, sogenannter Ablässe, wurde damals doch ziemlich pervertiert. Da kam dieser Mönch, getrieben von eigenen Zweifeln –  und ganz plötzlich befreit durch seine Entdeckungen im Text der Bibel.

Martin Luther.

Ein streitbarer Mann. Laut, derb, im vollen Eifer für den Glauben. Er ist mit seiner ganzen Person für die Rechtfertigung allein aus Glauben, für die Befreiung allein durch Jesus Christus eingestanden. Hat dafür sein Leben riskiert – und komplett umgekrempelt. Er hat nicht nur darüber geschrieben, er hat das, was er verkündet hat, auch gelebt. Was mich aber am meisten beeindruckt: Luther kämpfte um der Sache willen. Und er wusste immer um die menschliche Unperfektheit – gerade auch derer, die glauben. Wie Paulus rief Luther immer wieder das ins Gedächtnis, worauf es ankommt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 

Zeitlebens ließen Luther seine die Zweifel nicht los. Aber getragen von der tiefen Zuversicht, vom tiefen Vertrauen in Gottes Wohltat für uns konnte er dem jetzt standhalten.

IV. Paulus und Luther für uns

Paulus und Luther. Zwei Männer mit Mission. Der eine verbreitete die Botschaft von der befreienden Gnade durch Jesus Christus in der ganzen Welt und wurde nicht müde, seinen Gemeinden das weiter zuzusprechen. Der andere fühlte sich erstickt von den Vorgaben seiner Kirche und rief diese Botschaft der Erlösung allein durch Jesus Christus wieder ins Gedächtnis.

Beides prägende Gestalten unseres Glaubens. Vorbilder trotz allem. Gerade, weil sie alles andere als tadellose Superhelden sind. Denn genau das macht ihre Botschaft so eindringlich und glaubwürdig. Und ja, sie wussten beide, dass es schwer ist, die Beziehung zu Gott alleine von Gott her bestimmen zu lassen: nämlich befreit zu sein allein aus Gnade, allein im Glauben an Jesus Christus. Umso wichtiger ist es, diese Botschaft immer wieder zu hören:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Wir machen uns nicht selbst frei. Wir werden befreit. Ohne Gebote, ohne Eigenleistungen, ohne To-Do-Liste. Diese Freiheit wird mir zugesprochen und geschenkt. Ich muss dieses Geschenk nur auspacken, im Glauben annehmen. Und das Beste: auch nachträglich kommt nichts dazu, keine Vertragsbestimmungen, kein Gesetz, kein Verhaltenskodex, nichts, was ich von außen aufgedrängt bekomme. Die Freiheit durch Christus ist kein Vertrag, den ich schließe und im Nachhinein bemerke, dass ich das Kleingedruckte nicht gelesen habe.

Das immer so zu sehen, ist schwer. Umso wichtiger ist es darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus, es von Gott selbst zu hören, sich mit anderen Gläubigen zu versammeln und auszutauschen – gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Nicht als Pflicht, sondern aus innerer Überzeugung, aus tiefem Betroffensein durch Jesus Christus, aus Glauben. Paulus wäscht auch uns den Kopf. Nicht, weil wir auf die konkrete Idee kommen, reihenweise den Umweg über die Beschneidung, über das Gesetz Israels  nehmen zu müssen. Luther ermahnt auch uns. Nicht, weil wir Ablassbriefe kaufen und uns den Platz im Himmel mit Taten verdienen möchten.

Aber Hand aufs Herz: auch bei uns gibt es Versuchungen, sich des  Heilsbesitzes durch die falschen Dinge zu vergewissern. Innerliche Checklisten, die abgearbeitet werden wollen. Was könnte das für uns sein?

Vielleicht die omnipräsenten Mahnungen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Das Versprechen, durch gesunde Ernährung und Sport ins Reine mit sich zu kommen. Meditation, Yoga, Wellness, Fitness… Alles an sich gute Dinge. Aber eines können sie nicht: Durch sie werden wir nicht frei. Vielleicht können wir uns mit ihnen kurzfristig und vorläufig besser fühlen. Aber sie schaffen es nicht, dass wir uns bedingungslos angenommen wissen. Das kann nur einer.

V. Schluss: zerreißt die Checkliste!

Wir Menschen verfallen von Zeit zu Zeit dem Drang nach Vergewisserung von außen. Dem Wunsch, den Glauben sichtbar zu machen. Etwas abhaken zu können. Durch Handeln vielleicht ein bisschen vor sich selbst und anderen den Eindruck zu erzeugen, dass man wirklich ein guter Christ, eine gute Christin ist. Wir errichten Strukturen, die Systeme und Ordnungen, die auch unser Glaubensleben sortieren sollen – ja, vielleicht erstellen wir To-Do-Listen des Glaubens. Checklisten der Glaubensgewissheit. Schön zum Abhaken.

Aber: wir brauchen diese Listen eigentlich nicht. Ja, ich wage zu sagen: sie stehen im Weg. Und sie schaffen schlicht nicht, was wir uns von ihnen erhoffen. Diese Listen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das schon getan ist. Aber: den Haken haben nicht wir gesetzt. Gott hat das ein für allemal abgehakt.

Daher, liebe Gemeinde: lassen Sie uns heute am Reformationstag diese inneren To-Do-Listen des Glaubens, die Checklisten der Glaubensgewissheit zerreißen. Ganz bewusst alles abstreifen, was uns vom Vertrauen abhält: Jesus Christus hat schon alles gemacht. Wir müssen da an nichts mehr denken! Wir sind befreit vom Zwang, etwas leisten zu müssen. Befreit vom Zwang, für unser Heil zu sorgen.

Lassen Sie uns mit Luther ganz bewusst auf den Grund dieser Freiheit schauen: Jesus Christus! Lassen sie uns gemeinsam das ganze Pathos dieses Reformationstags mitnehmen! Hören wir den evangelische Ruf des Paulus  und lassen uns von diesem Gefühl tragen! Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Niklas Schleicher: „Leicht ist es nicht, oder: Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand.“

(gehalten in der Bartholomäuskirche in Tamm im Dekanat Ludwigsburg)

„Freiheit, Wecker, Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. „Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“. So der Liedermacher Konstantin Wecker in seinem Lied Willy über einen Menschen, der sich gegen den Faschismus wehrt und von Nazis umgebracht wird. Freiheit. Was für ein großer Begriff. Und vielleicht ist Weckers Definition treffend. Vielleicht dachte Luther ähnlich. Luther, der heute vor mehr als 500 Jahren seine Thesen veröffentlichte und davor sicherlich die Briefe des Paulus gelesen hatte.

Im Galaterbrief lesen wir:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Man kennt die Geschichte von Luther irgendwie, aber man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen. Da ist eine Kirche, die ziemlich viele Bereiche des Lebens kontrolliert und vor allem: Die für sich in Anspruch nimmt, Vergebung der Sünden verkaufen zu können. Dafür schürt sie die Angst vor dem Fegefeuer. Luther hatte Angst, Angst davor, dass, egal was er tut, es nicht reicht. Er hatte vor Augen: Nach seinem Tod wartet auf ihn das Fegefeuer. Und dann sein Studium der Bibel. Und Stellen die sagen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und zwar auch zur Freiheit vor dem Gesetz. Ja, Freiheit heißt, keine Angst haben, vor nix und niemand.

So tritt Luther auf. Er legt sich mit der Kirche an. Mit Unterstützung von einflussreichen Freunden möchte er die katholische Kirche reformieren. Eine zeitlang steht sein Leben wirklich auf Messers Schneide. Ich weiß es nicht, ob er da noch Angst hatte, aber seine Freiheit kostete ihm sicherlich auch Sicherheit. Er schrieb große Schriften, von der Freiheit eines Christenmenschen ist sicherlich eine der Schönsten. Aber die Freiheit, die er so stark herausarbeitete, hatte sicherlich eine Kehrseite. Die Sicherheit einer Kirche, die zwischen ihm und Gott vermittelte, bricht weg.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Was bedeutet uns eigentlich heute: Freiheit? Wir sind mal ganz einfach formuliert, sehr frei. Corona hat uns gezeigt, wie frei wir eigentlich sind. Vieles empfinden wir, zurecht als Einschränkung, aber im großen und Ganzen leben wir frei. Wir können im Großen und Ganzen entscheiden, wen wir wählen. Wo wir wohnen. Was wir essen. Klar, für vieles braucht man das nötige Kleingeld. Aber es gibt ansonsten wenige äußere Instanzen, die uns hindern.

Ich denke, wir machen uns um unsere Freiheit wenig Gedanken. Oft, sehr oft geben wir die Entscheidung auch ab. Nicht alles, was wir tun, tun wir bewusst. Oft richten wir uns nach anderen oder nach Regeln. Diese Regeln helfen uns. Denn wenn man darüber nachdenkt: Wenn wir bei jeder Entscheidung auf uns gestellt sind, dann artet das in eine Überforderung aus.

Ich habe im August und September ein Praktikum in bei der Gefangenenseelsorge am Hohenasperg gemacht. Dort gibt es neben dem Klinikum ja auch die Sozialtherapeutische Anstalt. Eines fand ich bedrückend: Was ist, wenn einem die Freiheit selbst Angst macht? Menschen, die lange Jahre im Gefängnis waren finden sich draußen oft nicht zurück. Nicht, weil sie es nicht wollen oder weil sie sich nicht redlich bemühen. Es fehlt ihnen die Kontrolle und das Netzwerk, dass sie Gefängnis haben. Die Freiheit, die sie bekommen haben, bekommen sie auf Kosten von Sicherheit. Und dann tun sie draußen etwas, dass gegen ihre Auflagen verstößt und kommen zurück ins Gefängnis. Sie tauschen ihre Freiheit gegen die Sicherheit des Gewohnten.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Selbst Wecker wusste in seinem Lied: So einfach ist es halt nicht. Denn es geht in seinem Lied weiter: „aber san ma doch ehrlich, a bisserl a laus Gfühl habn ma doch damals scho ghabt“. Auch für Luther war es das nicht. Anfechtung. Immer wieder ringen mit Gott. Das hat ihn Zeit seines Lebens begleitet. Gott erschien ihm manchmal fern. Wenn er Leid sah. Und er hatte die Sicherheit aufgegeben, die die katholische Kirche geboten hat. Nämlich etwas tun können für das Seelenheil. Und jemanden zu haben, eine Autorität, die vermitteln können zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Weg ist für Luther versperrt.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Die Freiheit, die mit unserem evangelischem Christentum kommt, ist großartig. Niemand, weder ein Pfarrer, noch eine Theologin, weder ein Bischof, noch ein Ratsvorsitzender stehen zwischen dem Einzelnen, zwischen mir, zwischen dir und Gott. Das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung Luthers: Jeder von uns hat die Freiheit sich Gott so zu nähern, wie man es will. Alles können wir ihm anvertrauen. Denn: In Jesus Christus hat er unsere Schuld, dass was uns trennen kann, überwunden. Ganz simpel gesagt: Alles, was uns beschwert und belastet hat seine Ort vor Gott.

Doch andersherum gilt eben genauso: Es gibt keinen, der mir und dir abnehmen kann, dass wir als Einzelne vor Gott stehen. Wir dürfen mit unseren ganz eigenen Vorstellungen und Anliegen vor Gott kommen, aber: Wir müssen das eben auch. Niemand nimmt es uns ab. Dass wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, vergewissert uns: Wir gehören zu einer Kirche. Aber vor Gott kommen wir dennoch als Einzelne.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Jeder von uns ist einer freier Christenmensch. Einer, der vor nix und niemanden Angst haben muss. Einer, der nicht vertreten werden muss, der aber auch nicht vertreten werden kann. Evangelisches Christentum ist sicherlich manchmal anstrengen. Aber trotz allem lenkt es den Blick auf etwas, das Paulus schon vor 2000 Jahren verdeutlicht hat:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Freiheit. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber das hat ja auch keiner behauptet. Und bei allem und in allem gilt der Satz von Paulus:

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist

Über allem steht Gottes Liebe zu uns. Wenn das klar ist, dann muss man vielleicht wirklich keine Angst mehr haben. Auch nicht vor der Freiheit des Christenmenschen.

Amen

Julian Scharpf: „Von der Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird“

(gehalten in der Lutherkirche Fellbach)

Wie fühlt sich Freiheit an?

Vielleicht so: Das Absetzen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn wir die Kirche verlassen und im Freien sind.
Oder: Wie der erste Montag in der Altersteilzeit, wenn morgens der Wecker nicht mehr klingelt.
Oder: Wenn man einen Babysitter für die Kinder gefunden hat und einen Abend zu zweit vor sich hat.
Oder: Wenn man nach längerer Krankheit die Krücken nicht mehr braucht und wieder laufen kann.
Oder: Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, weil etwas besser gelaufen ist als gedacht.
Oder: Wenn man die innere Freiheit spürt, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird, sondern das, was einem das Gewissen sagt.
Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, dann gibt es einen Moment der inneren Freiheit eines Menschen, der herausragt.

Martin Luthers Freiheitsgeschichte

Worms, im Frühjahr 1521, vor 500 Jahren. Der ganze Saal im Wormser Bischofshof knistert vor Spannung. Fackeln bringen Licht in den Raum, er ist voller Menschen, es ist unfassbar heiß, Martin Luther schwitzt. Zwei Stunden hat er für den kurzen Weg in den Saal gebraucht, es gab Verzögerungen; Schaulustige belagern den Reichstag. Johann von Eck verhört Luther, er stellt ihm am Ende die alles entscheidende Frage: „Martin Luther, widerrufst du oder nicht?“ Seit drei Jahren hat dieser in einer einfachen Mönchskutte vor dem Reichstag stehende Mann das ganze Land in Aufruhr gebracht. Die 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die Schriften wie „von der Freiheit eines Christenmenschen“, die im ganzen Land durch den gerade aufkommenden Buchdruck vervielfältigt werden, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle aus Rom, der Kirchenbann über Luther – all diese aufsehenerregenden Momente waren dieser Eskalation vorausgegangen.  Was wird Luther tun? Die Anspannung ist zu spüren. Martin Luther wird das Wort zugesprochen.  Und:  Er widerruft nicht. Er antwortet:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!

Luther widerruft nicht. Er bietet dem Kaiser die Stirn, weil er der Bibel und seinem Gewissen verpflichtet ist. Da steht ein Mensch, der in der Gefahr ist, seine äußere Freiheit durch die Reichsacht zu verlieren – und strotzt gerade so vor innerer Freiheit. Und es kommt zu der nur scheinbar paradoxen Situation, dass sich Luther gerade, weil er sich „gefangen im Worte Gottes“ empfindet, so frei fühlt wie ein Mensch sich nur fühlen kann.

Dass Luther zu diesem freien Menschen wurde, war kein einfacher Weg. Als Mönch hatte er gespürt, wie unfrei, wie gefangen er damals war, weil er dachte, er müsse sich die Gnade Gottes durch Beten, Arbeiten und gute Werke erst verdienen. Luther war ein 150%er Mönch, tat alles, was aus seiner Sicht nötig war, um Gott gnädig zu stimmen. Bis er durch die genaue Lektüre der Schrift wiederentdeckt, dass die Gnade Gottes unserer Antwort im Glauben immer voraus geht. Er wird durch das Wort Gottes so gefangen genommen, dass er frei gegenüber der Welt wird. Weil er versteht, dass Christus uns Anteil an seiner Gerechtigkeit gibt und wir uns nicht selbst vor Gott rechtfertigen können oder müssen. Luther musste sich nicht mehr selbst erlösen, er war frei geworden.

Und diese Entwicklung wurde mit angestoßen durch die Verse eines Menschen, der in seinem alten Glauben und seinen Überzeugungen auch ein 150%er war: Paulus, der ehemalige Pharisäer, der zum Apostel wurde. Paulus und Luther sind sich in manchem sehr ähnlich. Religiöse Genies ohne große Lust an Kompromissen; Leidenschaftliche Gläubige; auch Menschen mit Fehlern, Problemen, diskussionswürdigen Ansichten. Keine Helden, aber Menschen, die durch das Wort Gottes zutiefst durchdrungen und bewegt waren.
Wir hören die Verse, die Luther inspirierten, aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus, Kapitel 5, Verse 1 bis 6:

Galater 5, 1 – 6

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zum Kontext

Liebe Gemeinde,

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien, weil diese in Unruhe sind. Neue Missionare sind dort angekommen und sind der Überzeugung, dass auch die Männer der christlichen Gemeinde sich beschneiden lassen sollten wie jüdische Männer. Paulus argumentiert leidenschaftlich dagegen, weil er befürchtet, dass die noch junge, christliche Gemeinde durch ihre Verunsicherung wieder Halt in den Traditionen und Gesetzen des Judentums sucht. Und weil Paulus damals ein 150% überzeugter Pharisäer war, gibt es da für ihn keine Kompromisse. Wer sich beschneiden lässt, gehört zum Volk Israel und nicht zu Christus. Das ist im Übrigen für Paulus keine Abwertung der Beschneidung, des Judentums oder der beschnittenen Männer, die Christen wurden. Ihm ist die Unterscheidung wichtig. Der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen gilt, ein für alle Mal und ewig. Das ist für Paulus klar. Wir als Christinnen und Christen sollten uns hüten, uns durch Verse des Apostels für etwas Besseres zu halten. Jesus ist als Jude geboren und gestorben.

Die Freiheit in Christus

Und der ehemalige Pharisäer Paulus erkennt im Glauben an Jesus Christus eine Freiheit, die Freiheit schlechthin:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Diese Freiheit besteht darin, dass Christus uns befreit. Nicht wir selbst befreien uns, Christus befreit uns.
Von unserer Unsicherheit, ob wir Gott gefallen.
Von unserer Unsicherheit, ob wir anderen Menschen gefallen.
Von unseren inneren Zwängen und bangen Fragen, ob Gott uns denn nun gnädig ist oder nicht.
Wir haben vorhin gesungen: Du bist der Blick, der uns ganz durchdringt.
Wir alle hier, die wir hier sitzen, werden liebevoll von Jesus Christus angeschaut, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wer sich geliebt weiß, der atmet freier. Alle Werke und alles Wirken von Paulus und Luther sind ein Fingerzeig auf Jesus Christus, der uns gnädig anschaut.

Im Glauben an Christus, im festen Vertrauen auf seine Liebe und Güte werden wir frei davon, uns selbst zu erlösen, zu rechtfertigen, zu befreien, auf unser Ansehen zu schielen. Diese Gnade ist ein Geschenk und nichts, das wir uns durch gute Werke verdienen müssen. Diese Erkenntnis gab Martin Luthers Leben eine 180 Grad Wende.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Ohne diese Überzeugung hätte Luther nicht auf dem Reichstag stehen können; wäre er nicht standhaft geblieben.

Freiheit heute

Weil Luther für seine Gewissensentscheidung Akzeptanz von den Herrschenden einforderte, liegt darin auch eine Keimzelle unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Die verschiedenen Dimensionen der Freiheit, individuelle, innere Freiheit, Religionsfreiheit, politische Freiheit – durchdringen sich gegenseitig. Man kann durchaus eine Linie vom Freiheitsdenken der Reformatoren über die Religionsfreiheit und die Aufklärung zu unserem heutigen allgemeinen Freiheitsverständnis ziehen. Diese Entwicklung ist geschichtlich auch von ungeheuren Rückschlägen gekennzeichnet.  Unser Grundgesetz in Deutschland heute ist das Ergebnis einer Lerngeschichte der Freiheit.

In den letzten anderthalb Jahren wurde viel um Freiheit und Sicherheit, Grundrecht und Gesundheitsschutz gerungen. Und alle Freiheitseinschränkungen, auch in den letzten anderthalb Jahren müssen sich natürlich vor unserer Verfassung rechtfertigen. Ich bin froh darüber, in einem Land zu leben, in dem diese Gewaltenteilung funktioniert – bei allen Schwierigkeiten, die eine noch nicht gekannte Pandemie-Situation mit sich bringt. Ich bin froh darüber, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung zu leben, gerade wenn ich in die Entwicklung manch anderer Länder blicke. Und wenn wir bei Paulus wie bei Luther hinschauen, sehen wir bei beiden eine große Wertschätzung für eine stabile staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol des Staates. Paulus und Luther waren auf je eigene Weisen freiheitliche Rebellen, aber um das auch klar zu sagen:  Diejenigen, die heute aus ihrer Unzufriedenheit heraus unsere Republik verächtlich machen und bekämpfen, können sich nicht auf die beiden als Kronzeugen berufen.  Dazu liegt beiden zu viel an einer stabilen und respektierten staatlichen Ordnung.

Freiheit und Verantwortung

Und Eines ist auch entscheidend am Freiheitsverständnis bei Paulus wie bei Luther: Freiheit geht bei beiden immer mit Verantwortung einher.

Paulus schreibt:

Denn in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, etwas.

Bei Jesus gelten nicht unsere Äußerlichkeiten, unsere Statussymbole etwas. Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nächstenliebe realisiert. Die Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird. Paulus wie Luther sind davon überzeugt, dass die Freiheit durch Christus nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas ist.

Luther will das so verstanden wissen: Durch das tiefe Vertrauen auf Jesus Christus haben wir die Freiheit, uns um Andere zu kümmern. Wir müssen nicht Nabelschau betreiben und immer unser Seelenheil bangen. Weil wir frei von dieser Sorge sind, können wir Andere in den Blick nehmen. Freiheit bedeutet biblisch und reformatorisch niemals Rücksichtslosigkeit. Freiheit bedeutet Verantwortung. Verantwortung für mich und meine Mitmenschen. Jede errungene Freiheit geht mit Verantwortung einher und das durchzieht alle Dimensionen der Freiheit. Meine Freiheit ist wertlos, wenn ich durch ihr Auskosten die Freiheit eines Anderen beschneide. Meine Freiheit ist wertvoll, wenn ich sie mit Anderen zusammen auskosten kann. Ich wünsche mir, uns allen, Ihnen viele Erfahrungen dieser gemeinsamen Freiheit.
Freiheit, die sich in gegenseitiger Rücksichtnahme realisiert. Freiheit, weil wir dann einmal gemeinsam die Pandemie überwunden haben werden.
Freiheit, weil es irgendwann auch mal wieder ohne Masken geht.
Freiheit im Ruhestand.
Freiheit, weil uns manche Steine vom Herzen fallen.
Freiheit, weil wir wissen, dass Christus uns liebt.
Denn:  Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Amen.

Vom Fetisch der fleischlichen Begegnung

Ein Plädoyer für mehr Engagement von #digitaleKirche in der Verwaltung

von Michael Greder (@HerrVikarin)

Seid ihr schon einmal in ein Pfarramtsbüro hineingestolpert und habt bei einem verstohlenen Blick am vergilbten Kastenmonitor vorbei in der Ecke einen kleinen Arbeitsplatz erblickt, auf dem ein sperriges, graues Kästchen stand? Oder musstet ihr schon einmal Formulare für die kirchliche Verwaltung ausfüllen – z.B. die Anmeldung zur Konfirmation? Wer diesem Unterfangen bereits seine Lebenszeit widmen durfte, tat dies sehr wahrscheinlich unter seelischen Schmerzen. „Der Taufspruch des Paten! Für was genau wollen die das jetzt Wissen? Und wie zum Teufel soll meine E-Mailadresse in das zwei Millimeter kleine Kästchen passen?“

Weil man teilweise irgendwie doch nicht auf ein „modernes“ Verwaltungsangebot verzichten möchte, hat sich das Hase-Igel-Verfahren etabliert. Ein PDF kann heruntergeladen, mit dem Stift ausgefüllt, eingescannt und wieder zurückgemailt werden – das Original muss natürlich unterschrieben nur noch eingetütet, frankiert und zur Post gebracht werden.

Wer sich in Bayern für den Vorbereitungsdienst beworben hat, saß vermutlich examenskrank über einem lebenswegentscheidenden Papierbogen, hat mit aller Mühe spätnachts wichtige Entscheidungen eigetragen und sich auf den verdienten Feierabend gefreut. „Aber Moment! Wofür sind die anderen beiden Formulare? Die sehen ja identisch aus! Ich muss alles dreimal handschriftlich ausfüllen? Auch meine persönlichen Daten, die die Landeskirche schon seit Jahr und Tag von mir hat?“ Ja, das muss ich.

Die unleidliche Liste unattraktiver Verwaltungsakte – und deren Anbahnung – ließe sich unschwer fortsetzen. Das Murren und Knurren über Berührungspunkte mit der kirchlichen Verwaltung ist vermutlich so alt wie der Einzug des sprichwörtlichen Preußentums ins bayerische Kirchenwesen. Am Ende des Tages sind wir alle aber doch unendlich dankbar dafür, dass Menschen in der landeskirchlichen Verwaltung und im Pfarramt daran arbeiten, den Laden am Laufen zu halten. Diese meist unsichtbare Arbeit kann gar nicht hochgenug geschätzt werden. Man muss sich nicht gleich Max Webers Überlegungen zur Bürokratie unter das Kopfkissen legen, um einzusehen, dass eine ordentliche Verwaltung Signum landeskirchlicher Praxis ist, die letztlich viele Vorteile bietet. Dies gilt, obgleich die Verwaltung für die Allgemeinheit meist im Verborgenen stattfindet. Wenn die Verwaltung funktioniert, entschwindet sie dem Bewusstsein, sowie der Brief, der im Postkasten landet. Wenn aber ein Problem auftritt, brennt sich dieses umso fester ein. Das ist das Los der Administration.

Im Gegensatz zu Forderungen nach experimentierfreudiger und professioneller Kommunikation der Kirche im Netz, kommt das Thema der Verwaltung äußerst schnöde daher. Allein schon das begleitende Framing mit Worten wie Effizienz legt in kirchlichen Kreisen einen verruchten Mantel über den unbeliebten Komplex.

Ich habe mich in diesem Blog bereits zum Thema #digitaleKirche geäußert und bei meinen Überlegungen die Dimension der Verwaltung bisher ausgespart. Dies lag vor allem an meinem fehlenden Wissen um die pfarramtliche Verwaltungspraxis. Mein gesichertes Wissen ist in den letzten Monaten kaum anstiegen, allerdings konnte ich aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit und vieler Gespräche einige durchwachsene Eindrücke gewinnen. In mir hat sich die Überzeugung verfestigt, dass die #digitaleKirche das Problem an der Wurzel nicht tief genug anpackt. Die Geisteshaltung gegenüber der Digitalisierung wird zuvorderst in der Organisation und Ausstattung der Verwaltung offenbar – nicht in ihrem Umgang mit den Sozialen Medien.

Allzu häufig fordert die #digitaleKirche von Pfarrer:innen mindestens implizit ein Engagement, das dem physischen und psychischen Workload einige Schippen oben draufpackt. Wo soll da die Muße für einen Geisteswandel entstehen, der die digitale Welt als Raum von Möglichkeiten erschließt? Wo soll hier der Platz für das sein, was Pfarrer:innen als „das Eigentliche“ ihrer Arbeit beschreiben und zugeschrieben bekommen. Stattdessen werden sie mit immer weiteren Anforderungen und Erwartungshaltungen konfrontiert, die im Wochenplan einfach keinen Platz finden.

Dabei bietet gerade die #digitaleKirche das Potenzial, für eine effizientere Verwaltung einzutreten und damit Platz für das Eigentliche zu schaffen. An dieser Stelle kann digitalen Abstinenzler:innen die neue Welt in geeigneterer Weise schmackhaft gemacht werden als durch die immer wieder neueingekleideten Diskussionen um die Geist- und Heilswirkung von Telegottesdiensten und Fernsakramenten.

Im Zuge der zahlreichen Beiträge zur pastoralen Verfasstheit der Kirche während der Coronasituation mahnte der Systematiker Lukas Ohly mit Blick ins Netz eine Katholisierung der Glaubenspraxis an.

So gerne ich das von Ohly geschliffene Kantholz in den letzten Wochen im Privaten meinen Gesprächspartner*innen in die Speichen geworfen habe, ist diese Perspektive doch symptomatisch für einen zu engen Blickwinkel auf das unmittelbar Sichtbare. Es geht um Reichweite, Likes und Views, einen zeitlichen Return on Investment und vor allem um die Frage, wie viel von der reformatorischen Lehre dem Fortschritt anheimfällt.

Nicht unbedingt bei Ohly, aber bei vielen anderen Gelegenheiten hat sich im kirchlichen Diskursraum ein Fetisch der fleischlichen Begegnung herausgebildet. Körperliche Nähe wird gleichgesetzt mit Unmittelbarkeit, Authentizität und emotionaler Nähe. Alles Handeln muss sich daran messen wie „nah am Menschen“ Kirche ist – wobei „nah“ hier sehr eng gefasst wird. Die fleischliche Begegnung gilt als Archetyp der kirchlichen Kommunikation und umso weiter (durchaus im geografischen Sinne) sich die Pfarrperson entfernt, desto weniger Qualität wird einer Beziehung beigemessen. Technisch vermittelte Kommunikation kann zur völligen Entfremdung des Menschen gereichen. Handlungen, die sich nicht in vermeintlich unmittelbaren, fleischlichen Begegnung, vollziehen lassen, gelten als unvollständig oder Notlösungen. Man könnte meinen, die fleischliche Begegnung sei alleine sich selbst genüge.

Berüchtigte Zitate von Kirchenvertreter:innen aus den letzten Jahren, die den Geist dieses Fetisch der fleischlichen Begegnung atmeten, riefen jeweils erwartbar heftige Reaktionen der #digitalenKirche hervor. Das digitale Wir wartet nur auf die nächste Gelegenheit, „denen da oben“ wieder Bescheid geben zu können. Das gehört zur Identität von #digitaleKirche, wie das Confiteor zum lutherischen Gottesdienst. Die in diesem Ritus gefeierte Kritik ist verständlich. Greift doch der Fetisch der fleischlichen Begegnung die eigene religiöse Identität an.

Meist haben diese Auseinandersetzungen vermutlich nur zum Ergebnis, dass sich jeder seiner Sache ideologisch noch sicherer ist. Dies ist umso mehr der Fall, wenn die Debatten rein theoretischer Natur sind und die Konsequenzen für die kirchliche Praxis kaum Beachtung finden. Dabei zeitigt die Skepsis am Fortschritt und die ideologisierende Kritik an dieser Skepsis durchaus handfeste Probleme. Der Fetisch der fleischlichen Begegnung führt zum vergilbten Röhrenmonitor im Pfarramt. Die überschwängliche Einverleibung alles Neuen überrollt praktische Notwendigkeiten.

Es ist meiner Meinung nach an der Zeit, konstruktiver mit der Institution und ihren Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Die Bürokratie als ein Arbeitsfeld der Kirchen scheint mir aus den genannten Gründen ein geeigneter Ausgangspunkt dafür zu sein.

Jeder Verwaltungsakt für sich genommen stellt aus Sicht der Antragstellerin letztlich keine große Herausforderung dar. Es muss nun mal gemacht werden, was gemacht werden muss. Die Pfarrämter stehen allerdings inmitten der Gesamtheit der Verwaltungstätigkeiten. Zwischen Erwartungen der Gemeindemitglieder, Regelungen des Dekanats und Ansprüchen der Landeskirche.

Der Fetisch der fleischlichen Begegnung verführt zu falschen Prioritäten, ebenso wie der Drang einer Digitalisierung der Kirche, das Digitale nachgerade als Selbstzweck erscheinen lässt. Das Eigentliche fällt in beiden hinten runter oder geht im Rauschen des organisierenden Geschäfts unter. Das sperrige graue Kästchen – die Schreibmaschine im Pfarramt, deren Farbband noch nicht ausgetrocknet ist, steht mahnend im Raum: War sie einst ein Indiz für den Fortschritt, der mit einem Effizienzversprechen Einzug gehalten hat, steht sie nun als Objekt gewordener Anachronismus dem Eigentlichen im Weg wie es einst die Feder im Tintenfass tat. Den Verkündigungsauftrag ernst zu nehmen, bedeutet nicht nur, auf dem Pfad des Bekenntnisses zu wandeln. Den Verkündigungsauftrag nimmt man vor allem dadurch ernst, dass ihm Zeit eingeräumt wird. Ein kleiner Baustein dabei ist, Taufurkunden nicht mehr an der Schreibmaschine ausfüllen zu müssen.  Eine moderne, effiziente Verwaltung auf allen Ebenen ist dazu ein wichtiger, wenngleich auch nicht so sichtbarer Schritt. Die damit einhergehenden Entlastungen schaffen neuen Raum fürs Eigentliche, wobei die Frage nach online oder doch fleischlich dann sekundär wird.

[Titelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2010-07-27_IBM_Selectric_Kugelkopfschreibmaschine.JPG, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)

Unsere Eindrücke vom #bckirche Süd

Koordiniert und zusammengestellt von @andy_h_krumm(Felix Weise).
Mit Beiträgen von: @leiseleben, @FunforTimo, @mein_kla4 und @megadakka

Felix (@andy_h_krumm): Zuerst einmal: Was ist eigentlich ein barcamp?

Wer das schon weiß, kann diesen Abschnitt ja einfach mal überspringen. Ein barcamp ist eine Art Konferenz, die maßgeblich von den Teilnehmenden mitbestimmt wird. In diesem Fall hatten die Landeskirchen in Baden, Bayern und Würrttemberg eingeladen und weder Kosten und Mühen gescheut, um eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Die Anmeldung war kostenfrei, nur um eine Übernachtung musste man sich selbst kümmern. Daneben wurde man hervorragend verpflegt. Kaffee und Brezeln, Bier, Saft, Limonade rund um die Uhr, sowie Mahlzeiten. Und die Räume! Das ganze fand nämlich im wizemann space statt. An der Kleinschreibung erkennt man schon: ein ganz schön hipper Ort. Aber in dem Fall: irgendwie auch ein Ort mit einer tollen Atmosphäre. In diesem Rahmen war es allen Teilnehmenden freigestellt, über das Wochenende irgendwas um die 100 Leute (keine Gewähr für die Zahlen), sessions anzubieten. Eine session kann ganz unterschiedlich sein: Ein vorbereiteter Vortrag, die Vorstellung einer App oder eines Instagram-Konzepts oder einfach das Angebot in einer kleinen Runde eine bestimmte Fragestellung zu diskutieren. Am Anfang des barcamps wird gesammelt, wer welche session anbieten möchte, erhoben, wie viele Leute noch an so einer session interessiert sind und dann ein  Zeitplan erstellt, wann wo welche session stattfindet.

Dann ging es also los. Die Auswahl an Veranstaltungen war fast größer als das Vorlesungsverzeichnis einer guten theologischen Fakultät. Es gab unglaublich viele versierte Menschen, die etwas zum Thema Kirche und Internet zu sagen hatten. Ein paar Blitzlicher findet ihr hier.

Alina (@leiseleben): Hatespeech macht uns nicht mehr sprachlos!

Schätzungsweise 30 Teilnehmende tauschen sich in der Session „Hatespeech macht mich sprachlos“ über Hasskommentare aus. Meist handelt es sich bei Hatespeech um sexistische, rassistische oder antisemitische Nachrichten oder Aufrufe zur Gewalt. Diese richten sich oft gegen einzelne Menschen oder Menschengruppen. In der Session, die von @CBoruttau initiiert und durchgeführt worden ist, wird der Umgang mit Hasskommentaren thematisiert.

Viele Teilnehmende haben die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass das Melden von Hasskommentaren bei Social Media Plattformen meist folgenlos bleibt. Auf der Suche nach Reaktionsmöglichkeiten kamen die Teilnehmenden zu folgenden Ergebnissen:

Ein Weg, gegen massive Hatespeech vorzugehen, ist eine Anzeige bei der Polizei. Hatespeech kann ein Straftatbestand sein (Volksverhetzung § 130 StGB, Bedrohung § 241 StGB oder Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 111 StGB) und Hater*innen können juristisch belangt werden. @ChBreit rät, am besten Screenshots von den Hasskommentaren zu machen, da diese vor Gericht als Beweismittel verwendet werden können.

Die meisten Teilnehmenden befürworten die Faustregel „Don’t feed the troll!“. Sinngemäß bedeutet das: Diskutiere nicht mit Trollen*. Es kostet Kraft, mit Trollen* und Hater*innen zu diskutieren und: Es ist sinnlos, da die Personen hinter den Hasskommentaren meist ohnehin kein Interesse an konstruktivem Austausch haben. @pfarr_mensch empfiehlt, auf einen Hasskommentar zum Beispiel mit Bildern von süßen Kätzchen zu antworten. Alternativ ginge auch das Jesus-liebt-Hater-GIF.

Ein außergewöhnlicher Tipp kommt von @ChBreit. Wenn man bestimmte Schriftzeichen schreibt, „verlängert“ sich der eigene Kommentar so, dass er die darunter stehende Nachricht überlagert und man jene nicht mehr lesen kann. So könne man Hasskommentare gewissermaßen durch Überschreiben unsichtbar machen.

Insgesamt war die Session für mich sehr lehrreich. Ich habe praktische Tipps mitgenommen – und den Vorsatz, auf Hasskommentare in Zukunft entsprechend zu reagieren.

Felix (@andy_h_krumm): Apps und Nerds

Gleich mehrere sessions gab es zu Apps, die für den Kirchenkontext entwickelt werden oder wurden. Die Stadtjugend in Ludwigshafen arbeitet gerade z.B. an einer App, über die die Jugendarbeit organisiert werden soll. Die App bündelt Terminkalender der Ludwigshafener Jugend, bietet einen eigenen Messenger und beinhaltet ein Spielearchiv. Die Gestaltung ist recht konservativ, dafür so konzipiert, dass sie von anderen Jugendwerken mit wenig großem Aufwand übernommen werden könnte. Aber, und die Frage stellte sich wohl bei jeder von der Kirche entwickelten Platform, wer nutzt das? Ist es realistisch, dass Konfis sich auf einen Messenger, der weit hinter WhatsApp zurücksteht, einlassen und hierüber Kommunikation untereinander und mit dem Jugendwerk entsteht? Im Fall der Evangelischen Jugend Ludwigshafen, so Stadtjugendpfarrerin Florentine Zimmermann (Instagram: @blueten_segen), kam der Wunsch nach Kommunikation und Terminplanung über eine eigene App von den Jugendmitarbeitenden. Und bei der Anzahl der Apps, die man installiert und später wieder löscht, ist zumindest die Hürde, eine EJL-App zu installieren, wohl eher gering. Es fragt sich nur, wie lange sie auf dem Handy bleibt. Im Verlauf des Gesprächs wurde neben der Rückfrage zum Umgang mit Pushnachrichten (werden sie weggelassen, um als Kirche nicht Suchtfaktoren zu unterstützen?), auch nachgefragt, inwiefern ein Nebeneinander von recht ähnlichen Angeboten nicht ressourcenraubend ist. Könnte nicht eine viel stärker aufgestellte App entwickelt werden, wenn sich Projekte wie die EJL-App, communi und KonApp zusammen tun.

Die Apps unterscheiden sich alle ein wenig in ihrem genauen Anwendungsfeld und auch im Funkionsumfang, dennoch bleibt die Frage, warum nicht mehr Kooperation und Bündelung der Kräfte möglich ist. Fallen wir Protestant*innen in der digitalen Welt unserer Freiheitsliebe und dem evangelischen Pluralismus zum Opfer?

Die Frage ist vermutlich noch grundsätzlicher zu stellen. Momentan versuchen viele Projekte noch, an vielen Punkten erfolgreiche Apps zu kopieren und eine kirchliche, sichere Version anzubieten. Die Budgets sind, wenn vorhanden, nicht besonders hoch, das Problem liegt aber eben viel grundlegender: Dort wo die Kirche versucht nachzumachen, was es schon gibt, kann sie meines Erachtens nur verlieren. Darum stechen für mich Projekte wie cantico (keine Ahnung wie erfolgreich die App ist) positiv heraus, weil hier kreativ eine eigene Idee entwickelt wurde. Cantico bietet ein Liederverzeichnis mit Audiodateien zu verschiedensten Gesangbüchern, so dass man auch als wenig musikalisch-praktischer veranlagter Mensch Handwerkszeug hat, um neue Lieder mit Hörproben schnell zu erlernen. Hier wurde nicht einfach eine App mit sehr viel niedrigeren Mitteln als die Großkonzerne zur Verfügung haben, versucht nachzumachen. Mehr Zusammenarbeit, mehr Innovation, und: Krass, wieviel es auch schon gibt, das waren die Eindrücke die vom Barcamp in Bezugs auf Kirchen-Apps mitnahm.

Ein Beispiel, wie man vorhandene Ressourcen im digitalen Bereich für die Kirche nutzbar machen kann bot Steffen Banhardt. Er stellte ein Skript im Textsatzprogramm LaTeX vor, mit der er quasi alle liturgischen Anlässe bestreitet. Seine Skript war für LaTeX-Anfänger wie mich: eine kleine Offenbarung. Es beinhaltete Funktionen wie das automatische Einsetzen von Wochenspruch und Predigttext oder das Einbinden von Liedern in die Gottesdienstvorlage über eine riesige Liederdatenbank. Ade, stundenlanges Formatieren von Liedblättern, weil man das Lied nicht richtig eingebunden bekommt, oder die Überschrift des Gottesdienstabschnitts einfach nicht über den Zeilenumbruch hinaus springen will. Das macht alles LaTeX. Mit Steffens Skript ist jeder Gottesdienstablauf eine Augenweide und er meinte, dass man nach einer etwas zeitintensiveren Einarbeitung, diese Zeit gut wieder reinholt. Diese LaTeX-Lösung ist vermutlich trotzdem ein Bereich der digitalen Kirche, der nur für wenige Menschen fruchtbar sein wird. Trotzdem hat es mir gezeigt, dass Kirche gerade im Bereich von Open-Source-Projekten, wo selbst mitentwickelt werden kann, großes Potential hat. Ein Teilnehmer formulierte: Die Kirche muss endlich aufhören, alles selbst machen zu wollen. Warum investiert sich nicht viel Geld in Open-Source-Projekte, die für die kirchliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Hier könnte wirklich Innovation entstehen und die Kirche als ressourcenreicher Player ein wichtiger Akteur werden. Die Partizipativität und Transparenz von Open-Source-Projekten ist darüberhinaus im höchsten Maße anschlussfähig für die Kirche und die christliche Botschaft. Priestertum aller Getauften. Programmierertum aller User.

Timo (@FunforTimo): Pfarrer*innen auf Instagram

Die letzte Session des BC 2019 in Stuttgart behandelte die Frage was Pfarrer*innen in sozialen Netzwerken machen. Die Instagram-Influencer Jörg Niesner (@wasistdermensch) und Nicolai Opifanti (@pfarrerausplastik) stellten ihre Arbeit vor.

Opifanti verwies auf die milieuspezifische Nutzung der sozialen Netzwerke. Name und Gestaltung des Accounts habe Einfluss darauf, wer sich für einen Account interessiert.

Mit dem Account pfarrerausplastik präsentiert und kokettiert er mit seinem Pfarrberuf. Dabei achte er jedoch darauf, sich in natürlichen Alltagssituationen zu präsentieren. Denn so wird er als lebenszugewandter Experte in Sachen Glaubensfragen verstanden. Die Nutzer*innen wenden sich mit ihren Fragen zu Glaubensthemen deshalb an ihn.

Mit der Thematisierung von Social-Media-Pfarrer*innen im kirchlichen Raum besuchen aber zunehmend klassische Kirchenmenschen den Account. Dadurch verändert sich der Charakter der Unterhaltungen, denn die gestellten Fragen werden zunehmend in Kirchensprech gestellt. Das kann nichtkirchlich sozialisierte Menschen abschrecken. Für Opifanti bleibt es jedoch gerade das Ziel über den digitalen Raum mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sonst keinen Zugang zu Kirche finden.

Niesner versteht seinen Account als digitales Pfarrhaus. D.h. dass er auf der Plattform einen Ort bereitstellen möchte, an dem Menschen Fragen zu ihrem Glauben stellen können. Zudem gibt er persönliche Einblicke in seinen Alltag. Die Einblicke sind also persönlich, haben aber nicht den Anspruch, das private Leben gläsern darzustellen. Vielmehr bilden sie einen ausgewählten Ausschnitt ab. Das Amt an sich weckt laut Niesner nicht das Interesse der Besucher*innen. Vielmehr entsteht Neugierde durch die dargestellte und gelebte Verbindung von Person und Amt. Vielleicht ist es die Pragmatik und Anwendbarkeit des Glaubens die für die Nutzer*innen entscheidend ist?

Seelsorgeangebote finden über die Plattform nicht statt, aber nicht weil kein Bedarf wäre, sondern weil im Gegenteil die Anfragen dafür einfach zu zahlreich sind. Allerdings verweist Niesner immer wieder auf die Plattform Tellonym. Hier gibt es die Möglichkeit Fragen zu stellen, die, sobald diese beantwortet werden, für alle öffentlich einsehbar sind. Damit entsteht online ein Ort, an dem lebenspraktische Glaubensfragen eine Antwort finden können.

Zudem stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und ablehnenden Kommentaren im Netz: Die beiden Influencer beobachten, dass sie mit deutlich weniger Ablehnung im Netz zu kämpfen haben, als ihre weiblichen Influencerkolleginnen. Als Ursachen wurde zum einen die unterschiedlichen Themensetzung genannt. Zum anderen scheint es leider noch immer so zu sein, dass Frauen im Pfarramt polarisieren und teilweise abgelehnt werden.

Abschließend wurde deutlich, dass auch die kirchlichen Strukturen für die Herausforderungen im digitalen Raum weiterentwickelt werden müssen. Denn viele Fragen die die Arbeit der Pfarrer*innen online betroffen sind noch zu klären: Wieviel Zeit steht im Arbeitsalltag für Onlineangebote zur Verfügung? Soll es so etwas wie Onlinepfarrer*innen geben? Müssen die Betreiber*Innen von kirchlichen Kanälen ordiniert sein?

Jacob (@mein_kla4): Jesus treffen auf dem Barcamp

Zu meinen persönlichen Highlights auf dem Barcamp Kirche Online gehörte der Gottesdienst im jesustreff am Sonntagmorgen. Der jesustreff ist eine Gemeinde in Stuttgart, die zur Evangelischen Landeskirche gehört. Die Gottesdienste finden in einer Konzerthalle statt, mit entsprechender Licht- und Tontechnik. Das macht schon erst mal ordentlich Eindruck, wenn man reinkommt. Aber die Leute, die da sind, sind auch richtig nett. Weil wir zum ersten Mal da waren, haben wir sogar ein Päckchen Gummibärchen und ein paar Informationsbroschüren bekommen. Bekommt man anderswo ja auch nicht immer, und so weiß man gleich mal, was los ist. Was sonst noch anders ist im jesustreff: Der „Liturg“ heißt hier „Moderator“, die Lieder stammen eher aus den letzten 10 Jahren statt aus den letzten 1000 Jahren und die Leute, die kommen sind jünger als in Gottesdiensten, die in „normalen“ Kirchengebäuden stattfinden.

Aber der Reihe nach.

Der Gottesdienst war von seinem Aufbau her überraschend klassisch: Erst ein Part mit zum Ankommen mit Musik und Eingangsgebet, dann die Predigt und am Ende nochmal Musik, Fürbittengebet und Vaterunser und die Abkündigungen. Von daher hab ich mich ganz gut zurechtgefunden.

Die Lieder wurden von einer vierköpfigen Band mit solider Besetzung – Bass, E-Gitarre, Sänger mit Lead-Gitarre, Schlagzeug – begleitet, alle sahen sehr hipsterig aus. Und der Sänger war ein Bilderbuch-Singer-Songwriter, verstrubbelte Haare, verträumter Blick. Später erfuhr ich, dass sein Name Jonnes ist und dass man seine Songs auch bei Spotify anhören kann – kann man schon mal reinhören. Bei den Liedern wurden die gesungenen Strophen oft mehrmals wiederholt. War etwas ungewohnt, aber beim vierten Mal hab ich dann wenigstens mal drauf geachtet, was ich da so gesungen hab. Das war sehr erfrischend. Zwischen den Liedern hat der Sänger oft auch mal spontan gebetet. Bei so was kommt bei mir immer nicht so viel rum, aber ich hab eh meine Schwierigkeiten mit Gebet.

Der Moderator war ein freundlicher junger Mann, und auch er hat gebetet. Wir waren uns hinterher einig, dass er auch ruhig mal hätte vorher ausformulieren können, was er so beten will. Sonst fehlt irgendwie die Struktur und man weiß als Mitbetende*r gar nicht, wo das hinführen soll. Dass am Ende der Fürbitten das Vaterunser ganz klassisch gebetet wurde, hat mich aber dann doch versöhnt. Es war richtig schön, mit all diesen Menschen in der Konzerthalle zu stehen und diese Worte gemeinsam zu beten.

Und dann die Predigt: Zu Gast war Prälatin Gabriele Arnold. Eine Prälatin ist ein ziemlich hohes Tier in einer evangelischen Landeskirche, sie steht knapp unter dem Landesbischof. Vielleicht kommt Frank-Otfried ja auch mal zum jesustreff. Aber eigentlich kann man auch Frau Arnold gerne wieder einladen: Sie hat sehr erfrischend gepredigt, feministisch, klug – und am Ende hat sie den Text aus der Lutherbibel vorgelesen. Auch das hätte ich in einem Gottesdienst, der unter bunten Scheinwerfern stattfindet, gar nicht erwartet.

Der jesustreff in Verbindung mit dem Barcamp hat mir gezeigt, dass in der Kirche vieles möglich ist – wenn man den Menschen ihren Raum gibt, Neues auszuprobieren. Und das hat mich auf jeden Fall ermutigt. Der jesustreff sucht ab 2020 auch eine*n neue*n Pastor*in. In der Stellenbeschreibung steht, dass sie sich jemanden wünschen, der gnadenzentriert predigt: Das möchte ich mir als Vorsatz für mein eigenes Dasein als Pfarrer merken – egal ob in einer Gemeinde wie dem jesustreff oder woanders.

Niklas (@megadakka): Ändert die Digitalisierung unsere Vorstellung von Christentum. Reflexionen im Anschluss an das Barcamp Kirche.

Von Thomas Kuhn, dem Wissenschaftstheoretiker, gibt es den Begriff des Paradigmenwechsels. Im Bezug auf die Wissenschaftstheorie heißt das zunächst mal so viel wie, dass wissenschaftliche Konzepte auf Rahmenmodelle angewiesen sind. Nur innerhalb dieser funktionieren sie. Wenn sich das Rahmenmodell wechselt, dann spricht man eben von einem Paradigmenwechsel. Konzepte innerhalb des einen Rahmenmodells sind inkommensurabel, also in gewisser Weise unvereinbar, zum anderen.

Der Begriff des Paradigmenwechsels ist mittlerweile auch außerhalb der Wissenschaftstheorie zu finden und hat zum Beispiel seinen Ort im Nachdenken über Gesellschaft und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Spricht man da allerdings von einem Paradigmenwechsel, dann ist das deutlich niederschwelliger. Im Endeffekt bedeutet der Begriff im normalen Sprachgebrauch nicht viel mehr als: Da ändert sich was und ich muss nochmal stärker drüber nachdenken, was das soll.

Szenenwechsel: Mitte November fand in Stuttgart das Barcamp Kirche Süddeutschland statt. Dort trafen sich Menschen, die irgendwie den Kirchen verbunden (Pfarrer*innen, Vikar*innen, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Datenschützer*innen, aber auch Ehrenamtliche und Interessierte) und gleichzeitig am Phänomen der Digitalisierung interessiert sind. Kurz: Es war ein Treffen der sogenannten „Digitalen Kirche“.

Beim exzellent organsierten Treffen (leider habe in den Freitag verpasst und rede deshalb vor allem von den selbstorganisierten Workshops) ging es dann vornehmlich um Themen, die in der Digitalisierung ein Werkzeug, in den neuen Kommunikationsmitteln ein Medium sehen. Da waren sehr aufschlussreiche und interessante Dinge dabei, vom Einsatz von LaTeX im Pfarramt, über Konfi-Apps bis zur Frage nach der Bedeutung von Instagram im Pfarramt. Auch die Frage danach, inwieweit Digitale Kirche ein Ort sein kann, der an die analoge Kirche heranführt, wurde diskutiert. Kurzum: Es war deutlich und klar, dass die Digitalisierung Dinge ändert, neue Möglichkeiten bietet und diese diskutiert werden müssen.

Um es mit dem oben eingeführten nochmal zu beschreiben: Wenn von einem Paradigmenwechsel die Rede sein kann, dann wurde vor allem die alltagssprachliche Dimension debattiert: Irgendwas ändert sich und man muss drüber nachdenken, wie es in unser Verständnis des Christlichen zu integrieren ist. Doch hat der Begriff des Paradigmenwechsels eben auch eine zweite Ebene. Diese wurde in Stuttgart nur am Rande angeschnitten, wäre aber wahrscheinlich auf einem zukünftigen Barcamp nochmal intensiver zu beleuchten. Denn möglicherweise ändert die Digitalisierung nicht nur etwas an der Art und Weise der Kommunikation der Botschaft, sondern stellt grundsätzlichere Fragen. Fragen nach der passenden Übersetzung christlichen Glaubens ins 21. Jahrhundert oder auch Fragen danach, inwiefern die zentralen Inhalte überhaupt Geltung beanspruchen kann. Was bedeutet Gottes Vorsehung und Allwissenheit unter den Bedingungen präzise prognostizierender Algorithmen? Was heißt Rechtfertigung des Sünders im Hinblick auf die Selbstkonstruktion unterschiedlicher Persönlichkeiten in den sozialen Netzen? Wie kann es eine Gemeinschaft der Heiligen geben ohne analoge Zusammenkunft?

Diese Fragen sind nicht mehr auf der Ebene des zu suchen, auf der es um das Nachdenken über neue Formen der Vermittlung geht. Sie gehen tiefer: Es geht darum, dass Digitaliserung, wie vorher wahrscheinlich die Reformation und die Aufklärung eine „Umformungskrise“ des Christentums hervorrufen wird, der man sich stellen muss. Dies ist eine Aufgabe der akademischen Theologie, aber genauso auch eine der Personen, die sich in der Praxis mit den Fragen des Glaubens im Netz beschäftigen. Dafür ist hoffentlich im kommenden Barcamp Süd ein Ort, dann vielleicht auch in einem Slot von uns.

Natürlich brauchen wir Fresh expression!

von Tobias Graßmann (@luthvind)

Я хочу велосипед и чистой футболкой
Падать, падать, падать, падать в грязь
– Монеточка –

Übs.: Ich will ein Fahrrad und ein reinweißes T-Shirt
Stürzen, stürzen, stürzen, in den Schlamm stürzen

Jüngst wurde in der digitalen Kirche bekannt, dass das in vieler Hinsicht prägende Projekt „Kirche hoch zwei“ – zumindest in dieser Form – zu einem Ende kommt. Überraschend kam dies nicht zuletzt, weil Sandra Bils als eine der beiden Zentralfiguren des Projekts noch dieses Jahr eine viel beachtete Predigt auf dem Kirchentag gehalten hatte (man erinnere sich an die #Gurkentruppe). Mittlerweile liegt auch eine Stellungnahme und persönliche Bilanz von Maria Herrmann vor, die neben Sandra Bils der programmatische Kopf hinter „Kirche hoch zwei“ ist.

„Kirche hoch zwei“ hat sich inspirieren lassen von den Fresh Expressions of Church, wie missionarische Aufbrüche insbesondere in der englischen und schottischen Kirche genannt werden. Diese sammeln sich unter dem Programm einer mission shaped church: eine Kirche, die ihre Gestalt von ihrer Sendung in die Welt her empfängt. Die Geschichte hinter diesen Begriffen ist hier nicht zu erzählen. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass solche Impulse auch in unseren deutschen Kirchen dringend benötigt werden! Die Nachrichten zu „Kirche hoch zwei“ regen daher auch mich, der ich dem Projekt aus der Ferne in eher kritischer Solidarität verbunden war, zu Überlegungen an.i Wie sollte es nun weitergehen auf der Suche nach Fresh Expressions?

Das Projekt „Kirche hoch zwei“ hat im losen Netzwerk der digitalen Kirche viel angestoßen. Kaum jemand scheint noch zu bezweifeln: Wir brauchen die Suche nach neuen Formen, wie man heute als Gemeinde leben und die christliche Botschaft verkündigen kann. Lebensnah und gegenwartshungrig, manchmal unkonventionell und darin auch irgendwie unerhört. Wir brauchen dazu Experimente, wir brauchen den Mut zum Risiko, ja auch zum Scheitern. Wir brauchen Institutionen, die sich solche Experimente einfach mal leisten und Personen nicht auf Misserfolge festzuschreiben, sondern die gute Idee im misslungenen Versuch würdigen. Wir brauchen in der Kirche eine neue Kultur, in der man auch von Erfolgen reden darf. Und, meinetwegen, auch ein paar griffige Slogans aus der Kreativwirtschaft. Das alles kann man dann von mir aus Start-Up-Kultur nennen. Also ja, wir brauchen Mission, die unsere Kirche in neue Formen überführt – Mission abseits der Zerrbilder, die man damit landläufig so verbindet.

Aber sind am Ende dieser initialen Phase, die so stark von „Kirche hoch zwei“ geprägt war, vielleicht auch Kurskorrekturen vorzunehmen? Was können wir als Kirche und Theologie aus den Erfahrungen lernen, die Maria Herrmann schon einmal rückblickend von der Kommandobrücke aus reflektiert hat? Ich versuche – nun ganz persönlich! –, ein paar für mich weiterführende Gedanken zu formulieren.

„Kirche hoch zwei“ – das sollte für Kirche in einer neuen Dimension stehen. Oft und selbstbewusst wurde daher der Anspruch erhoben, auf diesem Wege eine geeinte Christenheit zu verwirklichen. Maria Herrmann wünscht sich: Einen Geist, der neue Formen der Ökumene feiert und sie als Gründungsnetzwerk der Kirche (Singular!) versteht.ii Und man kann ja auf dem Standpunkt stehen: Dieser Singular allein sei einer Gegenwart angemessen, die kein Gespür für konfessionelle Pluralität mehr hat und auch wenig Verständnis für diese Unterschiede aufbringt. Unbestreitbar ist damit eine christliche Sehnsucht nach sichtbarer Einheit treffend erfasst.

Aber ist es wirklich nötig, die Suche nach FreshX mit dieser Ökumenekonzeption zu belasten? Gewiss, es lassen sich viele Projekte denken, bei denen die konfessionelle Herkunft der Beteiligten, der Initiatoren und Zielgruppe einfach keine Rolle mehr spielen. Gleichzeitig könnte es sein, dass sich gerade aus dem Schatz der einzelnen Konfessionen und ihrer Frömmigkeit neue Impulse entwickeln lassen. Diese könnten dann wiederum nicht zuletzt von Menschen anderer Konfessionen (oder Nicht-Christinnen*) als neue, für sie interessante Formen entdeckt werden. Wenn das so ist – und faktisch scheint mir „Kirche hoch zwei“ diesen Weg beschritten zu haben! – , dann spricht das eher für ein dialogisches Verhältnis der Konfessionen, das die Spannung produktiv verwandelt. Sollte dagegen der Verdacht aufkommen, es werde offiziell jenseits der Konfessionen und im Namen der Ökumene unter der Hand doch eine einseitig-konfessionelle Frömmigkeit propagiert, wäre dies schade.

Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Ortsgemeinden und etablierten kirchlichen Strukturen sagen. Die Selbstbezeichnung FreshX – wiederholt wurde darauf hingewiesen – verleitet schon semantisch dazu, in den Ortsgemeinden und ihren traditionellen Gottesdienstformen nur die veralteten, absterbenden, eben nicht mehr frischen und lebendigen Gestalten von Kirche zu sehen. Manchmal erschien mir der eigene Anspruch, Grenzen zu sprengen und das schlechthin Neue zu bringen, dann doch so zugespitzt, dass die traditionellen Kirchengemeinden eher als Hindernis des göttlichen Geistes erscheinen mussten. Das aber tut all denen Unrecht, die sich innerhalb der traditionellen Strukturen nach Kräften bemühen, das Evangelium zu verkünden und den Menschen zu dienen. Und was soll eigentlich das Ziel dieser Frontstellung sein? Faktisch wird das Überleben experimenteller Formen noch auf lange Sicht von diesen traditionellen, gewachsenen Strukturen abhängen. Nur sie können die Ermöglichungsräume tragen, personell, finanziell und vielleicht auch spirituell. Gerade in den Kerngemeinden sind auch viele Unterstützer zu gewinnen, die an etablierten Formen hängen und sich zugleich nach Aufbrüchen sehnen. Dort sind Schultern, die mittragen können und wollen! Und müsste man nicht auch darauf hoffen, dass sich an den Rändern der beackerten Gemeindeflächen ein Wildwuchs neuer Formen bildet, weil Menschen sich von den gewagteren Aufbrüchen inspirieren lassen, ohne der StartUp-Kultur in allem nachzueifern?

Irgendwie schwierig gestaltet sich bisher auch das Verhältnis zur akademischen Theologie. Aber gesetzt, es gäbe an den Fakultäten Theologinnen und Theologen, die thematisch neue Wege beschreiten, Theoriehorizonte weiten und alte Fragestellungen neu konfigurieren – müsste man hier nicht die Verbindung suchen? Zu stark, scheint mir, hat man sich mit einer bestimmten Ehrenamtstheologie belastet, die professionell-kirchliche Ausbildung und wissenschaftsförmige Theologie im Kern abwertet. Dabei zeigen nicht zuletzt die Zentralfiguren von „Kirche hoch zwei“, die selbst ihre akademischen Meriten erworben haben bzw. noch anstreben, dass es meistens den Umweg über die Theorie braucht, um die scheinbar selbstverständliche Praxis in neuem Licht zu sehen.

Speziell aus der Perspektive der Praktischen Theologie stellt sich die Frage, wie man es eigentlich mit der eigenen Zielgruppe hält. Oft wurde und wird in der Kirche die Orientierung an Zielgruppen beschworen. Von außen betrachtet meldet sich die Kritik an, ob man sich diese Zielgruppe nicht mitunter zu sehr nach dem eigenen Bild erschaffen hat. Viele FreshX-Projekte scheinen sich in einer sehr schmalen Nische zu drängeln, der Lebenswelt junger, urbaner Akademikerinnen und Akademiker, auf der Suche nach sich im Prozess der Ablösung vom kirchlichen Herkunftsmilieu. Diese Spezialisierung ist legitim, aber vielleicht einfach nicht breit genug. Vielleicht wäre es doch wichtig, den alten Anspruch der Volkskirche mitzuführen – also stärker in Sozialräumen und von gesellschaftlichen Bedürfnissen aus zu denken als in persönlichen Begabungen und Neigungen. Gerade, wenn man den Anspruch einer göttlichen Sendung hinaus in die Welt ernst nimmt!

Vielleicht ist für die Initiatorinnen und Initiatoren künftiger Projekte auch die biblische Leitfigur der Prophetin nicht nur glücklich. Möglicherweise sind hier und da weniger charismatische Anführer gefragt als unauffällige Ermöglicher – also mission shaped ministry im Wortsinn. Menschen, die diskret ihren Dienst leisten am Wort und am Nächsten, jenseits der breiten Pfade, aber auch ohne knallige Ästhetik und hochtönende Verheißungen. Möglicherweise lässt sich beides auch kritisch in der Schwebe halten. Bescheidene, diskrete Prophetie, ist so etwas denkbar? Mit dem Auge für Lücken und Risse in der Sozialstruktur, die Menschen im Dienst des Evangeliums füllen können. Vielleicht muss man alles noch viel kleiner, kurzfristiger, dezentraler denken. Vielleicht muss man das Tau der großen Bewegung wieder in ein Netz von Einzelfäden auflösen.

Es ist zu wünschen, dass das Experiment „Kirche hoch zwei“ nicht das letzte seiner Art und schon gar nicht Ende der kirchlichen Suchbewegungen war. Es bleibt der Dank an „Kirche hoch zwei“ für unermüdliche Arbeit und so manche fruchtbare Provokation. Lassen wir uns von der eigenen Sendung her verwandeln!


Vom Predigen. Widersprüche zu #abkanzeln

von Niklas Schleicher

 

Wir haben vor zehn Jahren erfolgreich die Idole getötet
Und jetzt hängen wir im Zuckerbergwerk, labern nur Blödsinn
Und ich weiß ihr wollt ’ne Hymne und ’ne provokante Botschaft
Doch ich stolper‘ zwischen Prediger und kollektiver Ohnmacht
Scheiß auf Jugendrebellion, ich hab‘ die Faxen dick
(Disko Degenhardt: „Der Druck bleibt“)

 

cara

Heute predige ich darüber, dass man es nicht verhindern kann, Fehler zu machen, aber dass man bei allem versuchen kann, Mensch zu bleiben, denn das ist immer gut. (@PastoraCara)

Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch zum Artikel von Hanna Jacobs (https://www.zeit.de/2018/44/religioese-reden-predigt-abschaffung-sermon-kanzel). Ich habe weder Erfahrungen im Vikariat oder im Pfarramt, noch bin ich Praktischer Theologe, der sich berufsmäßig mit der Geschichte und der Praxis protestantischer Predigt beschäftigt. Meine gehaltenen Predigten lassen sich bequem an zwei Händen abzählen. Und ja, auch ich rege mich mehr über Predigten (oder Predigtideen) auf, als dass ich diese gut finde. Also: Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch. Es wird widersprochen und widersprochen werden: @FrauAuge hat in einem Tweet-Thread differenziert darauf hingewiesen, dass man mehr Freiräume für gute Predigten braucht. Der Blog „Homilia“ hat geantwortet und die richtigen Anliegen aufgenommen. Und die niedersächsische Landessuperintendentin Petra Bahr wird diese Woche bei „Christ und Welt“ respondieren. Alles berufenere Menschen, die sich gewählter ausdrücken und differenzierter argumentieren.

Ich sollte nicht widersprechen: Selbst hier bei NThK gibt es bessere: Claudia Kühner-Graßmann ist praktische Theologin und kann sehr differenziert die Praxis religiöser Rede reflektieren. Tobias Jammerthal ist Vikar und verfügt außerdem über breites geschichtliches Wissen. Die stilistische Schärfe von Tobias Graßmann erreiche ich kaum. Und lustiger wäre der Widerspruch sicherlich, wenn ihn Julian Scharpf verfassen würde.

buiting

Heute Nacht geträumt: Priester steigt von der Kanzel und fragt anstelle einer Predigt: “ Mal ehrlich: Wie geht’s euch, Leute?“ Und dann wird erzählt. Und zugehört. Und geweint. Und umarmt. Und die Kirchentür ist geöffnet dabei. Himmelweit. Ist mein Traum irgendwo Wirklichkeit? (@HannaBuiting)

Andere müssten widersprechen. Und warum überhaupt: Folgt Hanna Jacobs nicht ganz präzise einem Trend? Hat sie in ihrer Deskription recht? Ich meine, man muss nur auf den Powertweet einer anderen Hanna, Hanna Buiting, schauen: Runter von der Kanzel und zuhören, dass ist doch das, was die Menschen brauchen. Und dann: Trage ich hier wieder persönliche Aversionen ein? Bin ich nur neidisch, dass ich nicht in der „Christ und Welt“ schreiben kann, sondern nur ab und zu mal in einem kleinen Blog meine kleinen Dummheiten in die Welt schreibe?

Nein, andere sollten widersprechen: Die Exegeten und Exegetinnen vielleicht. Sie sollten bemerken, dass die biblischen Bücher zu einem guten Teil von Reden berichten oder sogar in stilisierter Redeform abgefasst sind. Dass Jesus vor allem auch als Lehrer wirkte, als einer der sprach, ja, der auch monologisierte. Und Paulus. Und auch die Propheten. Und Mose. Sie sollten darauf hinweisen, dass die christliche Religion und ihre Wurzel, das Judentum ganz eminent auf gesprochene und verschriftlichte Rede angewiesen war. Ja: Schon im Ursprung war das Christentum eine Religion des Wortes, und das gilt auch ohne das man auf den Johannesprolog aufmerksam machen müsste.

elektropastor

@hannagelb Werde am Reformationstag die Gemeinde über Gal 5 diskutieren lassen. 30-45 Minuten, mit alkfreien Cocktails. Kurzes Minifazit am Ende mit den Ergebnissen der Leute. Leserbrief zum dk-Artikel: Ohne Predigt kein Gottesdienst. Finde den Fehler. #abkanzeln (@elektropastor)

Es sollten andere widersprechen. Die Kirchengeschichtler und Kirchengeschichtlerinnen bestimmt. Mit Luther zum Beispiel. Denn freilich: Reformation war ein Medienereignis. Der Buchdruck und die Bibelübersetzung waren wichtig. Aber durch welche Schriften wurde Luthers Lehre verbreitet? Was war das, was wirkte? Es waren: Predigten. Entweder gehaltene oder eben: Gedruckte. Aber es waren Predigten. Klar, Luther ist vorbei. Aber danach Schleiermacher und seine Reden. Oder im Kirchenkampf. Oder. Oder.

knuuut

Jede Predigt muss bis 2021 auf einen Bierdeckel passen. #abkanzeln (@knuuut)

Oder möglicherweise die Dogmatiker oder Dogmatikerinnen: Sie sollten darauf hinweisen, was in der Schrift zur Rechtfertigungslehre der EKD (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2014_rechtfertigung_und_freiheit.pdf) nochmal deutlich hervorgehoben wurde: Es sind eben nicht nur vier reformatorische Exklusivpartikel (gratia, fide, christus, scriptura), sondern fünf. Solo verbo: Das zugesprochene, ja, eben auch das verkündigte Wort ist es, so Gott und sein Geist will, das den Sünder in die Gnade ruft. Vielleicht müsste der Dogmatiker oder die Dogmatikerin auch sagen, dass hier bei Hanna Jacobs der Rahmen des lutherischen Bekenntnisses, wenn nicht verlassen, so doch wenigstens herausgefordert ist. Aber gut, möglicherweise ist das auch altertümlicher Blödsinn und heute muss es anders gedacht werden.

Aber vielleicht widersprechen auch die praktischen Theologen und Theologinnen und machen deutlich, dass die Predigt eben auch ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation des Evangeliums ist. Ich weiß nicht, vielleicht irre ich mich, aber die Homiletik als Teildisziplin ist eine, die einen relativ hohem Innovationsgrad hat. Sei es szenisches Predigen oder die Semiotik. Vieles Neue findet den Einlass in die Praktische Theologie und damit auch in die Theologie als Ganzes über den Trichter der Homiletik.

gayk

Statt einer Predigt gab es heute eine Frage: Was gibt dir Kraft? #abkanzeln (@julegayk)

Nun ja, das sind alles fachwissenschaftliche Debatten. Dann sollten vielleicht die Pfarrer und Pfarrerinnen widersprechen. Sie müssten sagen, dass Sie sich der Abständigkeit vieler Predigttexte durchaus bewusst sind, ja daran auch oft fast verzweifeln, aber Sonntag für Sonntag, Predigt für Predigt ihr Bestes geben, um das, was diese Texte auch in der (Post/Spät/Wasauchimmer-)Moderne dem Hörer oder der Hörerin bedeuten kann, auszulegen.

Es geht im Artikel ja aber um die Menschen, vielleicht müssten diese, die Menschen, die Sonntag für Sonntag im Gottesdienst sitzen, widersprechen. Sie müssten sagen: Woher, im Namen des Allmächtigen, weißt du denn, was meine Fragen sind? Glaubst du, nur weil du deine Probleme kennst, kennst du auch meine? Oder Sie müssten sagen: Nur weil du die Predigt, ja selbst deine Predigt nicht gut findest, weißt du noch gar nicht, was Sie in diesem Moment für mich bedeutet. Sei es, weil es für mich eine Tradition ist. Sei es, weil mich diese Auslegung trifft. Sei es, weil mich nur ein Satz berührt.

marthori

Mir spricht das aus dem Herzen, weil ich mich längst von der Predigt verabschiedet habe. Ich gehe kaum noch in Gottesdienste – vor allem wegen der Predigt. Ich ertrage sie einfach nicht mehr. (@marthori)

Oder sie müssten sagen: Klar, wenn ein Pfarrer von der Kanzel steigt und fragt, wie es geht, ist schön. Aber kann es sein, dass dann eh nur die gleichen reden? Oder dass ich vielleicht in diesem Moment nichts zu sagen haben, nicht reden will oder reden kann, sondern einfach nur hören will. Vielleicht Zuspruch, Aufmunterung oder auch Ermahnung brauche?

Vielleicht müssten Sie widersprechen und sagen: Klar, es ist die konkrete Person, um den es im Protestantismus geht, aber die konkrete Person ist eben nicht nur eine Pfarrerin in einem neuen Gemeindeprojekt in einer deutschen Großstadt, sondern auch der Rentner, die Küsterin, der Konfirmand oder ich. Und vielleicht, ja vielleicht, geht es eben auch manchmal um mich und nicht nur um Pioniere und Wanderer und Raumschiffpiloten.

jacobs

Für meinen Glauben brauche ich regelmäßig Predigten. [Umfrage] #abkanzeln (@hannagelb)

Irgendwie so, aber viel besser und differenzierter müssten es die klugen Menschen sagen. Sie werden, wenn sie es tun,  es differenziert und in Aufnahme der wichtigen und klugen Punkte sagen, die Hanna Jacobs anspricht. Ich nicht. Ich würde sagen: Wer die Abschaffung der Predigt fordert und denkt, dass er so eine protestantische Position vertritt, hat nicht Recht. Ich würde auch sagen: Wer so begründet wie im Artikel, stellt nur das eigene in den Fokus der Überlegungen und vergisst, dass es in der Kirche um mehr als nur mich und meine Richtigkeiten geht. Er sagt ein bisschen sehr viel „Ich“, auch wenn er denkt, dass es ihm immer um das „Du“ geht. Möglicherweise müssten wir nochmal darüber nachdenken, was das eigentlich heißt und von mir fordert, dieses „Kirche“. Aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.

Vom Glauben, Lieben, Hoffen der Generation Y

Rezension zu: Stephanie Schwenkenbecher/Hannes Leitlein: Generation Y. Wie wir glauben, lieben, hoffen, Neukirchen-Vluyn 2017.

Von Sabrina Hoppe

Als „Selbstvergewisserung“ (S.16) bezeichnen Schwenkenbecher und Leitlein ihr Buch zum Glauben der sogenannten Generation Y. Als Vergewisserung, dass diejenigen Menschen der Generation Y, die im Sommer 2017 ihren christlichen Glauben leben, nicht allein sind: „Ja, wir gehen auf das Ende der Volkskirche zu, auf schrumpfende Gemeinden und ein Christentum, das in die Versenkung oder ins Fundamentalistische wandert. Aber: Wir gehen nicht auf das Ende des Christentums, nicht auf das Ende des Glaubens und schon gar nicht auf das Ende von Liebe und Hoffnung zu. Das ist es, was wir hören, wenn wir mit den Christen in unserer Generation sprechen.“

Eine Selbstvergewisserung muss nicht unbedingt zur Nabelschau werden – auf diesem schmalen Grat balanciert das hier vorgestellte Buch meines Erachtens erfolgreich und gibt damit einen Einblick in die eben genannten Diastasen der gegenwärtigen Kirchlichkeit und Frömmigkeit in Deutschland für die Generation Y. In neun Porträts junger Menschen zwischen 25 und 35 geht es darum, wie diese Frauen und Männer ihren eigenen Glauben beschreiben und vor allem, wie er in ihrem Alltag Gestalt gewinnt. Die Perspektive der Interviewer bleibt dabei angenehm zurückhaltend und deskriptiv, die leichte und humorvolle Beschreibung der Interview-Settings gibt den Gesprächen Lebendigkeit und Farbe. Neben die Porträts tritt die Vorstellung von neun sogenannten Netzwerken, Orten neuer Kirchlichkeit: Projektgemeinden, landeskirchliche Innovationskirchen, fresh X – Leuchttürme. Während das Buch zu Beginn angesichts der Präsentation einer breit gestreuten Umfrage zu religiösen Stichworten den Blick ins Weite sucht, spitzt es sich am Ende zu, wird persönlicher, direktiver und gewinnt seine eigene Stoßrichtung: Mit fünf Themen, die laut der Wahrnehmung der Autoren die eigene Generation herausfordern und – das ist die implizite Forderung dahinter – denen sich ebenfalls die Amtskirchen nicht entziehen sollten: Der Vielklang des Glaubens, die Frage nach Partizipation, die unhintergehbare Pluralität der Lebensformen und ihre Verantwortbarkeit vor den eigenen Moralvorstellungen, die Ambivalenz der Erwartungen junger Gläubiger an ihre Kirche – in diesen Komplexen finden sich nach den Autoren die Kernfragen der Generation Y, was ihren Glauben und seine Lebbarkeit betrifft.

Ich habe das Buch gerne gelesen – und mich trotzdem nicht darin wiedererkannt. Obwohl ich doch mittendrin in der Generation Y bin. Ich bin in diesem Fall also nicht nur Rezensentin, sondern auch mögliches Forschungsobjekt und wechsele deswegen jetzt kurz die Perspektive, wie es das Genre einer gebloggten Rezension ja erlaubt: Aber nein, ich erkenne mich nicht wieder. Ich komme aus der oberbayerischen evangelischen Diaspora, ich kannte bis zum ersten Semester des Theologiestudiums nicht den frömmigkeitsgeleiteten Unterschied zwischen Landeskirche und Freikirche. Und auch von den beiden „Großen“, Patin und Pate der Generation Y, Christina Brudereck und Fulbert Steffensky, kannte ich dann nur Steffensky – und zwar als Ehemann der Theologin Dorothee Sölle.

Bei der Lektüre des Buches wurde mir ein ums andere Mal klar, wie groß die Lücke zwischen den jungen Menschen ist, die in der Evangelischen Jugend einer Ortsgemeinde aufwachsen, mit ihr erwachsen werden, und denen, die ihre Sprache, ihre Lieder und Gebete gewissermaßen „auf der Suche“ entdecken: die ausprobieren, was passt, Ideen entwickeln und dabei zu den Jesus-Freaks, ins Berlin-Projekt oder sonst wohin stolpern – ihr Ziel mitunter auch gezielt ansteuern. Das Gefühl des Anders-Seins, das „gift of not fitting in“, wie ich es von den Akteuren der freshX-Bewegung in diesem Jahr erstmals gehört habe – es ist mir fremd. Es war einfach nie mein Motor, es hat mich auch nie beunruhigt. Vielmehr fühlte ich mich in meiner örtlichen Kirchengemeinde aufgenommen, am richtigen Ort – unter so vielen Menschen, die ganz anders waren als ich: älter, bürgerlicher, gebildeter, erfahrener, auch spießiger. Beunruhigt hat mich vielmehr, dass ich das Glaubensbekenntnis nicht mitsprechen konnte, weil ich seine Floskeln und Hülsen nicht verstanden habe.

Was die Generation Y in diesem Buch von sich erzählt, klingt zwar frommer, als ich es selbst auf meinem Weg in den Pfarrdienst geworden bin. Und gleichzeitig bleibt die Beschreibung ihrer Glaubensinhalte für mich schemenhaft und manchmal inhaltsleer: Eine „anfassbare Beziehung zu Gott“ (S.73), wie sie Jonte beschreibt – was ist das? Eine ähnliche Frage stellen sich auch Leitlein und Schwenkenbecher, wenn sie sich darüber wundern, welch geringe Rolle Jesus in den Selbstaussagen der Porträtierten spielt: „Aber Jesus? (…) In unseren Erzählungen vom Glauben spielt er kaum eine Rolle – meist mussten wir unsere Porträtierten erst danach fragen, damit sie von ihm erzählten. Er bleibt seltsam blass und in Titel wie Retter oder Erlöser verhaftet, manchmal wird er immerhin als Vorbild genannt. (…) – ausgerechnet er bleibt eine Nebenfigur unserer Glaubenserzählung! Schock!“

Die „Blässe“ in der Schilderung solch gewichtiger Glaubenssaussagen verwundert nur auf den ersten Blick. Bei der Lektüre des Buches wird mehr und mehr deutlich, dass die Befragten sich auf die Methodik des Projekts in der Weise einlassen, wie auch der Titel des Buches formuliert „Wie wir glauben, lieben, hoffen.“ Ein Schwerpunkt der Fragestellungen der Autorin und des Autors liegt nicht auf den Inhalten, sondern auf den erfahrungsbasierten Glaubenswegen der Porträtierten. Sie fragen nach Orten und Beziehungen, nach Netzwerken und Schlüsselerlebnissen – die Antworten ergeben ein farbenfrohes Panorama, eine Frömmigkeitslandschaft der Generation Y. Was dabei nicht zur Sprache kommt, ist das Ausbuchstabieren und Selberformulieren, die Aneignung tradierter religiöser Formeln: Was sage ich, wenn ich gefragt werde, wie das Licht der Auferstehung meine innere Not und Dunkelheit erhellt – und warum mir das Halt gibt? Wie ich von Christus als Erlöser sprechen kann – und warum ich mich nicht selbst erlösen kann? In den zitierten Liedtexten klingt das an – aber es fehlt die Übersetzung in eine Sprache, die auch abseits der Poesie und der blumigen Gefühlsausdrücke trägt und verständlich ist.

Eine ähnliche Verlorenheit im Beschreiben und Ausdifferenzieren sehe ich bezüglich dessen, was Schwenkenbecher/Leitlein unter der Überschrift „Vorsicht mit der Moral“ thematisieren. Sie stellen fest: „Unsere Porträtierten maßten sich alle in diesen Fragen kein letztes Urteil an und wollten vor allem nicht riskieren, Menschen nicht respektvoll genug entgegenzutreten.“ Auch hier zeigt sich m.E. eine gewisse Blickverengung, was die Beschreibung des Verhältnisses von Glauben und Moral anbelangt: Ist es wirklich noch die Denkweise von jungen Christinnen und Christen heute, dass sie ihre Moralvorstellungen aus biblischen Geschichten und paulinischen oder alttestamentarischen Aussagen zur Gleichstellung von Frau und Mann oder zur Homosexualität herleiten? Und stimmt der folgende Satz tatsächlich? „Wenn wir von unseren Beziehungsbiografien erzählen, dann fallen wir womöglich am allerschnellsten als Christen auf.“  Bleibt die Darstellung der Autoren hier nicht vielleicht den konservativ-ängstlichen moralischen Normen einer frommen Filterblase verhaftet, die sich darin von den Beziehungsgeschichten des Rests der Leute am Kneipentisch unterscheiden? Auch hier muss ich feststellen: Ich erkenne mich nicht wieder.

Um es gleich hinterherzuschieben – die Qualität eines Buches ist natürlich nicht daran zu messen, ob sich eine Rezensentin darin wiedererkennt. So soll am Ende dieser Rezension ein Dank und ein Lob stehen für das, was das Buch in meinen Augen leistet: Es holt zwischen zwei Buchdeckel, was derzeit in Kolumnen wie denen von Hanna Jacobs und Alina Oehler und in all den fresh X Leuchtturmprojekten, auf Blogs und bei twitter diskutiert wird – einen Ausschnitt der Themen, die junge Gläubige heute in Deutschland bewegen, Beispiele wie sie ihr religiöses Zuhause beschreiben und wie sie es einrichten. Danke für dieses Buch!

 

Gottesdienst für die ganze Gemeinde oder: Kinder willkommen?

von Claudia Kühner-Graßmann

Prolog: Dieser Beitrag entstand aufgrund von Wut und Enttäuschung. Wut und Enttäuschung darüber, dass unser dreijähriger Sohn quasi aus dem Gottesdienst geworfen wurde. Es handelte sich um einen großen Festgottesdienst zum Reformationsjubiläum. Unser Kind geht gerne in die Kirche, liebt Orgelmusik und ist als Pfarrerskind sehr vertraut mit dem Setting. Er ist aber auch ein Kind, das alles besprechen muss und viele Fragen hat. So will er alles über den Gottesdienst wissen und singt fleißig mit (eigene Melodie und Text, versteht sich). Als er bei der Predigt etwas aufgedreht wurde, suchte mein Mann mit ihm die Spielecke auf. Dort spielte er und plapperte dabei mit anderen Kindern. Sie diskutierten über die richtige Anordnung von Puzzleteilen und schauten sich gemeinsam Wimmelbücher an. Die Konsequenz: einige Gottesdienstbesucher beschwerten sich bei meinem Mann und hielten ihn an, das Kind bitte ruhig zu stellen. In der Spielecke. Ja, unser Sohn war nicht das einzige Kind, mein Mann aber das einzige Elternteil. Der Küster blieb zwar freundlich, machte aber durch sein Verhalten deutlich, dass das Kind eine Störung sei.

Das Ergebnis: wir verließen während des Abendmahls den Gottesdienst. Mit einem weinenden Kind, das gerne in der Kirche geblieben wäre. Noch während des Aufbruchs wurde mein Mann von mehreren Gottesdienstbesuchern mit Beschwerden und Erziehungsratschlägen konfrontiert.

Anlässlich dieses Erlebnisses, das uns sehr ärgerte, möchte ich ein paar Überlegungen zum Gottesdienst, seinem Sinn und (gerechtfertigten) Erwartungen an ihn anstellen, die in der Frage nach Kindern im Gottesdienst münden sollen.

1. Gottesdienst als Wort-Antwort-Geschehen der ganzen Gemeinde

Da es sich bei dem Gottesdienst, der Anlass zu diesen Überlegungen gibt, um einen Gottesdienst zum Reformationsjubiläum handelte, bietet es sich an, einen Blick auf denjenigen zu werfen, der in diesem Zusammenhang am meisten gefeiert wurde: Martin Luther.

Luthers sog. Torgauer Formel beschreibt den Gottesdienst als Wort-Antwort-Geschehen zwischen Gott und Gemeinde.1 Dabei betont er, dass der Gottesdienst eine „ordentliche, allgemeine, öffentliche Versammlung sei, weil man nicht für jeden einen besonderen Ort bestellen kann und auch nicht in heimliche Winkel gehen soll, auf daß man sich dort verstecke.“2 Es handelt sich also um eine öffentliche Versammlung der ganzen Gemeinde. Natürlich ist die Antwort der Gemeinde für Luther keine chaotische Rede aller. Vor Augen steht ihm eine geordnete Veranstaltung, bei der ein ordentlich Berufener predigt und die Gemeinde gemeinsam in geordneter Weise einstimmt mit Gebet und Gesang. Als öffentliche Versammlung aller Glaubenden gibt es, das sei zuerst festzuhalten, keine Voraussetzungen für die Teilnahme außer dem Glauben (und wer möchte diesen schon seinem Nächsten absprechen?).

Wie sieht es dann mit der Ordnung dieses Gottesdienstes aus, der Liturgie? Diese wird häufig ehrfurchtsvoll behandelt und Störungen im Geschehen als besonders frevelhaft wahrgenommen. Luther ist hier pragmatisch: an den äußeren Ordnungen sei nichts gelegen. Sie sollen lediglich dem Nächsten und einem pädagogischen Zweck dienen, etwa auch um des „jungen Volks willen“.3 Die Liturgie ist also nichts Göttliches. Vielmehr dienen die Ordnungen der Versammlung der Glaubenden. Nimmt man dazu Luthers dialogisches Gottesdienstverständnis, dann handelt es sich nicht um ein rein rezipierendes Geschehen. Nein, die Gemeinde soll aktiv dabei sein – in Gebet und Gesang. Alles geordnet, aber aus praktisch-pragmatischen und pädagogischen Gründen.

Mit Luther kann also etwas von dem ehrfürchtigen Ernst genommen werden, der für einige Gottesdienstbesucher korrektes Gottesdienstverhalten charakterisiert. Hinzu kommt eine immer noch existierende besondere Ehrfurcht vor der Pfarrperson. Bleibt man auch hier bei Luther, so fällt der qualitative Unterschied von Pfarrern und Laien weg – Priestertum aller Getauften eben. Natürlich existiert ein Unterschied, der aber als funktionaler zu beschreiben ist, da die Pfarrerin als Theologin quasi Profi und durch ihr Amt in besonderer Weise verantwortlich ist.

Entspannt sich der Umgang mit Liturgie und Pfarrern dahingehend, dass ihre Rolle pragmatisch und funktional verstanden wird sie verstanden werden, können wir Protestanten eine Sache ernst nehmen: Gottesdienst feiern. Und zwar feiern als zum Gotteslob versammelte Gemeinde aller Gläubigen. Dafür gibt es keine menschlich überprüfbare Eintrittskarte und kein Mindestalter. Natürlich unterliegt diese Versammlung einigen Regeln, die das gemeinsame Gotteslob ordnen. Dazu gehört auch der Respekt vor der Pfarrerin, der etwa verbietet, während der Predigt ständig dazwischenzurufen. So gilt es, die Waage zwischen Respektlosigkeit und überernster Ehrfurcht zu wahren. Es geht um Gottes Wort (und Sakrament) und nicht um die richtige Gebetshaltung oder besonders konformes Verhalten, denn dafür gibt es kein Fleißbildchen! Wäre dem so, handelte es sich letztlich nicht um Gottesdienst, sondern um Werkgerechtigkeit. Diese ist aber mit der reformatorischen Erkenntnis der Rechtfertigung allein aus Gnaden obsolet.

2. Erwartungen an den Gottesdienst

Es scheint so zu sein – von empirischen Untersuchungen gestützt4 –, dass bei all den unterschiedlichen Erwartungen an den Gottesdienst diejenige hervorsticht, dass er etwas „Anderes“ zu sein habe. Ein bisschen weg vom Alltag, aber diesen aufnehmend und in diesen hinein scheinend. Was das konkret heißt, divergiert wiederum stark. Es zeigt sich, dass man mit einer Vielzahl von Erwartungen konfrontiert wird, die nicht alle erfüllt werden können. Dabei wird aber vor allem eines deutlich: Man wird es nie Allen Recht machen können! Jeder Gottesdiensteilnehmer geht wiederum einen Kompromiss ein, denn nicht jedes spirituelle Bedürfnis wird gestillt. Jeder nimmt aber auch etwas anderes mit: ein bestimmtes Lied, die Predigt, eine besondere Gebetsformulierung, den Hall der Kirche…

Bei gar nicht so wenigen Gottesdienstteilnehmern scheint eine gewisse Furcht davor zu bestehen, etwas falsch zu machen, etwa an der falschen Stelle aufzustehen. Gemeindegottesdienste sind meistens gut eingespielte Veranstaltungen der Kerngemeinde – so jedenfalls der Eindruck. Genau diese Furcht davor, etwas falsch zu machen, vielleicht gar etwas zu verpassen, was für das Seelenheil wichtig sein könnte, auf der einen Seite und die gut eingespielte Kenner auf der anderen, die nicht selten als Wächter des rechten Gottesdienstverhaltens auftreten – dieses Zusammenspiel der Rollen lässt die Szenerie häufig steif und streng wirken, gerade für Außenstehende und weniger versierte Gottesdienstbesucher.

Wie kann dem entgegnet werden? Ich möchte hier keine konkreten praktischen Ratschläge ausbreiten, sondern vielmehr dazu anhalten, den Gottesdienst zu entmythologisieren und als Gemeinde der Gläubigen zu feiern. Die Verantwortung liegt hierbei beim Pfarrer, bei der Pfarrerin, anderen Hauptamtlichen und beim leitenden Kreis der Gemeinde. Willkommenskultur statt Kirchenzucht gilt es zu proklamieren. Konkreter gehört dazu auch, zu hohen Erwartungen etwa an den Geräuschpegel entgegen zu wirken. Leiterinnen und Leiter einer Gemeinde müssen dafür einstehen, dass Gottesdienste eine Veranstaltung für alle ohne Eintrittskarte sind! Selbstverständlich sind sie auch dafür verantwortlich, die Ordnung einzuhalten. Von deren Sinn und Status war bereits die Rede. Aber es spricht nichts dagegen, zwischendurch die Toilette aufzusuchen, dem Nachbarn einen Gedanken mitzuteilen oder ein Kind zu stillen. Es darf nicht vergessen werden, dass gerade durch die Öffentlichkeit des Gottesdienstes und seine zentrale Stellung, die ihm doch im Gemeindeleben zukommen sollte, die Gemeinde sich hier durch ihre engsten Glieder, der sog. Kerngemeinde, und ihrer Mitarbeiter präsentiert. Der Eindruck, den ein Gottesdienst hinterlässt, so meine These, wird nicht nur durch Predigt und Gestaltung durch den Pfarrer oder die Pfarrerin geprägt. Auch die Gestaltung des Raumes und nicht zuletzt die Haltung der Gemeinde gegenüber dem Gottesdienst spielen ebenfalls wichtige Rollen. Dieses Setting als Ganzes ist so einzurichten, dass man sich willkommen und nicht als Störer fühlt.5

Gottesdienst ist Raum für Besinnung, aber in erster Linie gemeinsames Gotteslob der Gemeinde unter Leitung einer Pfarrerin (oder einer anderen berufenen Person). Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Überhöhte Erwartungen müssen nicht bedient werden. Das bedeutet nun aber nicht, dass Gottesdienste unprofessionell und nett-verkruscht sein sollen. Nein! Man darf vom theologischen Profi ruhig eine gut vorbereitete Performance verlangen und einklagen. Aber das Setting selbst ist kein Göttliches. Der Geist weht, wo er will, und kommt nicht nur dann, wenn alle besonders ehrfurchtsvoll erschaudern.

Noch eine kleine ekkelsiologische Bemerkung: der einzelnen Gemeinde muss bewusst sein, dass sie als Teil der gesamtem Kirche agiert. D.h. auch, dass schlechte Erfahrungen zumeist auf die Kirche als ganze projiziert werden. Die einzelne Gemeinde ist immer mehr als ihre konkret versammelte Gestalt. Das wird im Gottesdienst ja gerade deutlich. Zwar feiert eine Gemeinde gemeinsam Gottesdienst, aber es geht nicht darum, sich selbst zu feiern. Gottesdienst ist eine öffentliche Veranstaltung der Gemeinde, die diese zugleich im Sinne der Gemeinde aller Gläubigen transzendiert.

3. Kinder im Gottesdienst – Qual oder Freude?

Eine Veranstaltung, die dem gilt, der die Kinder eigens zu sich ruft und der ihre Fähigkeit zu voraussetzungsloser Liebe zum Vorbild des Glaubens macht, kann ja eigentlich nicht anders gedacht werden, als einladend für Kinder. Einfach gesagt, aber schwierig umzusetzen. Denn Gottesdienst mit Kindern bedeutet vor allem für Eltern Stress. Selbstverständlich existiert ein Druck, das Kind „ruhig“ zu halten. Was das bedeutet und wie das geht, wissen vor allem ältere Gottesdienstbesucher ganz genau. Natürlich kann ein gewisser Grad an Anpassung verlangt werden, etwa sollte kreischendes Fangenspielen im Kirchenschiff während der Predigt unterbunden werden. Aber darum geht es nicht. Das dürfte den Meisten klar sein. Es geht vielmehr darum, Kinder nicht nur zu dulden, sondern als Teil der Gemeinde wahrzunehmen. Und als solche gehören sie selbstverständlich zu den Teilnehmern des Gottesdienstes. Neben den vielen Forderungen nach mehr zielgruppenorientierten Angeboten sollte daher an der Zielvorstellung des Sonntagsgottesdienstes als Mitte der Gemeinde zumindest als Idee festgehalten werden6 (Überlegungen zur angemessenen Gestaltung stehen auf einem anderen Blatt).

Meiner Meinung nach entbindet dies aber auf der anderen Seite nicht vom Angebot des Kindergottesdienstes. Schon allein aus pädagogischen Gründen ist es sinnvoll, kindgerechte Formen von Liturgie und Verkündigung zu finden. Aber diese sollen letztlich einen Mehrwert für die Kinder haben und eben nicht die Kinder aus dem Gottesdienst fernhalten, damit etwa Eltern einmal ihre Ruhe haben (was für mich als Mutter natürlich verlockend ist) oder andere Gottesdienstbesucher nicht gestört werden. Lässt sich ein regelmäßiger Kindergottesdienst nicht realisieren, dann ist eine Spielecke eine Möglichkeit, wie es sie in vielen Kirchen gibt. Das ist durchaus sinnvoll, denn für viele Kinder ist es eine Zumutung, so lange zu sitzen. Allerdings kann deren Zweck lediglich sein, Kinder zu beschäftigen und damit ihre Laune zu heben.Wie und wo dies gestaltet wird, muss im Einzelfall beraten werden. Aber der Grundton sollte in jedem Fall ein einladender und nicht ein ausladender sein.

Von dieser einladenden Haltung wird die Kirche als Ganze hoffentlich lange zehren. Denn wie soll sich jemand für die Kirche begeistern, wenn er oder sie in der Kindheit erfahren hat, dort nicht willkommen zu sein? Besteht dieses diffuse Gefühl, nicht willkommen sein, dann helfen der beste Konfirmandenunterricht und andere Eingliederungsmaßnahmen nicht. Verantwortlich dafür ist dabei die konkrete Ortsgemeinde.

Ich plädiere dafür, Kinder nicht nur als Störenfriede oder notwendiges Übel wahrzunehmen, sondern auch von ihnen zu lernen. Von ihrer Unbedarftheit in Glaubenssachen. Vom unverkrampften Verhalten im Gottesdienst. Von der Begeisterungsfähigkeit für viele Dinge. Andersherum sollte man sich dessen gewiss sein, dass wir Erwachsene zugleich Vorbilder für diese Kinder sind. Sie schauen sich von uns ab, wie man sich im Gottesdienst verhält. Wie man mit Mitmenschen umgeht. Und wollen wir wirklich motzende, moralisch überhebliche Erwachsene heranziehen (sofern sie dann überhaupt noch in die Kirche kommen und nicht vertrieben werden)? Der Umgang mit Kindern im Gottesdienst ist viel mehr als ein Empfindlichkeitsproblem. An ihm entscheidet sich – natürlich nicht nur, aber zu entscheidenden Teilen – die Zukunft der Kirche. Für diese Zukunft sind wir Gott sei Dank nicht allein verantwortlich, aber wir als erwachsene Gottesdiensteilnehmer tragen dazu bei, ob die jungen Gläubigen sich wohl oder fremd in der Kirche fühlen. Lasst die Kinder dazukommen! Gottesdienst kann Auszeit vom Alltag bedeuten – aber nicht Auszeit vom Leben. Und Gottesdienst als Feier der Gemeinde muss lebendig sein, soll er nicht zu werkgerechtem Lippenbekenntnis, bildungsbürgerlicher Kulturpflege oder einer rein formalen Angelegenheit verkommen.

Epilog: Wir sind immer noch sauer. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die Gemeinde ein solch kinderfeindliches Verhalten an den Tag legte. Der Sohn bekam im Anschluss an das frustrierende Erlebnis ein Eis. Die Eiswaffel teilte er freiwillig mit seiner kleinen Schwester – vorbildlich! Wir werden ihn aber weiterhin in den Gottesdienst mitnehmen, wenn kein Kindergottesdienst stattfindet oder ein besonderes Fest gefeiert wird, an dem wir als Familie teilnehmen wollen. Und wird werden uns weiterhin genervte Blicke und übergriffige Kommentare anhören müssen. Das wird sich leider wohl nicht ändern. Aber es wäre erträglicher, wenn wir wüssten, dass die Gemeinde, ihre Leitung und ihre Mitarbeiter hinter uns stünden, Kinder im Gottesdienst ausdrücklich begrüßten und sie nicht als Störenfriede wahrnehmen würden.

Wir werden trotzdem bei jedem Gottesdienstbesuch gestresst sein und das Kind dazu anhalten, zumindest zu flüstern. Wir werden ihm aber auch weiterhin geduldig seine Fragen beantworten. Seine Fragen nach Formulierungen in Gebeten, Liedern und Bibeltexten. Seine Fragen nach der Kleidung des Pfarrers. Seinen Fragen nach anderen Gottesdienstbesuchern. Und hoffen, dass seine Begeisterung für Jesus und biblische Geschichten anhält und nicht durch solch negative Ereignisse getrübt wird.

 

 


1 Vgl. Luther, Martin: Kirchweihpredigt zur Einweihung der Schloskirche in Torgau (1544), in: Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Der evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen 22009, S. 32-35.

2 A.a.O., S. 33.

3 Luther, Martin: Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes (1526), in: Meyer-Blanck 2009, S. 45-60: 46.

4 Vgl. Pohl-Patalong, Uta: „Eine Stunde etwas Anderes“. Empirische Einsichten und konzeptionelle Überlegungen zum evangelischen Gottesdienst, in: PTh 101 (2012), S. 214-230 und Dies.: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011.

5 Dass ein Willkommenskultur-Defizit besteht, wird in einigen Diskussionen, vor allem in sozialen Netzwerken, deutlich. Die Gründe hierfür werden an unterschiedlicher Stelle gesucht und reichen von fehlerhafter Zielgruppenorientierung bis zu ungenießbarem Filterkaffee und zu kleinen Tassen.

6 Vgl. dazu Pohl-Patalong, Eine Stunde etwas Anderes, S. 230.

Might also be ethics, honey!

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(Noch eine Anmerkung zu “It’s the theology, stupid!”)

Gastbeitrag von Christian Stritzelberger, Tübingen

 

Vorweg: Die offene Diskussion über Theologie und Kirche ist großartig! Denn wenn wir als evangelische Kirche einen Vorwurf nicht loswerden, dann den der Beliebigkeit oder Belanglosigkeit. Was kann die Theologie belanglos machen? Und wie kann bei Pfarrerinnen und Pfarrern der Eindruck entstehen, sie hätten theologisch nichts gelernt, was ihnen weiterhilft? Zu dieser Debatte hier eine, hoffentlich weiterführende, Ergänzung.

 

„Sprachfähigkeit“ ist so etwas wie ein Grundwert des Protestantismus. Die Kirche soll zum Leben, zur Wirklichkeit etwas zu sagen haben. Dafür werden Pfarrerinnen theologisch ausgebildet. Aber welche Wirklichkeit ist das eigentlich, in der sie sich auskennen sollen?

Die für die heutige Theologie immer noch unverzichtbare „dialektische“ Theologie, auch z. B. die einst zum Grundinventar gezählte Seelsorgetheorie nach Thurneysen verbindet man (zu Recht oder zu Unrecht) mit dem Anspruch, eine „wirklichere“ Wirklichkeit zu durchschauen, die uns dann auch die alltägliche Wirklichkeit überhaupt erst verständlich macht.

Diese harte Alternative von „Wirklichkeit Gottes“ und dem, was „der kleine Mann“ für sich als Wirklichkeit erlebt, hatte natürlich gerade in Deutschland ihre historische Berechtigung. Wenn jeder im Land im Stechschritt in die falsche Richtung marschiert, muss man notfalls eben auf dem Wasser gehen, um nicht mitgeschleift zu werden. Diese Sicht ist aber für die evangelische Theologie auch gefährlich, wenn sie zur Grundhaltung wird. Schnell wird dann die „normale“ Wirklichkeit ignoriert, weil nur die „theologische“ wirklich zählt. So wird die beste Christologie, die klarste Trinitätslehre zum Herrschaftswissen: Würde ich das nur verstehen, dann könnte ich auch den Leuten in meiner Gemeinde helfen. Und so geht man dann nach dem Studium frustriert in eine Wirklichkeit, zu der man nichts zu sagen hat.

Wem ist aber überhaupt geholfen, wenn man die Probleme ihres Lebens als Unterthema der Christologie erklärt? Sicher Einigen, wenn das wirklich die Frage war. Ist es aber nicht immer. Und dann ist es mit einer Wirklichkeitsverschiebung nicht getan, denn das Problem liegt dann in dieser Wirklichkeit, in der wir nun einmal alle leben. Will man dazu etwas sagen, dann braucht es auch andere Mittel. Ein zentrales nennt man „Ethik“.

Wir stecken alle, als Theologinnen und als Christen überhaupt, schon im Leben. Und das besteht nicht nur aus Meditationen darüber, was das alles bedeutet. Das besteht auch aus Entscheidungen, ob man das eine oder das andere tut. Ob man eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen muss, ob man Kinderkrankenpfleger werden darf, wenn auf der Station auch Abtreibungen geschehen, ob man Kinder haben sollte, und so weiter. Das Auftragen von Bibelstellenextrakten auf solche ethischen Entzündungen lindert kaum. Vor allem, weil man nicht einfach so schon weiß, wo eigentlich die Stelle ist, die man behandeln müsste; was Symptom und was Auslöser ist.

Menschliche Wünsche, Absichten und die damit verwobenen Glaubensvorstellungen schaffen die Wirklichkeit, die sich jeden Tag ereignet. Um Krankheiten in dieser Wirklichkeit mit dem richtigen Mittel verarzten zu können, braucht man oft erst einmal eine gute Anatomie des Handelns – sprich: „Ethik“. Anders gesagt: Man muss in der Lage sein, zu entwirren, was einen Menschen umtreibt. Und ob das eine Entscheidung bräuchte, oder einen „Zuspruch des Evangeliums“. Wer aber nur verkündigen kann, degradiert alle anderen leicht zu permanenten Zuhörern – als hätten sie kein Leben zu führen.

Für ihre theologische Arbeit müssen Pfarrerinnen sich also (auch!) gut und bequem in der Ethik auskennen, so die These. Das ist nicht mit einer Reclam-Lektüre von Mills „Utilitarismus“ fürs Examen erledigt. Was man mit der Ethik lernt ist nämlich nicht bloß Theorie, oder eine Sammlung von fertigen Inhalten, sondern vor allem eine geübte Fertigkeit, technische Kompetenz. Es ist die Kunst, nachzuvollziehen und handhabbar zu machen, was im Leben verworren daherkommt. Schon deshalb geht Ethik also nicht mit dem Gestus der wirklicheren Wirklichkeit, sondern nur gut lutherisch mit dem Wissen, Gott und die Welt am Ende nicht verstehen zu können – und trotzdem ernsthaft drin zu stecken. Ohne Herrschaftswissen oder Sonderoffenbarungen darüber, was nun gerade richtig ist.

Das ist nicht fakultativ. Ethik gibt keine „Extrapunkte“ für den Wahlbereich. Im Gegenteil: Wer das nicht kann, riskiert, an völlig falschen Stellen mit dem Evangelium um sich zu werfen. Wenn da der Eindruck entsteht, Theologie sei irgendwie bedeutungslos, muss sich keiner wundern. Im falschen Licht scheint die schönste Dogmatik fahl, und schlechte Ethik lässt dümmstenfalls das Evangelium gleich mit schlecht aussehen. Besser also, wenn es da aufscheinen kann, wo es wirklich strahlt. Das kann durchaus in ethischen Diskussionen passieren – muss es aber nicht.

Kurz gesagt hat man als Berufstheologe ein echtes theologisches Defizit, wenn man nur Evangelium „kann“, aber keine Ethik. Das ist eine Herausforderung für die Universitäten, aber auch für die Studierenden. Das heißt nämlich für die Studienplanung, über der Begeisterung für raffinierte Dogmatik nicht die echte Auseinandersetzung mit der „gutbürgerlichen“ Ethik zu vergessen. Beide, das letztlich unbegreifliche Evangelium und die im Leben unvermeidbare Verantwortung, machen evangelische Theologie aus. Gut also, wenn man mit ihr lernt, zu beiden etwas zu sagen zu haben.

 

Christian Strizelberger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie II/Ethik (Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt) in Tübingen.

Study of Theology Revisited

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Randnotizen zu „It’s the theology, stupid

von Niklas Schleicher (@megadakka)

Tobias Graßmann hat auf nthk.de neulich einen Kommentar zu einer Debatte verfasst, woran es der Kirche eigentlich krankt. Der Artikel stieß und stößt auf viel Zustimmung, und an seiner Analyse ist nicht nur nichts verkehrt, sondern es ist ihr zuzustimmen: Theologie ist das, was Menschen (auch) erwarten, wenn sie Gottesdienste unserer Kirchen besuchen. Theologie als Arbeit an Lebens- und Glaubensproblemen ist es, was gerade auch die reformatorische Tradition auszeichnen sollte. Und es ist richtig: Ein Problem der Kirche ist es, dass es im Gottesdienst (aber nicht nur dort) an Theologie fehlt. Auch wenn mehr Theologie nicht alle Probleme auf einmal löst, ist es doch ein Schritt in die richtige Richtung. Die Forderung nach mehr Theologie steht im Raum und weist auf ein Problem hin: Anscheinend mangelt es an solcher. Hier ist der Punkt, an dem im Folgenden nochmal kurz anzusetzen ist.

Denn freilich: Oftmals ist es der Zwang des Berufs und eine gewisse Prioritätensetzung, die es Pfarrern und Pfarrerinnen schwermacht, Theologie zu treiben und ‚drin im Fach‘ zu bleiben. Dies ist ein entscheidender Punkt, lässt aber wohl doch nur darauf schließen, dass im Studium und in der Phase des Vikariats nicht deutlich genug wurde, dass der Beruf auch und ganz entscheidend von Theologie lebt. Dies ist natürlich auch deshalb eine interessante Diagnose, weil es der Evangelischen Kirche an vielen mangelt, aber sicher nicht an Ausbildungsorten, die Theologie und theologische Wissenschaft groß schreiben. Ohne Zweifel ist die deutschsprachige akademische Theologie immer noch sehr gut ausgestattet und sollte alles bereitstellen, um zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen theologisch so zuzurüsten, dass diese aus ihrer Ausbildung für ihre zukünftige Praxis profitieren können.

Nun ist es doch aber so, dass genau von dieser theologischen Ausbildung, die alle Pfarrerinnen und Pfarrer erfahren, bei vielen wenig hängen bleibt. Meines Erachtens liegt das an mindestens drei unterschiedlichen Gruppen, die mit der theologischen Ausbildung zu tun haben. Möglicherweise kann man, wenn man gewillt ist, an diesen Stellschrauben drehen, um die Analyse von Tobias Graßmann mit ein paar praktischen Forderungen zu ergänzen.

Zunächst zu den Studierenden. Es ist faktisch so, dass viele Menschen, die das Studium der Theologie beginnen, dies mit dem Ziel tun, später Pfarrer oder Pfarrerin zu werden. Anders formuliert: Der Berufswunsch steht zuerst und das Studium ist der Weg, diesen Wunsch zu erfüllen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber: Im Studium muss irgendwann der Punkt kommen, an dem man ein eigenes Interesse an theologischen Fragen und Themen entwickelt. Es muss zum eigenen Anliegen werden, zu verstehen, wieso man denn jetzt dieses Fach studieren muss. Man muss selbst Schwerpunkte setzen und sich vertiefen, denn nur so kann man eigenes theologisches Denken lernen. Freilich, der Einwand, der unter gegenwärtigen Bedingungen naheliegt, beginnt mit „B“ und endet mit „olonga“. Zugegebenermaßen ist die Modularisierung der Theologie nicht und ich wage zu behaupten auch sonst keinem geisteswissenschaftlichen Studium angemessen, aber genauso wenig kann sie eine Ausrede sein, eigenes theologisches Denken zu vermeiden. In jedem Seminar, in jeder Vorlesung, egal wie gut oder wie schlecht der Dozierende ist, geht es um theologische Fragen, um das Nachdenken darüber, wie einzelne Inhalte des christlichen Glaubens gedacht werden und wurden. Es ist das Mindeste und nicht zu viel verlangt, von Studierenden zu fordern, diese Gedanken nachzuvollziehen, sich dazu eigene Gedanken zu machen und sich auf das gemeinsame Denken einzulassen. Das fordert hier noch keine große Textlektüre, ist aber der Eingangspunkt zur eigenen theologischen Existenz. Denn auch wenn es nützlich und wichtig ist, über das Seminar hinaus theologische Literatur zu lesen, ist das nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist schlicht und ergreifend: Den eigenen Kopf einzuschalten.

Nun schreibe ich diesen Text quasi von der anderen Seite des Seminarraums und arbeite an der theologischen Ausbildung als Dozierender mit. Auch wir Dozierenden tragen entscheidend dazu bei, dass zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen Theologen sind und bleiben. Zwei Punkte sind hier anzudeuten, die miteinander zusammenhängen und an denen es durchaus mangelt. Erstens: Wir müssen deutlich machen können, wieso unser theologisches Fach, das Seminar oder die Übung, die wir gerade geben, von Bedeutung für die theologische Existenz und damit für den Beruf des zukünftigen Pfarrers ist. Es mag nämlich freilich für die Seminararbeit oder für das Examen reichen, wenn ich z.B. nach der Lektüre von Ritschls „Unterricht“ nachzeichnen kann, was denn nun seine Reich-Gottes-Vorstellungen für den Kulturprotestantismus des 19. Jhd. bedeutet und wo sich seine Lehre von der „klassischen“ Eschatologie unterscheidet. Für die eigene theologische Existenz bringt es aber überhaupt nichts, wenn man keine Idee davon bekommt, wie sich das zum christlichen Glauben verhält und inwieweit uns Ritschl hilft, mit „Glaubens- und Lebensfragen“ umzugehen. Für mich ganz konkret im Seminar bedeutet das, genau diese Art des Nachdenkens zu fördern. Denn freilich: Der erste Schritt ist das Verstehen des Textes, der zweite ist seine Interpretation, der dritte aber muss darin bestehen, wenigstens in Ansätzen darüber nachzudenken, inwieweit dieses Konzept hier und heute für meine Theologie, also mein reflektiertes Reden über Gott hilft. Und, auch wenn ich hier aus der Warte des Systematikers spreche, würde ich diese Forderung unumwunden auch an die anderen Fächer erheben.

Dies führt zu dem zweiten Punkt: Wir brauchen wenigstens eine Idee, was die Sache der Theologie ist. Man kann es nicht oft genug sagen: Die Differenzierung in unterschiedliche Fächer und Fachkulturen ist für die Professionalisierung der Theologie ein Segen. Aber gerade für den Beruf des Pfarrers oder der Pfarrerin, also für den Beruf eines „Allgemein-Theologen“, ist es notwendig, eine Idee zu haben, wie sich die unterschiedlichen Fächer gegenseitig beeinflussen. Es bedeutet eben für mein Reden vom Reich Gottes in der Dogmatik etwas, wenn meine Beschäftigung mit dem Neuen Testament ergibt, dass die Reich-Gottes-Predigt Jesu von der Naherwartung geprägt war usw. Das ist keine einfache Aufgabe, aber für eine ordentliche theologische Grundausbildung halte ich es für unumgänglich, dass wir uns wieder Gedanken um dasjenige Teilfach machen, dass den Zusammenhang der theologischen Fächer untersucht: Wir brauchen eine Wiedergewinnung der theologischen Enzyklopädie.

Neben der Studierendenschaft und der Dozierendenseite ist eine dritte Partei in die theologische Ausbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen involviert: Die Landeskirchen. Hier möchte ich gar nicht groß argumentieren, sondern das Ganze etwas offener formulieren. Ich gewinne den Eindruck, dass die Kirchen zwar irgendwie das erste Examen wollen und auch Zeit in die Prüfungen investieren, danach aber die theologische Weiterbildung (und auch Forschung) rein in der Hand und vor allem in der Freizeit der Pfarrerinnen und Pfarrer liegen sehen. Vielleicht muss man hieran auch weiterdenken, dass Theologie und theologische Weiterbildung nicht der Privatspaß der Pfarrer und Pfarrerinnen ist (Spaß macht es hoffentlich auch!), sondern für den Beruf jedenfalls, wenn das stimmt, was Tobias Graßmann schreibt von eminenter Bedeutung zu sein scheint. Man muss hier gar nicht unbedingt große neue Programme schaffen, die gibt es mit Studienseminaren wie das der VELKD in Pullach oder anderen bereits. Sondern man muss Pfarrer und Pfarrerinnen ermutigen, es ihnen ermöglichen, aber auch fordern, dass sie in ihr Berufsleben Theologie integrieren.

Wenn die drei angesprochenen Gruppen kooperativ und ernsthaft an der Sache arbeiten, dann gelingt es vielleicht, dass der Beruf des Pfarrers, der Pfarrerin wieder zu einem sogenannten theologischen Beruf wird. Hinsichtlich der Herausforderungen, vor die die Kirche gestellt ist, wäre das zu begrüßen.

nachgehakt! — Praktische Theologie und Ethik

Neue Rubrik: nachgehakt! – Hinführung

Was macht eigentlich…? Im Raum der Kirche wie im Bereich der Theologie eine Frage, die sich immer wieder stellt – sowohl innerhalb als auch durch diese beiden Sphären hindurch. Bei der Ausdifferenzierung der verschiedenen Sphären ist es schwer, den Überblick zu behalten. Aber auch mangelnde Austauschforen tragen dazu bei, dass viel „nebeneinanderher“ gearbeitet wird.

Unsere neue Rubrik nachgehakt! möchte sich diesem Problem stellen und zu einer Vernetzung, zu vermehrter Transparenz und zum Austausch kirchlicher und theologischer Arbeitsfelder beitragen.

Ziel ist es, verschiedene, auf den ersten Blick vielleicht nicht immer gleich zusammenpassende Personen aus verschiedenen Bereichen in ein Gespräch zu bringen, das aus einer Frage und einer Reaktion darauf (und gerne natürlich auch aus mehr) besteht. Um zu zeigen, wie nachgehakt! funktionieren könnte, beginnen wir selbst mit der Frage einer Praktischen Theologin an einen Ethiker.

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre und hoffen, dass die Rubrik nicht nur auf Interesse stößt, sondern auch Vernetzungen anregt. Gerne nehmen wir auch Vorschläge für Paarungen entgegen!

Claudia Kühner-Graßmann und Niklas Schleicher

Die Praktische Theologin fragt den Ethiker

Lieber Niklas,

unsere Disziplinen leben ja – nicht nur wegen diverser persönlicher Verbindungen – in guter Nachbarschaft.1 Zwar sind die Differenzen nicht zu übersehen, etwa bezüglich der Themen oder Adressaten. Dennoch bezieht auch Ihr Ethiker Euch in gewisser Weise auf die „Praxis“. Die Praxis, auf die wir Praktische Theologen uns beziehen, kann in gewisser Weise eingegrenzt werden als kirchliche Praxis, die etwa durch CA VII theologisch näher qualifiziert wird. Sehr grob gesagt, geht es um die Reflexion kirchlicher Vollzüge – vornehmlich für Pfarrerinnen und Pfarrer bzw. Theologinnen und Theologen im weiteren Sinne –, wobei der Charakter der Reflexion, die die Praktische Theologie ist, durchaus strittig und unterschiedlich bestimmt ist.

Wie siehst Du Euren Bezugspunkt qualifiziert? Inwieweit seid Ihr Ethiker also auch „Praktische Theologen“? Kommen wir uns gar in gewisser Weise in die „Quere“? Was bedeutet das für eine Zusammenarbeit von Praktischer Theologie und Ethik? Was erwartest Du als Ethiker dabei von der Praktischen Theologie? Was kann die Praktische Theologin von Euch Ethikern lernen? Und wo siehst Du die Grenzen unserer Nachbarschaft und die größere Nähe zur Schwester Dogmatik?

Liebe Claudia,

eigentlich könnten wir die Frage lösen, indem wir, in guter Münchner Tradition, auf die Genese des Faches Ethik schauen. Wenn man es ganz grob fasst, dann wird man festhalten müssen, dass beide Fächer ziemlich zeitgleich als eigenständige entstanden sind (vgl. dazu das historische Kapitel in Grethleins Praktischer Theologie) und zunächst eng verbunden waren. Nun wissen ja aber mittlerweile auch die Münchner, dass allein ein Verweis auf die Historie nicht hilft, um Dinge zu erklären oder zu bestimmen. Ich versuche dann einfach mal mit deinen Fragen und Hinweisen zu arbeiten.

Unseren gemeinsamen Bezugspunkt verortest du in der Praxis und differenzierst dann, dass der Bezugspunkt der praktischen Theologie vielleicht durch den Bezug auf die kirchliche Praxis besser beschrieben wird. Mir leuchtet diese Bestimmung des Bezugspunktes sehr ein, es fällt mir aber schwer, eine ähnlich präzise Bestimmung für die Ethik zu finden. Ich schlage deshalb vor, dass wir, auch um einen Vergleichspunkt zu bekommen, eine komplementäre Bezugspunkt-Bestimmung vornehmen: Man könnte es mit dem Leben des Menschen versuchen. Unsere beiden Fächer beziehen sich, vor allem auch in ihrer deskriptiv-hermeneutischen Aufgabe (vgl. dazu Körtners Aufgabenbestimmung der Ethik in seiner „Evangelischen Sozialethik“) auf das gelebte Leben von Menschen. Die praktische Theologie beschreibt dieses Leben vielleicht unter der Perspektive des Bezugs auf kirchliche Bezüge, die Ethik unter verschiedenen Kategorien der Orientierung im Vollzug. Offensichtlich ist, dass beide Fächer „mehr zu tun haben“, wenn das Leben des Einzelnen unter einer besonderen Frage steht: Ethik wird eher in Grenzfällen „aktiv“, aber auch kirchliche Praxis, selbst der Sonntagsgottesdienst durchbricht in gewisser Form den Alltag.

Unter dieser Perspektive können wir vielleicht bestimmen, wie sich Ethik und Praktische Theologie zueinander verhalten: Sie setzen dort ein, wo das Leben des Menschen unter besonderen Vorzeichen thematisiert wird.

Für die Praxis beider Fächer ergeben sich dementsprechend wichtige und vielleicht noch zu wenig erforschte und gelehrte Bezugspunkte. Ich denke hier zunächst an Bereiche der Seelsorge in Grenzfällen gerade medizinischer Natur. Man könnte zum Beispiel den ganzen Komplex der „Reproduktionsmedizin“ und damit einhergehenden Verfahren wie z.B. IVF-Maßnahmen betrachten. Die ethische Theoriebildung ist in diesen Feldern, sowohl was die hermeneutische als auch die normative Perspektive angeht, mittlerweile sehr ausdifferenziert und bietet unterschiedliche Umgänge. Die praktische Theologie hat mit diesem Bereich wahrscheinlich zunächst im Bereich der Seelsorge zu tun. Wichtig und gewinnbringend wäre es nun, wenn die Ethik von der Praktischen Theologie insofern hinterfragen lässt, als dass diese aufzeigt, welche Fragen denn eigentlich in konkreten Situationen des Lebens von Betroffenen auftritt. Gleichzeitig kann die praktische Theologie von der Ethik so profitieren, als dass diese aufzeigt, wo eventuell ethische Probleme auftreten können und wie diese modelliert sind, so dass die praktische Theologie Wege findet, unter diesen Vorzeichen, Möglichkeiten der Kommunikation zu erarbeiten.

Es ist durch das gesagte offensichtlich, dass die praktische Theologie und die Ethik wenigstens zwei Wissenschaften außerhalb der Theologie haben, auf die Sie sich in höherem Maße als die anderen Kernfächer der Theologie beziehen: Die Soziologie und die Psychologie2. Dies ist insofern auch so simpel wie evident, da diese beiden Fächer versuchen, die Struktur und die Verfassung menschlichen Lebens zu beschreiben und zu deuten (womit sie sich von der Biologie und verwandten Fächern abheben).

Die größere Nähe der Ethik zur Dogmatik besteht wahrscheinlich eher in geistesgeschichtlicher Natur, indem man sich verdeutlicht, dass Ethik und Dogmatik auf philosophischen Wurzeln ruhen und andererseits die Trennung von Lehre und Leben etwas ist, dass erst in der Neuzeit aufkommt. Prinzipiell jedoch ist die Nähe zu praktischen Theologie für die Ethik für die zukünftige Bedeutung des Faches vielleicht von größerer Bedeutung: Etwas größeres als Leben des einzelnen Menschen gibt es – jedenfalls in hermeneutischer Perspektive – nicht zu beschreiben und zu deuten.

1Vgl. die Darstellung bei Albrecht, Christian: Enzyklopädische Probleme der Praktischen Theologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 10), Tübingen 2011, S. 89-104.

2Freilich hat v.a. die praktische Theologie noch viele andere Bezugswissenschaften, die hier nicht aufgezählt werden können. Mir geht es vor allem, hervorzuheben, dass Soziologie und Psychologie innerhalb der theologischen Landschaft fast ausschließlich von der Ethik und der Praktischen Theologie rezipiert werden. Eine gewisse Zeit hat die Dogmatik sich noch um religionspsychologische Fragen gekümmert; dies spielt in der gegenwärtigen Landschaft m.M.n. aber keine Rolle mehr.