Rezension: Wilfried Härle, Worauf es ankommt.

 

Wilfried Härle: Worauf es ankommt. Ein Katechismus, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018.

Für www.nthk.de rezensiert von Alexander Proksch am 28. Juli 2018, veröffentlicht am 17.01.2019

 

Zugespitzte und gleichzeitig allgemein verständliche Antworten auf Fragen des Glaubens an den dreieinigen Gott zu erhalten, war schon immer die Sehnsucht derer, die Gewissheit suchen. Glaubenswahrheiten präzise und keinesfalls banal zu formulieren, wohnt daher dem Christentum mit seinem Auftrag zur Weitergabe des Evangeliums inne. Darum bewährt sich die Frage-Antwort-Methode eines Katechismus bis heute. Nicht umsonst ist im evangelischen Bereich der Erwachsenenkatechismus ein in etlichen Auflagen erschienener Dauerbrenner auf dem religiösen Büchermarkt. Vor kurzem erschien ein neuer Versuch für ein kleinformatiges Lehrbuch. Die Erarbeitung eines gegenwartsnahen Katechismus wagte ein emeritierter Professor für Systematische Theologie.

Der Heidelberger Systematiker Wilfried Härle legt, gegliedert in zehn Themenkomplexe, einen leicht zugänglichen Text aus 180 Fragen und Antworten vor. Der Titel „Worauf es ankommt“ nimmt Bezug auf die erste der durchwegs gehaltvollen Fragen. Ungewöhnlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Werkes: Das Unterfangen fußt auf einem Wettbewerb der Badischen Landeskirche anlässlich des 450-jährigen Jubiläums des Heidelberger Katechismus. Härle legte den Entwurf für seinen Katechismus vor, den er danach mit Mitstreitern in mehrjähriger Arbeit aus dem Kreise der Badischen Kirche weiter bearbeitete. Die Verteilung an Interessierte aller Generationen mit der Bitte um Rückmeldungen entwickelte das Gemeinschaftsprojekt fort und führte zum nun publizierten Endergebnis. Der Band will eine Hilfe sein für Erwachsene, insbesondere für Pädagogen in Schule und Gemeinde. Vom Design wirkt der Katechismus durchaus frisch und für alle Altersklassen ansprechend. Auf jeder rechten Seite findet sich der Fragen-Antwort-Katalog, auf den jeweils links passende Bilder und Zitate kombiniert wurden. Bibelverse wechseln sich ab mit Zitaten von Theologen und Intellektuellen aller Epochen. Strophen aus dem Evangelischen Gesangbuch stehen neben Bilder oder Fotos aus der Christentumsgeschichte – ansprechend und geschickt komponiert.

In seinen formulierten Antworten steht der Autor in der Tradition seiner eigenen Dogmatik aus dem Jahr 1995. Auffallend damals wie in den zuletzt erschienenen Publikationen ist das Bestreben Härles, Christen ein sprachliches und argumentatives Handwerkszeug an die Hand zu geben, damit sie sich selbst wie gegenüber anderen Rechenschaft über ihren Glauben geben können. Mutig scheut sich der Text nicht, selbst komplexen Fragen prägnante Erwiderungen entgegen zu stellen. Die alte und reizbare Frage nach dem Leid in der Welt etwa nimmt Härle folgend auf: „Wenn Gottes Wesen Liebe ist, wie kann Gott dann so viel Leid und Böses in der Welt zulassen? Gottes Liebe zeigt sich in dieser Welt nicht darin, dass er uns Leiden generell erspart und uns am Tun des Bösen hindert, sondern darin, dass er uns das Leiden zu tragen hilft, uns im Kampf gegen das Böse beisteht.“ (86. Frage)

Härle bleibt in allen Gedankengängen klassischen Begriffen und Denkmustern verhaftet. Sein Katechismus will den Leser mit tradierten Glaubenssätzen bekannt machen, diese aber verständlich in Bezug zur Lebenswelt vernetzen. Ein Beispiel sind zwei aufeinander folgende Fragen im Kapitel „Der christliche Glaube an den dreieinigen Gott“: „Was für eine lebenspraktische Bedeutung hat die Trinitätslehre? Sie gibt auf Fragen eine Antwort, die viele Menschen beschäftigen: Wo kann ich Gott finden? und: Wie kann ich Gott finden?“ und „Welche Antwort gibt die Trinitätslehre darauf? Sie sagt: Du kannst Gott dort finden, wo er sein Wesen zu erkennen gibt: in Jesus Christus; und du kannst Gott so finden, dass er sich dir durch seinen Geist zu erkennen gibt.“ (101./102. Frage)

Es tut in diesem Beitrag gut, an keiner Stelle über wohl gemeinte Dolmetscherversuche zu stolpern und mit vermeintlich modernisierten (aber letztendlich unzureichenden) Begriffen in christlichen Glaubensaussagen konfrontiert zu werden. Von Gott wird als dem „Schöpfer“ gesprochen und das Endgericht wird dezidiert genannt. Innovativ wirkt Härle nicht durch die Suche nach originellen Wortschöpfungen, sondern in der Verständlichkeit seiner Antworten. Die unveränderte Aktualität dogmatischer Aussagen für einen Menschen sticht immer wieder prägnant hervor, beispielsweise in der 174. Frage: „Welche Bedeutung hat dieses Gericht Gottes? Das Jüngste Gericht erinnert uns an die Einmaligkeit unseres Lebens und an den Ernst von Gottes Heilsverheißung.“ Darin liegt der Reiz der Vermittlungsleistung christlicher Lehrsätze in diesem Werk, gegossen in einen unserer Zeit angemessenen Wortlaut.

Was beim aufmerksamen Gang durch die Fragenvielfalt auffällt, ist eine konfessionell unierte Färbung des Katechismus. Verständlich ist das Verschweigen innerevangelischer Lehrdifferenzen in Bezug zum Abendmahl, weil der Katechismus in bewusster Kontinuität zum Heidelberger Katechismus lutherische und reformierte Impulse zu vereinen mag. Wenn allerdings die Fronten zwischen römisch-katholischem und protestantischem Verständnis im VIII. Kapitel sehr scharf kontrastiert werden (146.-150. Frage), hätte jedoch um der Komplexität willen eine weitere Tiefenschärfe der Unterschiede auf diesem Gebiet geholfen. An dieser Stelle kann nun dagegen eine romkritische Intention des Autors vermutet werden, wie sie dem konfessionellen Miteinander heutzutage nicht mehr angemessen erscheint.

Dieser Katechismus fordert vom Leser, im Spiegel dieses Werkes die eigenen Antworten nach Gott zu suchen. Er ist für eine verantwortete Verständigung von Gläubigen innerhalb des kirchlichen Lebens hin geschrieben, denn die Kirche ist „die Gemeinschaft der glaubenden Menschen untereinander. Aber sie ist vor allem Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, durch den und an den wir glauben.“ (124. Frage). Solch klare Positionen werden profiliert durch das dem Text vorgestellte Geleitwort des Vorsitzenden der Union Evangelischer Kirchen, Kirchenpräsident Christian Schad.

Diese Lektüre wird niemanden für den Glauben neu gewinnen, dieser Katechismus will den Glauben festigen, stellt es genau die Fragen von nach Klarheit ringenden Christen. Das Werk bietet die niveauvollen Sprachformeln an, um den Glauben an Vater, Sohn und Heiligen Geist einem Menschen von heute sachgerecht zu übermitteln.

 

Alexander Proksch studierte Evangelische Theologie und Sozialwissenschaften & Philosophie. Nach seinem Vikariat ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie der FAU Erlangen bei Prof. Dr. Martin Nicol tätig, er arbeitet in seiner Dissertation an einer empirisch-qualitativen Studie über Liturgische Kleidung.

 

Link zur Rezension: https://netzwerktheologie.wordpress.com/2019/01/17/rezension-wilfried-haerle-worauf-es-ankommt/

Vom Predigen. Widersprüche zu #abkanzeln

von Niklas Schleicher

 

Wir haben vor zehn Jahren erfolgreich die Idole getötet
Und jetzt hängen wir im Zuckerbergwerk, labern nur Blödsinn
Und ich weiß ihr wollt ’ne Hymne und ’ne provokante Botschaft
Doch ich stolper‘ zwischen Prediger und kollektiver Ohnmacht
Scheiß auf Jugendrebellion, ich hab‘ die Faxen dick
(Disko Degenhardt: „Der Druck bleibt“)

 

cara

Heute predige ich darüber, dass man es nicht verhindern kann, Fehler zu machen, aber dass man bei allem versuchen kann, Mensch zu bleiben, denn das ist immer gut. (@PastoraCara)

Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch zum Artikel von Hanna Jacobs (https://www.zeit.de/2018/44/religioese-reden-predigt-abschaffung-sermon-kanzel). Ich habe weder Erfahrungen im Vikariat oder im Pfarramt, noch bin ich Praktischer Theologe, der sich berufsmäßig mit der Geschichte und der Praxis protestantischer Predigt beschäftigt. Meine gehaltenen Predigten lassen sich bequem an zwei Händen abzählen. Und ja, auch ich rege mich mehr über Predigten (oder Predigtideen) auf, als dass ich diese gut finde. Also: Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch. Es wird widersprochen und widersprochen werden: @FrauAuge hat in einem Tweet-Thread differenziert darauf hingewiesen, dass man mehr Freiräume für gute Predigten braucht. Der Blog „Homilia“ hat geantwortet und die richtigen Anliegen aufgenommen. Und die niedersächsische Landessuperintendentin Petra Bahr wird diese Woche bei „Christ und Welt“ respondieren. Alles berufenere Menschen, die sich gewählter ausdrücken und differenzierter argumentieren.

Ich sollte nicht widersprechen: Selbst hier bei NThK gibt es bessere: Claudia Kühner-Graßmann ist praktische Theologin und kann sehr differenziert die Praxis religiöser Rede reflektieren. Tobias Jammerthal ist Vikar und verfügt außerdem über breites geschichtliches Wissen. Die stilistische Schärfe von Tobias Graßmann erreiche ich kaum. Und lustiger wäre der Widerspruch sicherlich, wenn ihn Julian Scharpf verfassen würde.

buiting

Heute Nacht geträumt: Priester steigt von der Kanzel und fragt anstelle einer Predigt: “ Mal ehrlich: Wie geht’s euch, Leute?“ Und dann wird erzählt. Und zugehört. Und geweint. Und umarmt. Und die Kirchentür ist geöffnet dabei. Himmelweit. Ist mein Traum irgendwo Wirklichkeit? (@HannaBuiting)

Andere müssten widersprechen. Und warum überhaupt: Folgt Hanna Jacobs nicht ganz präzise einem Trend? Hat sie in ihrer Deskription recht? Ich meine, man muss nur auf den Powertweet einer anderen Hanna, Hanna Buiting, schauen: Runter von der Kanzel und zuhören, dass ist doch das, was die Menschen brauchen. Und dann: Trage ich hier wieder persönliche Aversionen ein? Bin ich nur neidisch, dass ich nicht in der „Christ und Welt“ schreiben kann, sondern nur ab und zu mal in einem kleinen Blog meine kleinen Dummheiten in die Welt schreibe?

Nein, andere sollten widersprechen: Die Exegeten und Exegetinnen vielleicht. Sie sollten bemerken, dass die biblischen Bücher zu einem guten Teil von Reden berichten oder sogar in stilisierter Redeform abgefasst sind. Dass Jesus vor allem auch als Lehrer wirkte, als einer der sprach, ja, der auch monologisierte. Und Paulus. Und auch die Propheten. Und Mose. Sie sollten darauf hinweisen, dass die christliche Religion und ihre Wurzel, das Judentum ganz eminent auf gesprochene und verschriftlichte Rede angewiesen war. Ja: Schon im Ursprung war das Christentum eine Religion des Wortes, und das gilt auch ohne das man auf den Johannesprolog aufmerksam machen müsste.

elektropastor

@hannagelb Werde am Reformationstag die Gemeinde über Gal 5 diskutieren lassen. 30-45 Minuten, mit alkfreien Cocktails. Kurzes Minifazit am Ende mit den Ergebnissen der Leute. Leserbrief zum dk-Artikel: Ohne Predigt kein Gottesdienst. Finde den Fehler. #abkanzeln (@elektropastor)

Es sollten andere widersprechen. Die Kirchengeschichtler und Kirchengeschichtlerinnen bestimmt. Mit Luther zum Beispiel. Denn freilich: Reformation war ein Medienereignis. Der Buchdruck und die Bibelübersetzung waren wichtig. Aber durch welche Schriften wurde Luthers Lehre verbreitet? Was war das, was wirkte? Es waren: Predigten. Entweder gehaltene oder eben: Gedruckte. Aber es waren Predigten. Klar, Luther ist vorbei. Aber danach Schleiermacher und seine Reden. Oder im Kirchenkampf. Oder. Oder.

knuuut

Jede Predigt muss bis 2021 auf einen Bierdeckel passen. #abkanzeln (@knuuut)

Oder möglicherweise die Dogmatiker oder Dogmatikerinnen: Sie sollten darauf hinweisen, was in der Schrift zur Rechtfertigungslehre der EKD (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2014_rechtfertigung_und_freiheit.pdf) nochmal deutlich hervorgehoben wurde: Es sind eben nicht nur vier reformatorische Exklusivpartikel (gratia, fide, christus, scriptura), sondern fünf. Solo verbo: Das zugesprochene, ja, eben auch das verkündigte Wort ist es, so Gott und sein Geist will, das den Sünder in die Gnade ruft. Vielleicht müsste der Dogmatiker oder die Dogmatikerin auch sagen, dass hier bei Hanna Jacobs der Rahmen des lutherischen Bekenntnisses, wenn nicht verlassen, so doch wenigstens herausgefordert ist. Aber gut, möglicherweise ist das auch altertümlicher Blödsinn und heute muss es anders gedacht werden.

Aber vielleicht widersprechen auch die praktischen Theologen und Theologinnen und machen deutlich, dass die Predigt eben auch ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation des Evangeliums ist. Ich weiß nicht, vielleicht irre ich mich, aber die Homiletik als Teildisziplin ist eine, die einen relativ hohem Innovationsgrad hat. Sei es szenisches Predigen oder die Semiotik. Vieles Neue findet den Einlass in die Praktische Theologie und damit auch in die Theologie als Ganzes über den Trichter der Homiletik.

gayk

Statt einer Predigt gab es heute eine Frage: Was gibt dir Kraft? #abkanzeln (@julegayk)

Nun ja, das sind alles fachwissenschaftliche Debatten. Dann sollten vielleicht die Pfarrer und Pfarrerinnen widersprechen. Sie müssten sagen, dass Sie sich der Abständigkeit vieler Predigttexte durchaus bewusst sind, ja daran auch oft fast verzweifeln, aber Sonntag für Sonntag, Predigt für Predigt ihr Bestes geben, um das, was diese Texte auch in der (Post/Spät/Wasauchimmer-)Moderne dem Hörer oder der Hörerin bedeuten kann, auszulegen.

Es geht im Artikel ja aber um die Menschen, vielleicht müssten diese, die Menschen, die Sonntag für Sonntag im Gottesdienst sitzen, widersprechen. Sie müssten sagen: Woher, im Namen des Allmächtigen, weißt du denn, was meine Fragen sind? Glaubst du, nur weil du deine Probleme kennst, kennst du auch meine? Oder Sie müssten sagen: Nur weil du die Predigt, ja selbst deine Predigt nicht gut findest, weißt du noch gar nicht, was Sie in diesem Moment für mich bedeutet. Sei es, weil es für mich eine Tradition ist. Sei es, weil mich diese Auslegung trifft. Sei es, weil mich nur ein Satz berührt.

marthori

Mir spricht das aus dem Herzen, weil ich mich längst von der Predigt verabschiedet habe. Ich gehe kaum noch in Gottesdienste – vor allem wegen der Predigt. Ich ertrage sie einfach nicht mehr. (@marthori)

Oder sie müssten sagen: Klar, wenn ein Pfarrer von der Kanzel steigt und fragt, wie es geht, ist schön. Aber kann es sein, dass dann eh nur die gleichen reden? Oder dass ich vielleicht in diesem Moment nichts zu sagen haben, nicht reden will oder reden kann, sondern einfach nur hören will. Vielleicht Zuspruch, Aufmunterung oder auch Ermahnung brauche?

Vielleicht müssten Sie widersprechen und sagen: Klar, es ist die konkrete Person, um den es im Protestantismus geht, aber die konkrete Person ist eben nicht nur eine Pfarrerin in einem neuen Gemeindeprojekt in einer deutschen Großstadt, sondern auch der Rentner, die Küsterin, der Konfirmand oder ich. Und vielleicht, ja vielleicht, geht es eben auch manchmal um mich und nicht nur um Pioniere und Wanderer und Raumschiffpiloten.

jacobs

Für meinen Glauben brauche ich regelmäßig Predigten. [Umfrage] #abkanzeln (@hannagelb)

Irgendwie so, aber viel besser und differenzierter müssten es die klugen Menschen sagen. Sie werden, wenn sie es tun,  es differenziert und in Aufnahme der wichtigen und klugen Punkte sagen, die Hanna Jacobs anspricht. Ich nicht. Ich würde sagen: Wer die Abschaffung der Predigt fordert und denkt, dass er so eine protestantische Position vertritt, hat nicht Recht. Ich würde auch sagen: Wer so begründet wie im Artikel, stellt nur das eigene in den Fokus der Überlegungen und vergisst, dass es in der Kirche um mehr als nur mich und meine Richtigkeiten geht. Er sagt ein bisschen sehr viel „Ich“, auch wenn er denkt, dass es ihm immer um das „Du“ geht. Möglicherweise müssten wir nochmal darüber nachdenken, was das eigentlich heißt und von mir fordert, dieses „Kirche“. Aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.

Rezension zu „Mein Kampf“ – historisch-kritische Edition

von Niklas Schleicher, München

Christian Hartmann u.a.(Hgg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Berlin 2016.

Kaum ein Projekt zeitgeschichtlicher Forschung hat in den letzten Jahren so für Aufsehen und Aufregung gesorgt wie die Ankündigung und Durchführung einer kritischen Edition von Hitlers „Mein Kampf“. Das Buch, an dem 2016 der Freistaat Bayern die Rechte verlor, sollte zunächst mit Unterstützung von Staatsgeldern erscheinen. Dann wurde allerdings die Förderung gestrichen und das Institut für Zeitgeschichte finanzierte das Projekt aus eigenen Geldern.

Im Januar 2016 erschien schließlich das Buch, ebenfalls begleitet von großer medialer Beachtung. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung stellen sich drei Fragen: Ist die Edition gelungen? Und: Verschafft diese Veröffentlichung dem Buch eine Aufmerksamkeit, die es nicht verdient hat? Kurz: Ist der Aufwand angemessen?

Für eine Rezension auf nthk.de ist noch zusätzlich zu begründen, wieso das Buch ein Thema theologischer Beachtung sein sollte. Auf diese Frage wird nebenher eingegangen.

Formales zur Edition

Die Edition ist in zwei großformatigen Bänden (DIN A4) mit insgesamt knapp 2000 Seiten erschienen. Der Haupttext ist, eingeführt durch ausführliche Vorworte und sehr detaillierte Einführungen, in Doppelseiten so aufgebaut, dass auf der jeweils linken Seite der Text aus „Mein Kampf“ steht, der auf der gleichen Seite und auch auf der gesamten rechten Seite von Erklärungen, die sich per Fußnotenanker auf einzelne Passagen im „Obertext“ beziehen, „eingerahmt“ ist. Die Herausgeber haben sich dabei, (vielleicht nur auf den ersten Blick) etwas zynisch auch an Talmud-Ausgaben orientiert (S. 75). Diese Anmerkungen widmen sich vor allem der inhaltlichen Kommentierung, auf eine kleinteilige textkritische Auseinandersetzung verzichtet die Edition. Zwar werden einige wenige Varianten zu späteren Ausgaben aufgezeigt, kommentiert werden diese jedoch nur bei inhaltlicher Relevanz. Kurz: Eine kritische Edition ist hier ganz umgangssprachlich zu verstehen: Hitler soll kritisiert werden.

Inhaltliches

Was ist damit gemeint? Nun: Die Herausgeber setzen sich für ihre Kommentare zehn Kategorien, die erreicht werden sollen (S. 53-67):

1. Prüfung und Korrektur biographischer Angaben

2. Nachweis von ( Hitlers Quellen und…

3. … ideengeschichtlicher Wurzeln

4. Berichtigung sachlicher Fehler

5. Zeitgenössische Kontextualisierung

6. Erläuterung zentraler ideologischer Begriffe

7. Sachinformation

8. Korrektur einseitiger oder falscher Darstellungen

9. Nachweis von Überschneidungen und…

10. …Abweichungen von der nationalsozialistischen Politik nach der Machtergreifung.

Das Ziel ist offensichtlich: „Mein Kampf“, dass ja bekanntermaßen als Mischung aus Biographie, wissenschaftlicher Abhandlung und Programmschrift auftritt, soll konsequent entzaubert werden, indem den Vorstellungen und Aussagen Hitlers auf sachlicher Ebene entgegengetreten wird. Genauso soll aber auch gezeigt werden, wo und inwieweit Hitler gewisse Informationen oder Stimmungen, die zu seiner Zeit en vouge waren, aufnimmt und für sein Werk, teilweise durchaus kreativ, einvernahmt.

Die Kommentare sind (bis auf manche Einseitigkeiten – dazu später mehr) auf durchweg hohem Niveau und erreichen teilweise den Umfang von kleinen Abhandlungen. Auch dank des sehr umfangreichen Registers lassen sich die Kommentare so auch als Ideengeschichte des nationalsozialistischen Gedankenguts lesen, gerade wenn man bedenkt, dass Hitler in seiner Schrift einen Großteil des leitenden Gedankenguts im nationalsozialistischen Deutschland wenigstens anschneidet.

Ausführlich erklärt wird beispielsweise die Genese von Hitlers Vorstellung, dass die Sozialdemokratie vom Judentum kontrolliert wird- Die Vorläufer und Mitstreiter seines Hasses auf die Demokratie und den Parlamentarismus werden ebenfalls ausführlich vorgestellt. Ein Beispiel für die Art der Kommentierung sei hier noch gegeben. Hitler schreibt über das Judentum (S.229):

„Sollte diesem Volke, das ewig nur dieser Erde lebt, die Erde als Belohnung zugesprochen werden“?

Der Kommentar (S.228) dazu geht auf die Vorstellung des materialitischen Judentums ein:

„Der Vorwurf, die jüdische Religion sei materialistisch und ihr mangle es an Transzendenz, war ein Stereotyp, das Autoren wie Dietrich Eckart oder Theodor Fritsch verbreiteten, wobei sich Fritsch wiederum auf Arthur Schopenhauer berief. Der antisemitische bayerische Heimatdichter Franz Schrönghamer-Heimdal behauptete, die jüdische messianische Idee sei mit der ‚irdischen Weltherrschaft Alljudas‘ identisch. Hintergrund war die nicht dogmatisch festgelegte Jenseitsvorstellung im Judentum, die teils von einer körperlichen Auferstehung der Toten in Verbindung mit einem Gericht Gottes ausgeht, teils von einer Unsterblichkeit der Seele. Neben der Behauptung, die Juden seien ausschließlich am Materiellen orientiert, existierte unter Antisemiten auch die Wahnvorstellung, die Juden würden nach der Seele der Nichtjuden gieren. Die stete jüdische Berufung auf den Verstand führe, so die antisemitische Vorstellung, zur Abwendung vom kulturellen Erbe, von der ‚Volksart‘ und schließlich zur ‚Selbstvernichtung‘. Der Gegenentwurf war die Idee, nicht das Judentum, sondern die Deutschen seien das ‚auserwählte Volk‘ – eine Vorstellung, die sich vor allem während des Ersten Weltkriegs verbreitete; Werner Sombart etwa bezeichnete in seiner einflussreichen Streitschrift Händler und Helden (1915) die Deutschen als ‚Gottesvolk‘. Hitler behauptete einerseits, dem Judentum fehle ‚jede metaphysische Religionsvorstellung‘ ‚seine Religion ist krasser Materialismus‘; andererseits lehnte er die christlichen Jenseitsvorstellungen kategorisch ab.“

Der jeweilige Kommentar wird durch einzelne Literaturhinweise abgeschlossen. Etwas ärgerlich ist allerdings der grobe Umgang mit den Themen, die den Protestantismus und im Besonderen das Luthertum betreffen. Hier hätte man sich durchaus gewünscht, dass die Bearbeiter etwas mehr Sorgfalt hätten walten lassen. So ist z.B. die Darstellung der Zwei-Regimenter-Lehre sehr oberflächlich; dass Luther selbst schon zwischen zwei Reichen unterscheidet, ist zumindest erklärungsbedürftig, sind es doch vielmehr zwei Regimente, also Regierweisen, die er differenziert. Sehr schade ist auch, dass von Luther eigentlich nur die Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ herangezogen wird. Das er in einer früheren Schrift (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1523) ganz anders vom Judentum handelt und es deshalb auch in seinem Denken Differenzierungsmöglichkeiten gibt, unterschlagen die Bearbeiter, obgleich hierzu während der Erarbeitungszeit der vorliegenden Edition mehrere wertvolle und öffentlich rezipierte Arbeiten publiziert wurden. Als Beispiel sei hier nur auf „Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung“des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann hingewiesen.

Dies ändert allerdings kaum etwas am ausgezeichneten Gesamteindruck, den diese Edition beim Lesenden hinterlässt. Den Herausgebern ist neben der sachlichen Kommentierung quasi eine Einführung in die Ideegeschichte des „Dritten Reiches“ gelungen. Dieser letzte Aspekt ist es auch, der – um etwas zum Wert dieser Edition zu sagen – hervorgehoben werden muss. Es gibt natürlich auch andere und zum Teil deutlichere Schriften, welche die Ideologie des „Dritten Reiches“ präsentieren. Jedoch: Keine ist von einem ähnlichen Nimbus umgeben und wird deshalb so auf öffentliches Interesse stoßen. Deshalb ist es bei keiner Schrift notwendiger, dass sie konsequent historisiert und im Rahmen ihres Entstehungskontextes und ihrer Wirkungsgeschichte erklärt wird.

Das dies auch von kirchen- und theologiegeschichtlichen Interesse ist, ist evident, gerade wenn man bedenkt, welche Theologen in den 30er Jahren Anhänger oder aber Gegner des Nationalsozialismus waren und man bei vielen durchaus davon ausgehen kann, dass sie „Mein Kampf“ direkt oder indirekt rezipiert haben. Wie diese sich dann in ihrem theologischen Werk mit der Ideologie des Nationalsozialismus auseinandergesetzte haben, ist auch heute noch von Interesse, zeigt es doch wo und inwiefern der Protestantismus zumindest in Teilen anfällig für oder widerständig gegenüber ideologische/r Ausdeutung ist.

Theologische Biographien – 5: Martin Luther

von Tobias Stäbler, Jena

Rezension zu: Armin Kohnle: Martin Luther. Reformator, Ketzer, Ehemann, Holzgerlingen/Leipzig 2015.

Das unwiederbringlich Unzeitgemäße aufzuzeigen, das maßlos ungeschichtliche Erinnern abzuwehren, und anzuschreiben gegen die magnetische Unfähigkeit, eine polarisierende Figur auszuhalten — das ist die erklärte Absicht dieser großformatigen, in großzügigem Satzspiegel zweispaltig gesetzten Einführung in Leben und Werk Martin Luthers.

Armin Kohnle, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, schreibt die Geschichte der Lutherbiographien nicht etwa mit einem eigenen Entwurf fort, eine markante These sucht man in diesem Buch vergebens. Er schreibt vielmehr in die umgekehrte Richtung: kritisch gegen die spekulativen Wucherungen und verklärenden Irrlichter nationalistischer und hagiographischer Lutherdeutungen. Und das gelingt ihm mit vorzüglicher historisch-kritischer Vernünftigkeit ohne ikonoklastisches Auftrumpfen oder Defätismus. Sein Stil ist immer flüssig und klar, weder zu komplex noch banal, wie es einer Einführung für interessierte Laien und für Studenten im Grundstudium ansteht.

Schon formal hebt sich dieses Buch gegenüber den zahlreichen Lutherbiographien der letzten Jahre ab: zahlreiche großformatige Abbildungen illustrieren das Geschriebene. Es fällt auf, dass ein Großteil dieser — ihrerseits erzählenden — Abbildungen aus dem 19. Jahrhundert stammt. Aus einer Zeit also, als man eine ganz eigene Lebensgeschichte des Reformators zu erzählen bestrebt war. Interessanterweise tut sich dadurch ein Kontrast auf zwischen diesen erhabenen Vorstellungen von Luthers Leben und Kohnles Darstellung, die gegen eben solche „Vorstellungen“ anschreibt. Diese Differenz ist auf vielen Seiten zu greifen und erscheint als ein Beweggrund, aus dem heraus Kohnle seine Leitfragen gewinnt. Fraglich ist freilich, ob dieser subtile Dialog zwischen Text und Abbildungen dem Leser hinreichend deutlich wird. Erläuternde Kommentare oder ausführlichere Bildunterschriften wären zumindest hilfreich gewesen.

Um die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Einführung zu erfassen, kann man sich am Untertitel des Buches orientieren: „Reformator, Ketzer, Ehemann“. Bereits diese drei Stichworte verdeutlichen die drei ineinander geblendeten Perspektiven sowie die Absicht der Darstellung: Luther kommt zunächst als Reformator in den Blick. Leitfrage ist hier, wie und vor allem wann Luther zum Reformator wurde. Entschieden wendet sich Kohnle gegen ätiologische Linearisierungen und Determinierungen der Biographie ex post; er verhandelt zwar die Frage nach der Historizität des Thesenanschlags und die nach einer „reformatorischen Wende“, vermeidet aber eindeutige Datierungen und verweist überdies auf die Unerheblichkeit einer Antwort für die geschichtliche Bedeutung Luthers.

Eng zusammen hängt damit die zweite Perspektive auf Luther als „Ketzer“. Der Autor betont die kirchliche, theologische, religiöse Gemengelage der frühen Reformationszeit, um dem noch immer populären Vorurteil zu wehren, Luther habe die Abspaltung einer evangelischen Kirche intendiert.

Der dritte Blickwinkel auf Luthers Leben – Luther als Ehemann – fällt asymmetrisch gegenüber der kirchen- und theologiegeschichtlichen Betrachtungsweise ab und wird sowohl beiläufig, als auch in einem eigenen zehnten Kapitel abgehandelt. Die Rekonstruktion von Luthers Privatleben bedient aber keineswegs biedere Klatschgelüste. Im Gegenteil: diese Stellen dienen einem doppelten argumentativen Zweck. Einerseits veranschaulichen sie wiederum die Zeitgebundenheit Luthers, auf die es Kohnle ankommt; andererseits reagieren sie auf populäre Missverständnisse und Zerrbilder, die man gewinnen könnte, kennt man Luther nur von markigen Aussprüchen, Aphorismen und Kalendersprüchen her.

Doch wie arrangiert Kohnle die historischen Fakten unter diesen drei Gesichtspunkten?

In 14 Kapiteln verfolgt Kohnle den Lebensweg Luthers. Zeitgeschichtliche Panoramen, Aufklärung von Hintergründen erfordern Brüche und Verzögerungen der Chronologie. Immer aber ist die Darstellung stringent, verliert sich nicht in Mannigfaltigkeit der möglichen Bezüge. Die Gliederung erscheint über weite Strecken konventionell und wohl temperiert, erinnert stark an den Aufbau einer kirchenhistorischen Überblicksvorlesung zur Reformationsgeschichte. Man muss folglich auf die Proportionen der Kapitel achten, um die Besonderheiten dieser Einführung in Luthers Leben und Wirkung zu erheben.

Das erste Kapitel führt umfassend in die zeitgeschichtlichen Umstände ein; Kapitel zwei bis vier heften sich dicht an die persönliche Entwicklung des jungen Luther. Mit dem fünften Kapitel („Die Entdeckung des Evangeliums“) wird die Darstellung vielschichtiger, verliert an Tempo, gewinnt aber an theologischer Tiefe. Denn hier steigt Kohnle ein in die Kontroversen um ein Proprium reformatorischer Theologie, näherhin um Entwicklung und Koordinatensystem der „Theologie Luthers“. Programmatisch eröffnet Konhle dieses Kapitel mit dem Grundsatz, wonach „Luthers theologische Entwicklung […] nicht von seiner Biografie und auch nicht vom zeitgeschichtlichen Kontext gelöst werden [kann].“ (S. 60) Kohnle enthält sich aller Systematisierung; vorsichtig spricht er von der Rechtertigungslehre als einer „Zentralerkenntnis“ (S. 63) und benennt Grundunterscheidungen (vgl. S. 66).

In den folgenden Kapiteln sechs bis neun verbreitert Kohnle das Blickfeld; Luther wird als „Teamplayer“ im Kreise der Wittenberger Theologen beschrieben, die politischen Strukturen und Entwicklungen (Reichstage, kursächsische Religionspolitik) werden skizziert, die vielfachen Fronten der Wittenberger Theologie werden abgesteckt.

Aus dieser reichs-, ja in ihrer Wirkung weltgeschichtlichen Totale, zoomt das folgende Kapitel hinein in das häusliche Familienleben Luthers. Der streitbar-epochale Theologe erscheint in Zimmergröße; es geht, natürlich, um Katharina von Bora, den berühmten Haushalt in Wittenberg, aber auch um Luthers Verhältnis zu seinen Kindern. Kohnle liefert allerdings keine anekdotische Befriedigung nachbarschaftlicher Neugier und Lust am Einblick in die kleinen Sorgen eines großen Mannes. Gerade dieses Kapitel verdeutlicht die Geschicklichkeit, mit der Kohnle sich der Person Luthers annähert und mit der er sich dann auch distanziert.

Nach einem kurzen, diastolischen Panorama der politischen (Kap. 11) und sozialen (Kap. 12) Entwicklungen der Reformation kehrt die Darstellung systolisch zurück zum alten, verhärteten Luther und seinen Feindbildern (Kap. 13) von Täufern, Türken, Juden, Papst und vielen anderen. — Feindbilder, die er in ihrer biographischen Entstehung, Veränderung und Widersprüchlichkeit erklärt. Kohnle bettet den vor Enttäuschung wütend gewordenen Luther ein in die Verhältnisse seiner Zeit und versucht abschließend eine ausgewogene Würdigung auch seiner feinfühligen Seiten (vgl. S. 197).

Der Schritt zum letzten Kapitel, einer Rekonstruktion der Monumentalisierung Luthers im Laufe der deutschen Erinnerungsgeschichte, ist entsprechend klein. Luthers Biographie über seinen Tod hinaus auszudehnen erscheint angesichts der Feierlichkeiten 2017 überaus sinnvoll. So sehr der Autor die Art und Weise der Erinnerung Luthers kritisiert, so entschieden hielte er es für fatal, Luther vergessen zu machen. – Die neurotische Forderung eines unhistorischen Zwangsaktualismus mancher evangelischen Christen, dem Kohnle eine „verantwortungsvolle Geschichtsschreibung“ (S. 214) entgegensetzt, wie er sie in dem hier besprochenen Band exemplarisch vorführt. Und was bedeutet das für die Beschäftigung mit Luther? Es bedeutet erstens, Luther in seinem Kontext zu verstehen, d.h. nicht von seiner Wirkungsgeschichte her. Es bedeutet zweitens, „Zeitbedingtes und zeitlos Gültiges zu unterscheiden“ (S. 214f.). Und zeitlos Gültiges, so der Autor, gebe es bei Luther allemal, und deshalb dürfe, ja müsse man sich auf Luther auch heute noch berufen. Mit dieser klaren These schließt das Buch. Ein Buch, mit welchem dem Autor eine historiographische Abkühlung des Treibhausklimas konfessioneller, nationalprotestantischer oder geschichtsvergessener Lutherdeutungen gelungen ist. – Im besten Sinne eine Hinführung also nicht nur zu Luther, sondern dank Exkursen, Infokästen, Karten, Grafiken, Zeitstrahl, Literaturempfehlungen und Glossar auch eine moderate Einführung in die Reformationsgeschichte.

Tobias Stäbler (Dipl.-Theol.), geboren 1988, hat Evangelische Theologie in Tübingen, Jerusalem und Jena studiert. Derzeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert dort bei Prof. Dr. Christopher Spehr über das Gebet im frühen Luthertum.

How to become a Lutheran – Lutheraner in 9,5 Schritten

von Tobias Graßmann

Das Reformationsjubiläum 2017 naht und auch unser Netzwerk kann diese Sache nicht länger totschweigen – ungeachtet dessen, dass für all die guten Lutheraner, die jeden Tag mit dem Morgensegen des großen Reformators auf den Lippen beginnen, sowieso immer Reformationsjubiläum ist.

Denn es ist zu vermuten oder jedenfalls nicht auszuschließen, dass sich da draußen der ein oder die andere fragt: Ich würde bei dieser großen Protestantensause (sic!) ja gerne mitfeiern, aber muss man dafür nicht Lutheraner sein? Ist das nicht schrecklich kompliziert und anstrengend, so wie dieser Protestantismus immer beschrieben wird? Was muss ich denn tun, um unter Lutheranern nicht weiter aufzufallen?

Um allen katholischen Schwestern und Brüdern, interessierten areligiösen Zeitgenossen oder auch diesen unierten EKD-Protestanten, die gar nicht so recht wissen, welche Konfession sie noch einmal hatten, aus dieser misslichen Lage zu helfen:

Hier kommt, mehr als rechtzeitig für Refo2017, ein kurzes „How to become a Lutheran“ aus der Feder des lutheranus vindelicus.

1. Sei Pessimist!

Ein guter Ausgangspunkt ist, sich wie Luther ein negatives (sprich: realistisches) Weltbild und das dazu passende Menschenbild zuzulegen. Die Welt wird regiert von undurchsichtigen Mächten, in die wir alle irgendwie mit verstrickt sind. Na klar, der Mensch ist schließlich von Grund auf Sünder! Das bedeutet: Selbst die Besten unter uns sind radikal unfähig, mit Gott, sich und den lieben Mitmenschen im Reinen zu sein. Kein Wunder, dass in der Geschichte kein Fortschritt zu beobachten ist, sondern eher eine Wellenbewegung bei grundsätzlich negativem Vorzeichen. Lange Zeit galt so ein pessimistisches Weltbild als total altmodisch. Passend zum Reformationsjubiläum ist es heutzutage wieder voll angesagt!

2. Mut zur Sprachgewalt!

Irgendein Schöngeist hat Luthers Sprache mal als „muskulös“ bezeichnet. Darin sollte man dem Reformator unbedingt nacheifern! Gönne dir eine emotionale, bildgewaltige, mal blumige, mitunter derbe, in jedem Fall überschwängliche Sprache. Bürokratendeutsch und Pädagogensprech statt flammenden Reden – leider auch in evangelischen Kirchen Alltag. Aber Rhetorik ist kein Verbrechen, sondern der Grund, weshalb Leute dir gebannt zuhören! Also: Echte Lutheraner klingen wie Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann oder meinetwegen auch Haftbefehl. Nicht wie der Beipackzettel einer Kopfschmerztablette!

3. Denke theologisch radikal!

Was für die Sünde und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen gilt, passt eigentlich immer: Gottes Allwirksamkeit, Gottes Freiheit, seine Gnade, seine Selbsterniedrigung am Kreuz. Die Unfehlbarkeit der Schrift. Den Ernst des Todes und das Nichts. Denke alles, was mit Gott zu tun hat, möglichst radikal und bis zum bitteren Ende. Denke unbedingt bis dorthin, wo das Denken über Gott vor lauter Radikalität weh tut! Ergreife nicht zu schnell die Flucht vor diesem Schmerz. Lutheraner nennen das Anfechtung…

4. Sei inkonsequent!

Jetzt könnte man meinen: So radikales Denken muss doch zwangsläufig zu unmenschlichen Konsequenzen führen! Das ist weit gefehlt. Denn typisch lutherisch ist vielmehr, erst radikal zu denken – und dann eben herrlich inkonsequent zu sein! Beides gehört zusammen. So weit, so inkonsequent! Man hat dem Luthertum oft vorgeworfen, mit der Reformation auf halber Strecke halt gemacht zu haben. Na und wenn schon? Wer hat eigentlich den Unsinn in die Welt gesetzt, Inkonsequenz sei ein Problem? Der Typ (sicher ein Mann!) muss Katholik oder Calvinist gewesen sein! Ein konsequenter Gott hätte uns alle längst in die Hölle gestoßen! Inkonsequenz ist barmherzig, flexibel, sympathisch, menschlich.

5. Wisse, was unverhandelbar ist!

Die Inkonsequenz findet dabei wiederum ihre Grenze bei den wenigen Grundsätzen, die schon für Luther schlechthin unverhandelbar waren (ist das jetzt inkonsequent?). Ein Lutheraner muss wissen, wohin er sich in der Anfechtung flüchten darf, wo es für ihn ums Ganze geht und wo er sich im Zweifel auf sein Gewissen berufen muss. Dabei ist vor allem Jesus Christus wichtig und die Botschaft, dass Gott uns Sünder allein aus Gnade annimmt. Das darf man nie ganz aus dem Blick verlieren. Sonst drohen Fundamentalismus und Werkgerechtigkeit – das, wovor man sich als Lutheraner am meisten fürchten sollte.

6. Suche den Mittelweg!

Wie nahm Luther seine Welt wahr? In etwa so: Rechts lauert der Papist, links wüten die Schwärmer. Fühle dich ein in den typisch lutherischen Zweifrontenkampf. Diese Denkfigur lässt sich eigentlich auf jedes Problem anwenden. Also meide die theologischen, politischen und moralischen Extreme! Vergiss nie, dass man auf zwei Seiten vom Pferd fallen kann! Suche den Mittelweg und gehe ihn! Im Zweifelsfall wähle einen Schlingerkurs. (Vorsicht: Manche Lutheraner meinen, wo auch immer sie gingen, sei automatisch die Mitte. So einfach ist es natürlich nicht!)

7. Werde Lutherfan!

Pünktlich zum Reformationsjubiläum melden sich viele kluge Leute, die mal voll kritisch nachfragen wollen: „Wieso eigentlich immer nur Luther? Oekolampard und Argula von Grumbach sind doch auch total wichtig!“ Das mag stimmen. Aber dass es noch viele spannende Theologinnen und Theologen zu entdecken gibt, bedeutet ja nicht, dass sich die Beschäftigung mit Luther nicht lohnen würde. Ja, es lohnt sich auch heute noch, Luther zu lesen! Wer Luther liest, findet das Großartige und das Absonderliche, das Überragende und das Abgründige auf engstem Raum – versprochen: Man langweilt sich nicht! Luther ist einfach ein total spannender Theologe.

8. Ach, und vergiss Luther!

Sicher, man sollte mit Luther und seinem Werk gelassen umgehen. Nichts ist unlutherischer, als Luther zum Heiligen erheben zu wollen. Natürlich entstammt sein Denken einer fremden Zeit und manches war auch damals schon echt schräg. Picke dir raus, was dich überzeugt! Das machen alle Lutheraner so. In einem selbstkritischen Moment hat Luther einmal gesagt, dass eigentlich nur seine beiden Katechismen und seine Streitschrift „Vom geknechteten Willen“ wirklich von bleibendem Wert seien. Ironischerweise sind gerade bei der Schrift zur Willensfreiheit nur die wenigsten Lutheraner seinem Urteil gefolgt.

9. Und was ist mit der Bibel?

Luther las die Bibel mehrmals jährlich durch, er soll sie in weiten Teilen auswendig gekannt haben. Wow! Dank der Suchfunktion von http://www.die-bibel.de und guter Nachschlagewerke ist eine so überragende Schriftkenntnis heute nicht mehr ganz so wichtig. Aber es schadet trotzdem nicht, die Bibel immer wieder mal zur Hand zu nehmen! Man muss schließlich wissen, wonach man googlen will! Keine Sorge, ein paar Jesusgeschichten zu kennen macht noch keinen zum Fundamentalisten. Und wer die restlichen Ratschläge treu befolgt (v.a. 4. – 6.) ist gegen Fundamentalismus sowieso immun.

9,5. Geheimtipp: Glaube kommt durch das Ohr!

Neben der Bibel hat Luther auch die Musik sehr geschätzt! Das zieht sich bis heute durch: Lutheraner sind in der Regel sehr stolz auf ihr Liedgut von Paul Gerhardt bis Clemens Bittlinger. Jede und jeder, der sich ein bisschen mit dem evangelischen Gesangbuch beschäftigt, versteht warum: Vieles, was sich zuerst einmal sehr komisch anhört, klingt total überzeugend, wenn man es aus voller Brust schmettert: „Oh Haupt voll Blut und Wunden…!“ „Und wenn die Welt voll Teufel wär …!“ „Ịns Wasser fällt ein Stein …!“ Unbedingt ausprobieren! (Das geht am besten in der Gruppe. An vielen Orten treffen sich Lutheraner Sonntag Vormittag, um gemeinsam zu singen, zu beten, Bibeltexte zu hören. Warum da nicht einmal vorbeischauen?)

Du siehst: Lutheraner zu werden ist gar nicht so schwer! Bis zum Reformationsjubiläum ist noch mehr als genug Zeit…

 

Theologische Biographien – 4: Paul Althaus

von Claudia Kühner-Graßmann, Würzburg

Gotthard Jasper: Paul Althaus (1888-1966). Professor, Prediger und Patriot seiner Zeit, Göttingen 22015.i

Gotthard Jasper, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und dort langjähriger Rektor, legte 2013 eine ungewöhnliche Biographie zu Paul Althaus vor. Ungewöhnlich zunächst, weil er als Politikwissenschaftler sich einem Theologen widmet. Eigenen Angaben nach wurde ihm die herausragende Bedeutung Althausʼ im Zuge seiner Recherchen zur Universitätsgeschichte Erlangen anlässlich der 250-Jahr-Feier bewusst. Darüber hinaus bot Althaus Jasper die Möglichkeit, sich seinem eigenen Vater, einem ebenfalls aus der Erweckungsbewegung stammenden Pfarrer der gleichen Generation, zu nähern.

Ungewöhnlich ist auch, wie der Autor Althausʼ Verhalten im Nationalsozialismus analysiert und aufarbeitet – jenseits der gewöhnlichen Gegenüberstellungen und vereinfachenden Schubladen. Die Darstellung profitiert hier gerade davon, dass sie von einem Nicht-Theologen verfasst wurde. Jasper entgeht damit der in der Nachkriegszeit besonders vom Barthianismus vorangetriebenen moralisierenden Vermischung von Theologie und Politik – natürlich auch stets zum Schutz des ‚Helden‘.

Althausʼ Haltung zum Nationalsozialismus, sein Verhalten während des sog. Dritten Reiches und die Aufarbeitung nach dem Krieg bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Biographie. So laufen die Darstellung seiner Herkunft, der prägenden Traditionen und Erlebnisse im ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik darauf hinaus, diese Haltung plausibel zu machen (vgl. etwa 391).

Jasper zeichnet zunächst das Milieu nach, in dem Althaus aufwuchs. Er entstammt einer Pastorendynastie, sein Vater, Paul Althaus (1861-1925) war ebenfalls Theologe und entstammte der lutherischen Erweckungsbewegung. Er war dem Sohn ein großes Vorbild, was sich nicht nur in der theologischen Positionierung, sondern auch in der engen Verbindung von Professur und Predigtamt zeigt. Jasper stellt hier also – und das kann vermutlich stellvertretend für dieses Milieu in jener Generation gelten – das Bild eines jungen Mannes dar, „aufgewachsen im vaterländischen Stolz nach der Bismarckʼschen Reichseinigung, geprägt durch den christlichen Geist eines lutherischen Pfarrhauses aus dem Umfeld der niedersächsischen Erweckungsbewegung, dessen tiefe Frömmigkeit sich mit einer großen Weite des Horizontes und der Interessen für Kunst und Kultur – Althaus hätte damals wohl gesagt: für deutsche Kunst und Kultur – verbindet“ (32).

Ausführlich schildert der Autor Schul- und Studienzeit sowie anschließend die Erlebnisse während des ersten Weltkrieges. Althaus verbrachte den Krieg nicht direkt an der Front, sondern in vornehmlich friedlichen Regionen.ii Den Krieg betrachtete er als „legitimes Mittel des aufgegebenen Ringens der Völker um ihr Leben und die Verwirklichung ihrer Gaben“ (70). Erkennbar ist hier das Geschichtsbild, das er während seines Geschichtsstudiums vom Neo-Rankeaner Max Lehmann vermittelt bekam: jedes Volk habe seine Gabe und seine Aufgabe, für die es im Notfall auch zu kämpfen habe.iii Die Problematik dieser Auffassung zeigt Jasper deutlich:

„wer die Völker und Nationen als Teile der Schöpfungsordnung begriff, für den lag die Versuchung nahe, in diesen politischen Aktionen Bismarcks den Vollzug des göttlichen Willens zu erkennen. Das prägte die im Kaiserreich aufgewachsene Generation, zu der Althaus gehörte. Die politische Problematik, die in der Verabsolutierung des Volksbegriffs und in der Übertragung des Rankeschen Gleichgewichts-Modells der europäischen Großmächte auf die Weltpolitik lag, war den Zeitgenossen nicht bewusst. Diese Erkenntnis wuchs im Grunde erst nach 1945“ (71).

Nationale, patriotische Töne sowie eine deutliche Kriegsbejahung sind also deutlich vernehmbar. Dennoch, so hält Jasper fest, war Althaus das „Nichtaufgehen des Religiösen im Nationalen“ (79) bewusst. Die Ereignisse im November 1918 lösten daher einen tiefen Schock aus. Seine Deutungen der Nachkriegszeit sind ausgezeichnet durch ein „Ineinander von Politik und Theologie, von Wissenschaft und Kirche, von beruflicher Karriere und Familienglück“ (89), die Jasper scharf konturiert und ausgiebig nachzeichnet. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass der Autor Althaus im Kontext seines Milieus und seiner Frömmigkeit betrachtet.iv

Aber auch die persönlich-familiären Ereignisse sowie den beruflichen Werdegang jener Jahre nimmt Jasper genau in den Blick und bietet so auch einen interessanten Einblick in die zeitgenössische akademische Welt. Den beruflichen Höhepunkt bildet dabei Althausʼ Berufung 1925 nach Erlangen, wo er der Fakultät zusammen mit Werner Elert zu einer zweiten ‚lutherischen Blüte‘ verhalf. Präsent bleibt dabei aber immer die Schmach der Niederlage des Ersten Weltkriegs. So verwundert es nicht, dass Althaus den Ereignissen von 1933 zunächst hoffnungsvoll entgegenblickte.

Klar, aber mit teilweiser apologetischer Absicht zeichnet Jasper nach, wie und aus welchen Gründen Althaus den neuen völkischen Aufbruch guthieß, der Partei und Hitler gegenüber aber auch skeptisch war. Die Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen etwa betrachtet der Autor „argumentativ von seiner Theologie der Schöpfungsordnungen ausgehend, in der das Volk zwar eine besondere Rolle spielt, aber stets begrenzt bleibt durch die christliche Botschaft“ (230). Das Ja zu einem „ademokratisch-autoritären Führerstaat“ (233) kann und will Jasper nicht schönreden. Eine ungebrochene Begeisterung für den Nationalsozialismus sieht er allerdings nicht.v Vielmehr versucht Jasper, Althaus differenziert als national-konservativen Theologen darzustellen, der einerseits kein Freund lauter Auseinandersetzungen ist, andererseits aber etwa auch für eine theologische Begrenzung der Obrigkeit eintritt. Jasper zeigt Althausʼ nicht ganz durchsichtige Rolle etwa beim Erlanger Gutachten zum Arierparagraphen oder dem auf die Barmer Erklärung folgenden Ansbacher Ratschlag. Auf der anderen Seite hebt er besonders kritische Töne bspw. gegenüber der Eugenik oder den Deutschen Christen hervor, die Althaus sogar ein Publikationsverbot für einzelne Schriften einbringen. Sein Kampf um die Unabhängigkeit der Kirche, in dem er eng mit dem später umstrittenen bayerischen Landesbischof Meiser zusammenarbeitete, wird jenseits moralischer Bewertungen und üblicher Klischees aufgezeigt – auch wenn die politische Kurzsichtigkeit, die der Autor Althaus unterstellt, an manchen Stellen nicht ganz zusammenstimmt mit dem sonst so reflektiert und klug dargestellten Protagonisten. Vielmehr wird sein Handeln häufig auf eine „Anti-Barth-Fixiertheit“ (z.B. 250) zurückgeführt, womit sicher eine für Althaus wichtige Triebfeder benannt ist.

„Äußerte sich Paul Althaus zur Innenpolitik im Dritten Reich immer wieder voller Kritik und Skepsis, so waren die Töne zur Außenpolitik eher euphorisch und voller Zustimmung“ (300). Althaus ging wohl – wie so viele dieser Generation – der Inanspruchnahme des Unrechts von Versailles durch Hitler ‚auf den Leim‘. Doch auch diese Begeisterung ließ nach, nicht nur durch den Verlust des ältesten Sohnes. Ein weiteres Verdienst dieses Buches ist, dass Jasper nicht den Erzählungen der frühen Nachkriegszeit ‚man habe davon ja nichts gewusst‘ Glauben schenkt, sondern im Gegenteil am Beispiel Althaus aufzeigt, dass „die Kenntnisse der NS-Verbrechen schon während des Krieges weiter verbreitet waren“ (309).

Ob dieser Zweideutigkeit Althausʼ während der Zeit des Nationalsozialismus wundert es kaum, dass seine Rolle danach schwer zu bestimmen war. So wurde er zwar zunächst 1945 wieder als Dekan der theologischen Fakultät eingesetzt, aber nach Kritik an der ungenügenden Entnazifizierung der Erlanger Universität 1947 vorübergehend, bis 1948, entlassen.

Eine weitere Stärke dieses Buches ist die Darstellung der Verarbeitung der NS-Zeit. Zum einen zeigt Jasper am Beispiel Althaus eine typische Entwicklung auf, die er kontextualisiert und dabei versucht, von ‚unserem‘ Standpunkt 70 Jahre nach dem Krieg zu lösen. Auch die Moralisierungen, die es teilweise durch Karl Barth und seine Schule gab, zeigt er auf – ohne selbst ins Moralisieren zu geraten.

„Die ‚Buß-Anforderungen‘, die Karl Barth in der Wahrnehmung von Paul Althaus stellte, muss man mit bedenken, wenn man das offensichtlich komplizierte Verhältnis des Erlanger Theologen zu seiner eigenen speziellen ‚Schuld‘ im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus analysieren will. Pointiert gesagt: Althaus sah z.B. den Ansbacher Ratschlag als theologisch notwendige Korrektur und Ergänzung zur von Barth geprägten Barmer theologischen Erklärung und eben nicht als Zustimmung zum Nationalsozialismus und zu den Deutschen Christen. Die offenkundig nicht mit bedachte oder vorher nicht erkannte Missbrauchbarkeit des Ratschlags durch die Nazis galt ihm in seiner oben geschilderten Begrifflichkeit nicht als persönliche Schuld, sondern allenfalls tragische Verstrickung guter Absichten“ (346).

Dieses Zitat zeigt deutlich die schon genannte (Anti-)Barth-Fixiertheit. Auch wenn Althaus seine ‚Schuld‘ nicht deutlich bekannte, lassen sich Änderungen im Geschichtsverständnis und besonders in der sog. Kriegstheologie darstellen. Allerdings zeigt Jasper auf, dass Althaus sich in persönlichen Gesprächen und Korrespondenz, die der Autor sorgfältigst aufgearbeitet hat, deutlich offener und korrekturbereiter gab als in seinen Publikationen. Hier gibt Jasper ebenfalls Einblicke in das Gelehrten-Milieu – nicht ohne dabei Kritik an dieser Haltung zu üben.

Es zeigt sich, dass Althaus sich nicht völlig veränderte, sondern auch in der frühen BRD seinen Konservatismus vertrat. Beispielhaft sei hier die Kontroverse zwischen Barth und Althaus bezüglich der Todesstrafe genannt. Anhand dieser Diskussion kann Jasper die unterschiedlichen Perspektiven darstellen, die die beiden Theologen einnahmen: während Barth immer zugleich politisch argumentiere, trenne Althaus diese Sphären und argumentiere theologisch von der von Gott gegebenen Obrigkeit. Jasper führt an, dass Althaus „eindeutig in rückwärts gewandter Begrifflichkeit“ (368) dachte.

Weiterhin können die Darstellungen der Althaus-Rezeption als Exempel gelten, wie in Deutschland mit solch mehrdeutigen Positionen umgegangen wurde. Jasper fordert eine differenzierte Wahrnehmung sämtlicher Dimensionen und keine einseitige Fixierung auf theologische Anfälligkeiten (vgl. Lehre von den Schöpfungsordnungen).vi

Was in der Zeit des Nationalsozialmus als Nachteil erscheint, versucht der Autor am Ende ins Positive zu wenden, in dem er Althaus als Theologen „in seiner Zeit“ betrachtet und konstatiert, dass dies vom „Seelsorger und Theologen Althaus zugleich als normativer Auftrag verstanden wurde, für seine Zeit zu leben, in seiner Zeit zu predigen und zu lehren“ (409).

Neben diesen interessanten Darstellungen zu Althausʼ Stellung in der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich Japser nicht nehmen, die Fülle an Schriften und das wissenschaftliche wie kirchliche Renommee des Erlanger Theologen gebührend zu erwähnen. Immer wieder wird betont, wie beliebt, geschätzt und erfolgreich Althaus in sämtlichen Bereichen war. Beachtenswert ist ferner die detaillierte und sorgfältige Aufarbeitung der Korrespondenzen, die Jasper über Briefwechsel und andere persönliche Quellen erschließt. Er vermittelt damit das Gesamtbild einer Person in ihrer Zeit, das sicherlich manch positive Vereinnahmung mit sich bringt, was aber angesichts der Fülle des Materials und der historisch wie sozialwissenschaftlich und – was sehr bemerkenswert ist – auch theologischen Sorgfalt dem Autor zu verzeihen ist. Zwar mag die Theologin an manchen Stellen verwundert sein über die Darstellung ‚theologischer Selbstverständlichkeiten‘. Aber das ist dem Politikwissenschaftler Jasper mehr als nachzusehen. Gerade für Theologen bietet das Buch eine erfrischende Aufarbeitung der NS-Zeit am Beispiel Althaus – eben jenseits der sonst herkömmlichen Einteilungen und Klischees sowie der in der Nachkriegszeit vorherrschenden eigentümlichen Vermischung und Moralisierung theologischer und politischer Positionen. Hier werden die Verquickungen der verschiedenen Positionen deutlich gemacht, aber auch Zeitgebundenheit sowie Verantwortung hervorgehoben.

Das Buch ist nicht nur wegen der Person Althausʼ allein, sondern durch die ausführliche Besprechung der Korrespondenz gerade auch als Skizze der Zeit und der verschiedenen Verbindungen der Theologen – jenseits der theologischen Richtungen – ein Gewinn.

i Eine ausführlichere Skizze dieses Buches, die Paul Althausʼ berufliche und private Stationen genauer nachzeichnet, bietet die Rezension von Gert Haendler, in: ThLZ 138 (2013), 976-979. Vgl. auch die Rezension von Hans-Martin Barth, in: Luther 83 (2012), 202-204. Barth geht dem Buch etwas kritischer und „persönlicher“ nach.

ii Althaus meldetet sich zunächst freiwillig als Hilfssanitäter und war dann als Lazaretts- sowie Gouvernementspfarrer in Lodz.

iii Mit seinem Volksbegriff steht Althaus ganz in Herderʼscher Tradition, wenn er den je eigenen Charakter eines Volkes – ohne Hierarchisierung – betont. Jasper hebt jenes Althausʼsche vor-säkulare Geschichtsverständnis immer wieder hervor und erklärt damit die ein oder andere ‚Fehlinterpretation‘.

iv So zeugen seine Ausführungen dieser Zeit etwa von einem deutlichen Anti-Individualismus, der eben jene Gedanken zu Volk und Nation prägte.

v Vgl. bspw. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Band II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 417f. oder Heinrich Assel: Art. Althaus, Paul, in: RGG4, Band 1, 1998, 373.

vi Vgl. etwa die Auseinadersetzung Jaspers mit Bernd Hamm.