Freiheit predigen

Der Reformationstag 2021 in fünf Auslegungen

von Martin Böger, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Niklas Schleicher und Julian Scharpf
(ein Klick auf die Namen springt direkt zur jeweiligen Predigt)

Es ist ruhiger im auf dem Blog des Netzwerkes für Theologie in der Kirche geworden. Wenn wir Texte verfassen, dann höchstens ab und an in der „Eule“. Die Ruhe hat mehrere Gründe, einer ist sicherlich, dass wir mittlerweile an unterschiedlichen Orten tätig sind, die gerade mehr Aufmerksamkeit fordern, sei es Vikariat, Pfarramt oder Assistenz an der Universität.

Anyway, der große Teil von uns ist mehr oder weniger regelmäßig sonntags im Einsatz und predigt. Wie es der Zufall so will, haben fünf (also fast alle der Stammmannschaft) am Reformationstag Gottesdienst gehalten und Galater 5, 1-6 ausgelegt. Luthers Anliegen war zunächst wahrscheinlich ein genuin theologisches. Seine Ideen für die Reform der Kirche stammen aus seinen Reflexionen auf die biblischen Büchern. Auch deshalb erscheint es vielleicht interessant, was unsere Gruppe, die sich ja schon im Titel irgendwie der Rolle von Theologie in der kirchlichen Praxis gegeben hat, aus diesem Text zu diesem Tag macht.

Deshalb hier, zwei Tage nach dem Reformationstag: Predigten vom NThK zu Galater 5, 1-6 oder eben: Freiheit predigen. Es geht mal über Checklisten, mal über Pathos, mal über Luther in Worms, mal über Glaube und Werke, mal über staatliche Ordnungen, aber immer geht es um die Frage, was dieser Paulustext, die Reformation und die Freiheit, die in beiden steckt, uns heute noch bedeuten kann. Mögen die Predigten beispielhaft zeigen, was unterschiedliche Zugänge aus ein und demselben Text holen können und wie sie ihn zum Sprechen bringen. Wir freuen uns auf Rückmeldungen.

                                                                       Niklas Schleicher

Martin Böger: „Reformation als Vergewisserung: Gott will freie Menschen“

(gehalten in der Eberhardskirche Tübingen)

Liebe Gemeinde,

manchmal, ja manchmal überkommt mich ein Durst nach etwas Pathetischem. Und manchmal stille ich diesen Durst mit Gesang von Konstantin Wecker, Hannes Wader – mit Arbeiterliedern. Die Internationale, Auf auf zum Kampf oder auch Bella Ciao, Bella Ciao tönt es dann durch unser Haus und besonders aus der Küche heraus. Ich glaube, was mich an diesen Liedern besonders anspricht, ist deren besonderer Sound, deren Patina. Deren unbändiger, ansteckender Ruf nach Freiheit, nach Veränderung. Der Kampf einer kleinen hartgesottenen Gruppe, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengibt, sondern die etwas wagt, die etwas riskiert. Die um Freiheit, Gerechtigkeit und Anerkennung kämpft, ganz egal wie übermächtig und groß die Gegenmächte sind. Und selbstverständlich spricht aus ihnen auch immer eine gewisse Tragik, eine Schwere, eine Ahnung, dass die Wirklichkeit so manchen Visionen im Weg steht. Andere mögen sagen, aus ihnen spricht auch eine gewisse Wirklichkeitsferne, eine verblendete Ideologie – das mag sein. Und doch finde ich ihre Grundstimmung ansteckend, inspirierend und trotzig.

Zu diesen pathetischen, revolutionär-kämpferisch musikalischen Aufrufen passt in gewisser Weise der Predigttext zum heutigen Reformationstag aus dem Galaterbrief im 5. Kapitel, Verse 1-6:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Ich kann es mir beinahe vorstellen, wie Hannes Wader und Konstantin Wecker diese Verse mit Gitarrenmusik schmettern. Und auch ein anderer hat sich von dieser pathetischen, revolutionär- kämpferischen Grundstimmung des Evangeliums anstecken lassen -nur 500 Jahre früher auf dem Wormser Reichstag.

Vor Kaiser und Reichsständen bekannte der junge Augustinereremit Martin Luther, wohlwissend, dass seine Weigerung seine Schriften zu widerrufen ihn am eigenen Leben bedrohen könnte. „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders Gott helfe mir. Amen.“

Paulus und Luther. Zwei christliche Köpfe, an denen man sich reiben kann, die knallhart formulieren und beide in besonderer Weise für ihre Überzeugungen eingestanden sind. Beide unserem Verständnis des Glaubens einen erheblichen Schubs und Drall verpasst haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Um was ging es Paulus in diesen Versen? Es ging Paulus um die Frage der Beschneidung. Müssen sich Männer erst beschneiden lassen, bevor sie Christen werden können? Mit diesen Versen wollte Paulus keine antisemitische Ressentiments bedienen oder eine etwas verquere theologische Grundsatzdiskussion anzetteln, ob Gott sein jüdisches Volk verstoßen haben könnte. Sondern schlicht und einfach darum, wie das, was Gott in Jesus von Nazareth, der Welt offenbart hat, zu deuten ist. Es scheint so, dass die Galater in dieser Frage nicht wirklich entschieden waren. Denn sie verhielten sich einmal so. Dann wieder anders. Sie taktierten. Trafen Entscheidungen situativ. Lavierten sich durch. Und dieses Durchlavieren, dieses mal so mal so, das bringt Paulus auf die Palme. Nicht weil Paulus grundsätzlich und am liebsten schwarz/weiß denken möchte und nicht nachvollziehen könnte, dass es auch Graubereiche des Lebens gibt, wo es kein eindeutiges ja oder nein gibt. Sondern darum, weil an dieser Frage, an diesem herumlavieren das Evangelium an sich in Frage gestellt wird.

Weil das Herumlavieren an dieser Stelle das Tor zu Gedanken, man müsste etwas leisten, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden, weit und unumkehrbar aufstoßen. Und hier ist das Evangelium, die Liebe, die Freiheit in Christus, im Glauben mehr als eindeutig: Gott wertet nicht das Menschsein, stellt keinen Kriterienkatalog auf. Und deshalb stellt das Verhalten der Galater, das Ja, man könnte sich „Ja vielleicht auch einfach beschneiden lassen“ alles in Frage.

Das Evangelium ist an dieser Stelle Freiheit von Erwartungsdruck, Vorbedingungen und einem Kriterienkatalog. Die Freiheit davon, Erfolg haben zu müssen, um als Mensch etwas zu gelten, eine Würde zu haben. Die Freiheit davon, aus dem eigenen Leben und Alltag möglichst das Optimum, das Beste herauszuholen, immer perfekt zu sein müssen. Wir sind alle hineinverstrickt in Geschichten voller Illusion und Lüge, voller Schuld und Unvermögen. Stecken eigentlich in so mancher Unfreiheit und labeln sie als Freiheit. Paulus war überzeugt, kein Mensch kann sich aus eigener Kraft befreien. Die Freiheit, von der Paulus spricht, ist daher eine von Gott geschenkte, durch Christus gewirkte Freiheit. Es ist also eine Freiheit von etwas. Die Freiheit von der Angst um sich selbst. Die Freiheit, den eigenen Unzulänglichkeiten, den Zweifeln an sich selbst liebevoll begegnen zu dürfen. Die Freiheit, nicht unter dem Druck zu stehen, das eigene Leben zum Erfolg führen zu müssen. Wir sind zur Freiheit berufen, wir sind nicht zur Freiheit verdammt. Evangelische Freiheit gründet im Wissen um die Rechtfertigung des Gottlosen. Das heißt, sie gründet nicht in meinem Vermögen oder Unvermögen, nicht in meinem Erfolg und eben auch nicht Misserfolg. Sie weiß um die Abgründe und die Balken im eigenen Auge.

Und in dieser Freiheit ergeben sich neue Blickwinkel auf mich selbst und selbstkritische Überprüfungen, wie ich durchs Leben gehe, an welchen Dingen ich mein Herz aufhänge, welchen Zielen ich nachjage und welche Ketten ich mich unterjoche.

Gott will uns als freie Menschen. Franz Rosenzweig erzählt in seinem großen Werk „Der Stern der Erlösung“ von einer rabbinischen Legende, die von einem Fluss in einem fernen Lande erzählt, der so fromm sei, dass er am Sabbat nicht fließe. Rosenzweig folgert: Wenn dieser Fluss nun durch Frankfurt flösse, dann würde die ganze Judenschaft dort den Sabbat halten. Aber Gott – so Rosenzweig – will das nicht und tut das nicht. Es graut ihm vor dem unausbleiblichen Erfolg: Weil dann die Unfreiesten, die Ängstlichen und Kümmerlichen die „Frömmsten“ wären.

Gott will freie Menschen. Solche, die über ihre Angst und über ihre Anerkennungssehnsüchte hinauswachsen. Solche, die den Himmel schauen und mit offenem, freien Blick den Nächsten, die Nächste neben sich sehen. Ich muss nicht damit hadern, dass ich ein endliches Wesen bin. Ich muss nicht Gott sein. Ich darf Mensch sein. Gott will uns als freie Menschen, weil nur freie Menschen zur Liebe fähig sind. Freiheit so verstanden, ist deshalb kein Standpunkt, sondern ein Weg, auf den uns Gott gesetzt hat. Ein abenteuerlicher und riskanter Weg, der immer wieder an Grenzen führt. Ein Weg, der lebendig erhält und immer wieder auch ins Leben ruft.

Liebe Gemeinde, das Reformationsfest ist nicht nur ein Datum im Kalender. Nicht nur die Erinnerung und der Wunsch nach einer Kirche, die sich nicht eingräbt, sondern sich verändern kann und will. Reformation ist kein Standpunkt, sondern die Vergewisserung auf welchem Weg wir uns befinden und mit wem wir diesen Weg gehen. Mit einem Gott sind wir unterwegs, der uns mit Glaube, Liebe und Hoffnung beschenkt hat und der nicht will, dass wir dieses Geschenk vergraben. Angesteckt durch die Kraft der Freiheit, in die wir hineingenommen sind, die uns lebendig macht, wollen wir es uns nicht nur bequem machen, in den manchmal nur allzu bequemen Ketten, des schon immer so und weiter so. Bereit, etwas zu wagen und zu riskieren. Die aktuellen Herausforderungen für uns als Kirchen der Reformation -auch hier in Tübingen – sind riesig, aber nur gefühlt erdrückend. Evangelische Freiheit bedeutet auch hier, sich vom Druck Erfolg haben zu müssen, befreien zu dürfen und in gewisser Weise angstfreier in die Zukunft zu blicken.

Und so passt dieser Ruf, diese Vergewisserung der geschenkten Freiheit zu der eingangs erwähnten pathetischen Untertönen mancher Arbeiterliedern: als Erinnerung, als Sehnsucht, als Möglichkeit mutig zu sein, trotzig zu sein, sich nicht entmutigen zu lassen, den Spielraum der Freiheit auszuloten. Evangelische, christliche Freiheit hat für mich daher auch etwas mit Lebendigkeit zu tun. Die Freiheit aus Gott lässt uns leben, hoffen, lieben, streiten und gestalten. Gemeinsam. Miteinander. Und Füreinander.

Amen.

Tobias Jammerthal: „Wider dem himmlischen Girokonto, oder: Aus Freiheit tun was zu tun ist“

(gehalten in der Christuskirche Unterrottmannsdorf im Dekanat Ansbach)

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Lasst uns Gott in der Stille um den Segen für sein Wort bitten.

-Stille-

Segne, himmlischer Vater, unser Reden und Hören. Amen.

So steht es im Brief des Paulus an die Galater, im fünften Kapitel:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Herr segne dies Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde!

Am Reformationstag steht heute bei Ihnen ein Reformationshistoriker auf der Kanzel – Luther, Melanchthon und wie sie alle heißen, sind mein wissenschaftliches Spezialgebiet; ihr Denken und ihr Handeln fasziniert mich – und deswegen könnte ich sehr lange darüber reden. Aber in unserer Kirche ist es üblich, dass der Prediger nicht über alles Mögliche spricht, was ihn privat interessiert, sondern über einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift – und das hängt durchaus mit dem zusammen, was wir am Reformationstag feiern: Dass wir nämlich in der Heiligen Schrift alles finden, was wir für unser ewiges Heil wissen müssen. Und dass Predigt keine unverbindliche religiöse Rede ist, sondern Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott. Deshalb also heute kein kirchengeschichtlicher Vortrag über Luther und seine Freunde – sondern Predigt über einen Abschnitt aus dem Galaterbrief. Unser Predigttext ist kurz, aber er hat es in sich. Ich will versuchen, drei Punkte herauszugreifen, die für uns heute besonders wichtig sind: Der erste steht unter der Überschrift „Ganz oder gar nicht“, der zweite handelt vom Glauben und von den Werken, und ein dritter Punkt heißt schlicht, aber bedeutungsschwanger, „Freiheit“. Doch der Reihe nach!

Zum ersten: „Ganz oder gar nicht“. Paulus schreibt an eine Gemeinde aus sogenannten Heidenchristen; das waren also Menschen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, ohne vorher Juden zu sein. Bald nach der Gemeindegründung scheint es dort so gekommen zu sein, dass manche ihre Vorliebe für bestimmte alttestamentliche Vorschriften entdeckt haben. Die neutestamentliche Wissenschaft vermutet, dass es vor allem um Fasten- und Reinheitsgebote ging, also um bestimmte Praktiken der Frömmigkeit, durch die man sich sichtbar von anderen Menschen unterscheiden konnte – klar: Wenn alle außer mir Fleisch essen, bin ich etwas Besonderes, vor allem, wenn ich dann noch sagen kann, dass ich damit Gott gehorche. Der Höhepunkt dieser Frömmigkeit, die sich vor allem daran zeigte, an bestimmten Tagen zu fasten und bestimmte Reinheitsvorschriften zu befolgen, war die Beschneidung. Paulus hat für das alles nichts übrig: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ (V.2f). Wenn ihr euch am antiken Judentum orientieren wollt, ruft er den Galatern zu, dann funktioniert das nicht so, dass ihr euch nur bestimmte Teile davon aussucht – sondern das geht nur ganz oder gar nicht. Ich finde, darin steckt eine wichtige Mahnung gerade auch für uns heute: Immer wieder meinen Christen, sie wären besonders fromm, wenn sie bestimmte alttestamentliche Regeln besonders streng einhalten. Dazu gehört dann meist ein geringschätzender Blick auf alle, die das nicht tun. Paulus erinnert uns aber daran, dass es so nicht funktioniert. Wir können nicht – zum Beispiel – in der Sexualethik bestimmte Stellen aus dem Alten Testament zitieren und gegen andere Menschen ins Feld führen – und auf der anderen Seite am Samstag arbeiten oder nicht zehn Prozent unseres Einkommens spenden oder nur Menschen aus unserem eigenen Dorf heiraten oder auf der Anwendung der Todesstrafe für Ehebrecher bestehen. Wer meint, er müsste die Einhaltung alttestamentlicher Vorschriften zum Kriterium der Gottesbeziehung machen, der muss sich von Paulus anhören, dass er das nur tun kann, wenn er sich auch wirklich an alle diese Vorschriften hält. Aber das ist noch nicht alles: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen… ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (V. 2+4) ruft Paulus uns zu: Wer meint, er wäre besonders fromm, weil er – im Gegensatz zu anderen – auf bestimmte Regeln achte, seien die nun aus dem Alten Testament oder aus dem Bereich der Politik genommen, der hat sich von Christus abgewendet. Das klingt hart, ist aber nur folgerichtig: was hat es noch mit der Liebe Gottes zu tun, die in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn ich mich selbst darüber profilieren will, dass ich Dinge tue, die mich von anderen unterscheiden – und anderen vorwerfe, dass sie dabei nicht mitmachen?

Das ist starker Tobak – für uns heute wie damals für die Galater – aber damit sind wir schon beim zweiten Punkt: Glaube und Werke. Wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Wir erinnern uns dankbar daran, dass eine ganze Reihe von Theologen vor fünfhundert Jahren wirkungsvoll darauf hingewiesen hat, dass unser Seelenheil nicht davon abhängt, was wir tun. Einen der wichtigsten Bibeltexte, auf die sich Martin Luther stützte, haben wir vorhin in der Epistel gehört: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart… So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,21+28) Es gehört zum Kernbestand evangelischen Christentums, dass wir uns das immer wieder sagen lassen – gerade angesichts dessen, dass wir genauso wie alle Anderen immer wieder dazu neigen, dann eben doch Vorschriften darüber aufzustellen, unter welchen Bedingungen jemand „richtig“ Christ ist oder nicht. Aber sobald wir das Seelenheil eines Menschen an irgendwelche Bedingungen knüpfen wollen, erhebt Paulus schärfsten Einspruch – genau das ist ja das Evangelium, die frohe Botschaft, die er den Römern genauso wie den Christen in Galatien und auch uns heute vermitteln will, dass es solche Bedingungen nicht gibt. Den Römern sagt er es im Guten: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) – den Galatern schreibt er es ziemlich vorwurfsvoll ins Stammbuch, wie wir gehört haben: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt“ (Gal 5,4). Das, was wir tun, kann keine Bedingung dafür sein, dass Gott uns in Liebe annimmt. Das, was Christus für uns getan hat, reicht aus dafür, dass Gott uns in seine Gemeinschaft nimmt – wir müssen es nicht durch irgendeine Handlung bestätigen, als ob Gottes Heilshandeln von unserer Zustimmung abhängig wäre.

Soweit, so bekannt – aber hat das, was wir tun, denn wirklich gar keine Folgen für unsere Gottesbeziehung? Hier stellt sich nicht nur die Frage, warum ich mich eigentlich an irgendwelche ethischen Regeln halten sollte: Vorhin in der Evangelienlesung haben wir gehört, dass Christus Menschen, die bestimmte Dinge tun, als „selig“ preist. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. … Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,7+9) und so weiter – ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Paulus schreibt? Paulus schreibt den Galatern und den Römern ins Stammbuch, dass unsere Seligkeit nicht von dem abhängt, was wir tun – und Jesus predigt, dass alle, die bestimmte Dinge tun, selig sind? Hier gilt es, ganz genau hinzuschauen. Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch aussieht, gehört nämlich zusammen. Und den Schlüssel dafür, das zu verstehen, liefert uns unser Predigttext: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Ja: Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Handeln. Ja, was wir glauben und was wir tun, hängt miteinander zusammen – nur eben anders, als wir es auf den ersten Blick meinen. Die naheliegendste Lösung begegnet uns auch in unserer Kirche immer wieder: dass gute Taten nämlich den Glauben zeigen – mit anderen Worten: nur wer Gutes tut, glaubt auch. Und dann ist es, ehe wir uns versehen, eben doch so: Nur diejenigen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sind „richtige“ Christen. Es ist aber genau anders herum: Der Glaube ist durch die Liebe tätig – nicht gute Taten zeigen uns den Glauben. Das klingt spitzfindig – ist aber ein großer Unterschied.

Und damit sind wir beim dritten Punkt: der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) ruft Paulus aus – und das ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, dass sie Gutes tun, ohne dass sie es für irgendeinen eigennützigen Zweck tun müssten. Das ist die Seligkeit, von der Jesus spricht, dass wir aus dem Glauben daran, dass Gott uns bedingungslos liebt, selbst lieben können – ohne damit irgendwelche Nebenabsichten verbinden zu müssen. Wir sind davon befreit, etwas tun zu müssen, um von Gott geliebt zu werden; befreit davon, aus Angst vor Gott etwas tun zu müssen – und befreit dazu, uns unseren Mitmenschen liebevoll zuzuwenden, und das heißt: um ihrer selbst willen. Wenn ich liebe, helfe ich einem Anderen, weil er Hilfe nötig hat – und nicht, weil ich mein himmlisches Girokonto durch eine gute Tat auffüllen muss und Angst habe, dass mein Guthaben eventuell noch nicht reichen könnte für ein Ticket in den Himmel. Christus hat uns dazu befreit, in unseren Mitmenschen nicht Mittel zum Zweck unserer Seligkeit zu sehen – sondern eben Mit-Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das ist unsere Freiheit und deswegen preist Christus uns selig, dass wir aus dem Vertrauen auf den gnädigen und liebenden Gott heraus die Kraft gewinnen, Gutes zu tun. Nicht, weil wir es müssten, sondern weil wir es wollen.

Jedes Mal, wenn wir den Reformationstag feiern, liebe Gemeinde, sollen wir uns das aufs Neue gesagt sein lassen: Dass Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus von allen Zwängen befreit hat. Dass er uns die Freiheit geschenkt hat, uneigennützig zu sein. Und dass es deswegen gar nicht nötig ist, dass wir selbst irgendwelche Bedingungen dafür aufstellen, was ein richtiger Christ ist – egal, ob wir sie aus dem Alten Testament nehmen oder aus einem System politischer Korrektheit. Freuen wir uns lieber daran, was Gott für uns getan hat – und achten wir darauf, wo wir gebraucht werden. Denn nachdem uns die Last von den Schultern genommen ist, dass wir vor Gott irgendwelche Bedingungen erfüllen müssten, können wir uns befreit und kraftvoll dem zuwenden, was zu tun ist, damit die Not anderer Menschen gelindert wird. Ganz irdisch. Ganz im Hier und Jetzt. Zur Freude Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen. Ja: Selig sind diejenigen, die so befreit ans Werk gehen dürfen!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Claudia Kühner-Graßmann: „Zerreißt die Checklisten, oder: Die Freiheit vom Zwang, etwas für unser Heil tun zu müssen“

(gehalten in St.Leonard in Nürnberg)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen

I. Einstieg: Wunderbare Checkliste

Liebe Gemeinde,

erstellen Sie To-Do-Listen? Ich gestehe, ich mag es gerne. Mit so einer Liste hab ich alles im Blick, was ansteht. Bin also gut organisiert und minimiere die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vergessen. Aber das eigentliche Highlight einer solchen Checkliste ist das Abhaken. Es wird ganz sichtbar, was ich alles schon geschafft habe. Und gut, auch das, was ich noch machen muss. Im besten Fall stellt sich ein gutes Gefühl ein, wenn endlich der letzte Punkt abgehakt ist. Der Blick auf das, was geschafft ist. Visualisierung der eigenen Leistung.

Beruhigung und Selbstvergewisserung. Berechnung und Beherrschung des Chaos.

Wie sieht es aus mit einer Checkliste für den Glauben? Paulus hat eine starke Meinung dazu. Ich lese aus dem Brief an die Galater:

II. Predigttext

1Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!  2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

in der Provinz Galatien war was los. Kein Vierteljahrhundert ist das Christentum alt. Mit den Missionsreisen des Paulus breitete es sich weiter aus. Nun waren es nicht mehr nur Judenchristen, also Menschen, die als Juden geboren und im Judentum erzogen worden sind, aus denen sich die Gemeinde Jesu Christi zusammengesetzt hat.

Neben denen, die zuvor schon Juden gewesen waren, traten die Bekehrten anderer Völker und Religionen. Das führte zu Diskussionen. Debatten. Streit. Dabei ging es nicht bloß darum, wer den Ton angibt, was die Zusammensetzung der neuen Glaubensgemeinschaft betrifft. Nicht bloß um die Befriedung einiger weniger Egos. – Darum natürlich immer wieder auch. Aber oft ging es ums Ganze. Die existentielle Dimension, die drängende Bedeutung dieser Debatten lässt sich in dem Ausschnitt, der den Predigttext für heute bildet, spüren. Vordergründiges Thema ist die Beschneidung, die für jüdischen Männern damals wie heute religiös vorgeschrieben war und ist. Damit ist allerdings nicht einfach nur der medizinische Akt der Entfernung der Vorhaut gemeint. Ja, darum geht es schon auch. Aber nicht in dem Sinne, wie die Debatte in unserer Gegenwart immer wieder öffentlich geführt wird. Inklusive antisemitischer Ressentiments.

So macht Paulus das nicht. Dazu ist für ihn die Beschneidung aber auch auf der religiösen Ebene zu bedeutungsvoll. Er selbst ist auch beschnitten. Dieser Ritus drückt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel aus. Daher scheint es auf den ersten Blick zu verwundern, dass Paulus hier so bestimmt reagiert und den Galatern die Beschneidung regelrecht verbietet. 

Wer waren die Gemeindeglieder in der Region Galatien, mitten in der heutigen Türkei? Diese Gemeinden setzen sich aus verschiedenen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identitäten zusammen. Ich weiß nicht, was einige dazu gebracht hat, zu meinen, dass sie den Weg zu Jesus Christus über das Gottesvolk Israel gehen müssten. Ich kann mir vorstellen, dass manche von ihnen einfach alles richtig machen wollten. Es scheint auch verlockend zu sein. Ein sichtbares, körperliches Zeichen, eine formale Zuordnung zu Israel – wie eben viele ihrer Glaubensvorbilder auch. Wie Jesus, Petrus, Paulus. Dann könnte man einen Haken setzen auf der religiösen To-Do-Liste und man hätte da schon mal eine Art Gewissheit. Oder?

Genau an diesem Punkt setzt Paulus ein – und zwar gerade als einer, der diesen ganzen Weg einer frommen jüdischen Erziehung und dann der Neuaufnahme in die Christengemeinde gegangen ist.

2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 

Mit der Autorität seiner Person, seines Namens schreibt er, dass dieser Umweg über die Beschneidung den Galatern nichts bringt. Er schreibt:

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 

Ganz oder gar nicht! Es geht nicht nur um Beschneidung. Denn zum Judesein gehört für Paulus, sich an das ganze Gesetz des Mose zu halten, damit sie was nützt. Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel gibt es nicht anders.

Aber dann gibt es noch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ist frei von diesen religiösen Vorschriften und Regeln, von all diesen Bedingungen. Paulus wettert gerade nicht gegen seine jüdischen Geschwister, erhebt sich nicht über sie. Für ihn und für alle, die an Jesus Christus glauben, ist dieses Gesetz aber überwunden. Hier gilt eine andere Regel: Kein menschliches Handeln, kein Gesetzeskatalog, keine besondere Vorleistung. Allein Jesus Christus und der Glaube an ihn befreien, retten, rechtfertigen.

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

III. Luther

Das klingt ja immer alles sehr schön. Die Befreiung durch Jesus Christus. Allein durch Gnade und allein im Glauben. Und ja, wenn ich diese Zeile höre: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Dann weiß alles in mir, dass das richtig ist. Kopf und Herz stimmen zu, manchmal bekomme ich etwas Gänsehaut. Faust in die Höhe, evangelischer Kampfmodus. Ganze besonders heute am Reformationstag. Und dann gibt es noch die andere Seite in mir. Die, die gerne Checklisten schreibt, sich von außen rückversichern muss. Die Seite, die die Galater nur zu gut versteht, die sich zur Sicherheit lieber beschneiden lassen wollen. Die Seite, die auch manchmal das Bedürfnis hat, einen Katalog abzuarbeiten: Gott, was soll ich machen, damit ich eine gute Christin bin? Ich denke, damit bin ich nicht alleine. Die Geschichte und ganz besonders die Reformationsgeschichte zeigt das ja durchaus.

Da war dieser junge Mönch,  – fast hätte er Jura studiert! –, dem die Ordensregeln wichtig waren und der alles richtig machen wollte. Der alle Vorschriften befolgen wollte und damit eine Zeit lang wohl auch ganz gut zurechtkam. Aber immer wieder diese Zweifel. Das Gewissen. Die Erkenntnis, dass Menschen überhaupt nicht das leisten könnten, was gefordert sein müsste, um vor Gott wirklich gerecht zu werden. Die Worte des Liebesgebotes im Ohr: Liebe deinen Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser ernsthafte Mönch lebte in einer Umwelt, in der es üblich geworden war, sich ein Stück Seelenheil zu erkaufen – durch Geld, Bußübungen, Gebete… Fromme Checklisten: 300 Rosenkränze gebetet. 1000 Gulden bezahlt. Die Reliquie eines Heiligen geküsst.

Nein, ich möchte mich nicht darüber erheben. Es ist für uns Menschen nicht einfach zu begreifen, was Jesus Christus für uns getan hat. Da erscheint es nur zu menschlich, dass man versuchte, sich den Glaubensstand irgendwie berechenbar zu machen. Aber das System frommer Absicherungen, sogenannter Ablässe, wurde damals doch ziemlich pervertiert. Da kam dieser Mönch, getrieben von eigenen Zweifeln –  und ganz plötzlich befreit durch seine Entdeckungen im Text der Bibel.

Martin Luther.

Ein streitbarer Mann. Laut, derb, im vollen Eifer für den Glauben. Er ist mit seiner ganzen Person für die Rechtfertigung allein aus Glauben, für die Befreiung allein durch Jesus Christus eingestanden. Hat dafür sein Leben riskiert – und komplett umgekrempelt. Er hat nicht nur darüber geschrieben, er hat das, was er verkündet hat, auch gelebt. Was mich aber am meisten beeindruckt: Luther kämpfte um der Sache willen. Und er wusste immer um die menschliche Unperfektheit – gerade auch derer, die glauben. Wie Paulus rief Luther immer wieder das ins Gedächtnis, worauf es ankommt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 

Zeitlebens ließen Luther seine die Zweifel nicht los. Aber getragen von der tiefen Zuversicht, vom tiefen Vertrauen in Gottes Wohltat für uns konnte er dem jetzt standhalten.

IV. Paulus und Luther für uns

Paulus und Luther. Zwei Männer mit Mission. Der eine verbreitete die Botschaft von der befreienden Gnade durch Jesus Christus in der ganzen Welt und wurde nicht müde, seinen Gemeinden das weiter zuzusprechen. Der andere fühlte sich erstickt von den Vorgaben seiner Kirche und rief diese Botschaft der Erlösung allein durch Jesus Christus wieder ins Gedächtnis.

Beides prägende Gestalten unseres Glaubens. Vorbilder trotz allem. Gerade, weil sie alles andere als tadellose Superhelden sind. Denn genau das macht ihre Botschaft so eindringlich und glaubwürdig. Und ja, sie wussten beide, dass es schwer ist, die Beziehung zu Gott alleine von Gott her bestimmen zu lassen: nämlich befreit zu sein allein aus Gnade, allein im Glauben an Jesus Christus. Umso wichtiger ist es, diese Botschaft immer wieder zu hören:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Wir machen uns nicht selbst frei. Wir werden befreit. Ohne Gebote, ohne Eigenleistungen, ohne To-Do-Liste. Diese Freiheit wird mir zugesprochen und geschenkt. Ich muss dieses Geschenk nur auspacken, im Glauben annehmen. Und das Beste: auch nachträglich kommt nichts dazu, keine Vertragsbestimmungen, kein Gesetz, kein Verhaltenskodex, nichts, was ich von außen aufgedrängt bekomme. Die Freiheit durch Christus ist kein Vertrag, den ich schließe und im Nachhinein bemerke, dass ich das Kleingedruckte nicht gelesen habe.

Das immer so zu sehen, ist schwer. Umso wichtiger ist es darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus, es von Gott selbst zu hören, sich mit anderen Gläubigen zu versammeln und auszutauschen – gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Nicht als Pflicht, sondern aus innerer Überzeugung, aus tiefem Betroffensein durch Jesus Christus, aus Glauben. Paulus wäscht auch uns den Kopf. Nicht, weil wir auf die konkrete Idee kommen, reihenweise den Umweg über die Beschneidung, über das Gesetz Israels  nehmen zu müssen. Luther ermahnt auch uns. Nicht, weil wir Ablassbriefe kaufen und uns den Platz im Himmel mit Taten verdienen möchten.

Aber Hand aufs Herz: auch bei uns gibt es Versuchungen, sich des  Heilsbesitzes durch die falschen Dinge zu vergewissern. Innerliche Checklisten, die abgearbeitet werden wollen. Was könnte das für uns sein?

Vielleicht die omnipräsenten Mahnungen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Das Versprechen, durch gesunde Ernährung und Sport ins Reine mit sich zu kommen. Meditation, Yoga, Wellness, Fitness… Alles an sich gute Dinge. Aber eines können sie nicht: Durch sie werden wir nicht frei. Vielleicht können wir uns mit ihnen kurzfristig und vorläufig besser fühlen. Aber sie schaffen es nicht, dass wir uns bedingungslos angenommen wissen. Das kann nur einer.

V. Schluss: zerreißt die Checkliste!

Wir Menschen verfallen von Zeit zu Zeit dem Drang nach Vergewisserung von außen. Dem Wunsch, den Glauben sichtbar zu machen. Etwas abhaken zu können. Durch Handeln vielleicht ein bisschen vor sich selbst und anderen den Eindruck zu erzeugen, dass man wirklich ein guter Christ, eine gute Christin ist. Wir errichten Strukturen, die Systeme und Ordnungen, die auch unser Glaubensleben sortieren sollen – ja, vielleicht erstellen wir To-Do-Listen des Glaubens. Checklisten der Glaubensgewissheit. Schön zum Abhaken.

Aber: wir brauchen diese Listen eigentlich nicht. Ja, ich wage zu sagen: sie stehen im Weg. Und sie schaffen schlicht nicht, was wir uns von ihnen erhoffen. Diese Listen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das schon getan ist. Aber: den Haken haben nicht wir gesetzt. Gott hat das ein für allemal abgehakt.

Daher, liebe Gemeinde: lassen Sie uns heute am Reformationstag diese inneren To-Do-Listen des Glaubens, die Checklisten der Glaubensgewissheit zerreißen. Ganz bewusst alles abstreifen, was uns vom Vertrauen abhält: Jesus Christus hat schon alles gemacht. Wir müssen da an nichts mehr denken! Wir sind befreit vom Zwang, etwas leisten zu müssen. Befreit vom Zwang, für unser Heil zu sorgen.

Lassen Sie uns mit Luther ganz bewusst auf den Grund dieser Freiheit schauen: Jesus Christus! Lassen sie uns gemeinsam das ganze Pathos dieses Reformationstags mitnehmen! Hören wir den evangelische Ruf des Paulus  und lassen uns von diesem Gefühl tragen! Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Niklas Schleicher: „Leicht ist es nicht, oder: Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand.“

(gehalten in der Bartholomäuskirche in Tamm im Dekanat Ludwigsburg)

„Freiheit, Wecker, Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. „Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“. So der Liedermacher Konstantin Wecker in seinem Lied Willy über einen Menschen, der sich gegen den Faschismus wehrt und von Nazis umgebracht wird. Freiheit. Was für ein großer Begriff. Und vielleicht ist Weckers Definition treffend. Vielleicht dachte Luther ähnlich. Luther, der heute vor mehr als 500 Jahren seine Thesen veröffentlichte und davor sicherlich die Briefe des Paulus gelesen hatte.

Im Galaterbrief lesen wir:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Man kennt die Geschichte von Luther irgendwie, aber man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen. Da ist eine Kirche, die ziemlich viele Bereiche des Lebens kontrolliert und vor allem: Die für sich in Anspruch nimmt, Vergebung der Sünden verkaufen zu können. Dafür schürt sie die Angst vor dem Fegefeuer. Luther hatte Angst, Angst davor, dass, egal was er tut, es nicht reicht. Er hatte vor Augen: Nach seinem Tod wartet auf ihn das Fegefeuer. Und dann sein Studium der Bibel. Und Stellen die sagen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und zwar auch zur Freiheit vor dem Gesetz. Ja, Freiheit heißt, keine Angst haben, vor nix und niemand.

So tritt Luther auf. Er legt sich mit der Kirche an. Mit Unterstützung von einflussreichen Freunden möchte er die katholische Kirche reformieren. Eine zeitlang steht sein Leben wirklich auf Messers Schneide. Ich weiß es nicht, ob er da noch Angst hatte, aber seine Freiheit kostete ihm sicherlich auch Sicherheit. Er schrieb große Schriften, von der Freiheit eines Christenmenschen ist sicherlich eine der Schönsten. Aber die Freiheit, die er so stark herausarbeitete, hatte sicherlich eine Kehrseite. Die Sicherheit einer Kirche, die zwischen ihm und Gott vermittelte, bricht weg.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Was bedeutet uns eigentlich heute: Freiheit? Wir sind mal ganz einfach formuliert, sehr frei. Corona hat uns gezeigt, wie frei wir eigentlich sind. Vieles empfinden wir, zurecht als Einschränkung, aber im großen und Ganzen leben wir frei. Wir können im Großen und Ganzen entscheiden, wen wir wählen. Wo wir wohnen. Was wir essen. Klar, für vieles braucht man das nötige Kleingeld. Aber es gibt ansonsten wenige äußere Instanzen, die uns hindern.

Ich denke, wir machen uns um unsere Freiheit wenig Gedanken. Oft, sehr oft geben wir die Entscheidung auch ab. Nicht alles, was wir tun, tun wir bewusst. Oft richten wir uns nach anderen oder nach Regeln. Diese Regeln helfen uns. Denn wenn man darüber nachdenkt: Wenn wir bei jeder Entscheidung auf uns gestellt sind, dann artet das in eine Überforderung aus.

Ich habe im August und September ein Praktikum in bei der Gefangenenseelsorge am Hohenasperg gemacht. Dort gibt es neben dem Klinikum ja auch die Sozialtherapeutische Anstalt. Eines fand ich bedrückend: Was ist, wenn einem die Freiheit selbst Angst macht? Menschen, die lange Jahre im Gefängnis waren finden sich draußen oft nicht zurück. Nicht, weil sie es nicht wollen oder weil sie sich nicht redlich bemühen. Es fehlt ihnen die Kontrolle und das Netzwerk, dass sie Gefängnis haben. Die Freiheit, die sie bekommen haben, bekommen sie auf Kosten von Sicherheit. Und dann tun sie draußen etwas, dass gegen ihre Auflagen verstößt und kommen zurück ins Gefängnis. Sie tauschen ihre Freiheit gegen die Sicherheit des Gewohnten.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Selbst Wecker wusste in seinem Lied: So einfach ist es halt nicht. Denn es geht in seinem Lied weiter: „aber san ma doch ehrlich, a bisserl a laus Gfühl habn ma doch damals scho ghabt“. Auch für Luther war es das nicht. Anfechtung. Immer wieder ringen mit Gott. Das hat ihn Zeit seines Lebens begleitet. Gott erschien ihm manchmal fern. Wenn er Leid sah. Und er hatte die Sicherheit aufgegeben, die die katholische Kirche geboten hat. Nämlich etwas tun können für das Seelenheil. Und jemanden zu haben, eine Autorität, die vermitteln können zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Weg ist für Luther versperrt.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Die Freiheit, die mit unserem evangelischem Christentum kommt, ist großartig. Niemand, weder ein Pfarrer, noch eine Theologin, weder ein Bischof, noch ein Ratsvorsitzender stehen zwischen dem Einzelnen, zwischen mir, zwischen dir und Gott. Das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung Luthers: Jeder von uns hat die Freiheit sich Gott so zu nähern, wie man es will. Alles können wir ihm anvertrauen. Denn: In Jesus Christus hat er unsere Schuld, dass was uns trennen kann, überwunden. Ganz simpel gesagt: Alles, was uns beschwert und belastet hat seine Ort vor Gott.

Doch andersherum gilt eben genauso: Es gibt keinen, der mir und dir abnehmen kann, dass wir als Einzelne vor Gott stehen. Wir dürfen mit unseren ganz eigenen Vorstellungen und Anliegen vor Gott kommen, aber: Wir müssen das eben auch. Niemand nimmt es uns ab. Dass wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, vergewissert uns: Wir gehören zu einer Kirche. Aber vor Gott kommen wir dennoch als Einzelne.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Jeder von uns ist einer freier Christenmensch. Einer, der vor nix und niemanden Angst haben muss. Einer, der nicht vertreten werden muss, der aber auch nicht vertreten werden kann. Evangelisches Christentum ist sicherlich manchmal anstrengen. Aber trotz allem lenkt es den Blick auf etwas, das Paulus schon vor 2000 Jahren verdeutlicht hat:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Freiheit. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber das hat ja auch keiner behauptet. Und bei allem und in allem gilt der Satz von Paulus:

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist

Über allem steht Gottes Liebe zu uns. Wenn das klar ist, dann muss man vielleicht wirklich keine Angst mehr haben. Auch nicht vor der Freiheit des Christenmenschen.

Amen

Julian Scharpf: „Von der Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird“

(gehalten in der Lutherkirche Fellbach)

Wie fühlt sich Freiheit an?

Vielleicht so: Das Absetzen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn wir die Kirche verlassen und im Freien sind.
Oder: Wie der erste Montag in der Altersteilzeit, wenn morgens der Wecker nicht mehr klingelt.
Oder: Wenn man einen Babysitter für die Kinder gefunden hat und einen Abend zu zweit vor sich hat.
Oder: Wenn man nach längerer Krankheit die Krücken nicht mehr braucht und wieder laufen kann.
Oder: Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, weil etwas besser gelaufen ist als gedacht.
Oder: Wenn man die innere Freiheit spürt, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird, sondern das, was einem das Gewissen sagt.
Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, dann gibt es einen Moment der inneren Freiheit eines Menschen, der herausragt.

Martin Luthers Freiheitsgeschichte

Worms, im Frühjahr 1521, vor 500 Jahren. Der ganze Saal im Wormser Bischofshof knistert vor Spannung. Fackeln bringen Licht in den Raum, er ist voller Menschen, es ist unfassbar heiß, Martin Luther schwitzt. Zwei Stunden hat er für den kurzen Weg in den Saal gebraucht, es gab Verzögerungen; Schaulustige belagern den Reichstag. Johann von Eck verhört Luther, er stellt ihm am Ende die alles entscheidende Frage: „Martin Luther, widerrufst du oder nicht?“ Seit drei Jahren hat dieser in einer einfachen Mönchskutte vor dem Reichstag stehende Mann das ganze Land in Aufruhr gebracht. Die 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die Schriften wie „von der Freiheit eines Christenmenschen“, die im ganzen Land durch den gerade aufkommenden Buchdruck vervielfältigt werden, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle aus Rom, der Kirchenbann über Luther – all diese aufsehenerregenden Momente waren dieser Eskalation vorausgegangen.  Was wird Luther tun? Die Anspannung ist zu spüren. Martin Luther wird das Wort zugesprochen.  Und:  Er widerruft nicht. Er antwortet:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!

Luther widerruft nicht. Er bietet dem Kaiser die Stirn, weil er der Bibel und seinem Gewissen verpflichtet ist. Da steht ein Mensch, der in der Gefahr ist, seine äußere Freiheit durch die Reichsacht zu verlieren – und strotzt gerade so vor innerer Freiheit. Und es kommt zu der nur scheinbar paradoxen Situation, dass sich Luther gerade, weil er sich „gefangen im Worte Gottes“ empfindet, so frei fühlt wie ein Mensch sich nur fühlen kann.

Dass Luther zu diesem freien Menschen wurde, war kein einfacher Weg. Als Mönch hatte er gespürt, wie unfrei, wie gefangen er damals war, weil er dachte, er müsse sich die Gnade Gottes durch Beten, Arbeiten und gute Werke erst verdienen. Luther war ein 150%er Mönch, tat alles, was aus seiner Sicht nötig war, um Gott gnädig zu stimmen. Bis er durch die genaue Lektüre der Schrift wiederentdeckt, dass die Gnade Gottes unserer Antwort im Glauben immer voraus geht. Er wird durch das Wort Gottes so gefangen genommen, dass er frei gegenüber der Welt wird. Weil er versteht, dass Christus uns Anteil an seiner Gerechtigkeit gibt und wir uns nicht selbst vor Gott rechtfertigen können oder müssen. Luther musste sich nicht mehr selbst erlösen, er war frei geworden.

Und diese Entwicklung wurde mit angestoßen durch die Verse eines Menschen, der in seinem alten Glauben und seinen Überzeugungen auch ein 150%er war: Paulus, der ehemalige Pharisäer, der zum Apostel wurde. Paulus und Luther sind sich in manchem sehr ähnlich. Religiöse Genies ohne große Lust an Kompromissen; Leidenschaftliche Gläubige; auch Menschen mit Fehlern, Problemen, diskussionswürdigen Ansichten. Keine Helden, aber Menschen, die durch das Wort Gottes zutiefst durchdrungen und bewegt waren.
Wir hören die Verse, die Luther inspirierten, aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus, Kapitel 5, Verse 1 bis 6:

Galater 5, 1 – 6

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zum Kontext

Liebe Gemeinde,

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien, weil diese in Unruhe sind. Neue Missionare sind dort angekommen und sind der Überzeugung, dass auch die Männer der christlichen Gemeinde sich beschneiden lassen sollten wie jüdische Männer. Paulus argumentiert leidenschaftlich dagegen, weil er befürchtet, dass die noch junge, christliche Gemeinde durch ihre Verunsicherung wieder Halt in den Traditionen und Gesetzen des Judentums sucht. Und weil Paulus damals ein 150% überzeugter Pharisäer war, gibt es da für ihn keine Kompromisse. Wer sich beschneiden lässt, gehört zum Volk Israel und nicht zu Christus. Das ist im Übrigen für Paulus keine Abwertung der Beschneidung, des Judentums oder der beschnittenen Männer, die Christen wurden. Ihm ist die Unterscheidung wichtig. Der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen gilt, ein für alle Mal und ewig. Das ist für Paulus klar. Wir als Christinnen und Christen sollten uns hüten, uns durch Verse des Apostels für etwas Besseres zu halten. Jesus ist als Jude geboren und gestorben.

Die Freiheit in Christus

Und der ehemalige Pharisäer Paulus erkennt im Glauben an Jesus Christus eine Freiheit, die Freiheit schlechthin:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Diese Freiheit besteht darin, dass Christus uns befreit. Nicht wir selbst befreien uns, Christus befreit uns.
Von unserer Unsicherheit, ob wir Gott gefallen.
Von unserer Unsicherheit, ob wir anderen Menschen gefallen.
Von unseren inneren Zwängen und bangen Fragen, ob Gott uns denn nun gnädig ist oder nicht.
Wir haben vorhin gesungen: Du bist der Blick, der uns ganz durchdringt.
Wir alle hier, die wir hier sitzen, werden liebevoll von Jesus Christus angeschaut, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wer sich geliebt weiß, der atmet freier. Alle Werke und alles Wirken von Paulus und Luther sind ein Fingerzeig auf Jesus Christus, der uns gnädig anschaut.

Im Glauben an Christus, im festen Vertrauen auf seine Liebe und Güte werden wir frei davon, uns selbst zu erlösen, zu rechtfertigen, zu befreien, auf unser Ansehen zu schielen. Diese Gnade ist ein Geschenk und nichts, das wir uns durch gute Werke verdienen müssen. Diese Erkenntnis gab Martin Luthers Leben eine 180 Grad Wende.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Ohne diese Überzeugung hätte Luther nicht auf dem Reichstag stehen können; wäre er nicht standhaft geblieben.

Freiheit heute

Weil Luther für seine Gewissensentscheidung Akzeptanz von den Herrschenden einforderte, liegt darin auch eine Keimzelle unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Die verschiedenen Dimensionen der Freiheit, individuelle, innere Freiheit, Religionsfreiheit, politische Freiheit – durchdringen sich gegenseitig. Man kann durchaus eine Linie vom Freiheitsdenken der Reformatoren über die Religionsfreiheit und die Aufklärung zu unserem heutigen allgemeinen Freiheitsverständnis ziehen. Diese Entwicklung ist geschichtlich auch von ungeheuren Rückschlägen gekennzeichnet.  Unser Grundgesetz in Deutschland heute ist das Ergebnis einer Lerngeschichte der Freiheit.

In den letzten anderthalb Jahren wurde viel um Freiheit und Sicherheit, Grundrecht und Gesundheitsschutz gerungen. Und alle Freiheitseinschränkungen, auch in den letzten anderthalb Jahren müssen sich natürlich vor unserer Verfassung rechtfertigen. Ich bin froh darüber, in einem Land zu leben, in dem diese Gewaltenteilung funktioniert – bei allen Schwierigkeiten, die eine noch nicht gekannte Pandemie-Situation mit sich bringt. Ich bin froh darüber, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung zu leben, gerade wenn ich in die Entwicklung manch anderer Länder blicke. Und wenn wir bei Paulus wie bei Luther hinschauen, sehen wir bei beiden eine große Wertschätzung für eine stabile staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol des Staates. Paulus und Luther waren auf je eigene Weisen freiheitliche Rebellen, aber um das auch klar zu sagen:  Diejenigen, die heute aus ihrer Unzufriedenheit heraus unsere Republik verächtlich machen und bekämpfen, können sich nicht auf die beiden als Kronzeugen berufen.  Dazu liegt beiden zu viel an einer stabilen und respektierten staatlichen Ordnung.

Freiheit und Verantwortung

Und Eines ist auch entscheidend am Freiheitsverständnis bei Paulus wie bei Luther: Freiheit geht bei beiden immer mit Verantwortung einher.

Paulus schreibt:

Denn in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, etwas.

Bei Jesus gelten nicht unsere Äußerlichkeiten, unsere Statussymbole etwas. Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nächstenliebe realisiert. Die Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird. Paulus wie Luther sind davon überzeugt, dass die Freiheit durch Christus nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas ist.

Luther will das so verstanden wissen: Durch das tiefe Vertrauen auf Jesus Christus haben wir die Freiheit, uns um Andere zu kümmern. Wir müssen nicht Nabelschau betreiben und immer unser Seelenheil bangen. Weil wir frei von dieser Sorge sind, können wir Andere in den Blick nehmen. Freiheit bedeutet biblisch und reformatorisch niemals Rücksichtslosigkeit. Freiheit bedeutet Verantwortung. Verantwortung für mich und meine Mitmenschen. Jede errungene Freiheit geht mit Verantwortung einher und das durchzieht alle Dimensionen der Freiheit. Meine Freiheit ist wertlos, wenn ich durch ihr Auskosten die Freiheit eines Anderen beschneide. Meine Freiheit ist wertvoll, wenn ich sie mit Anderen zusammen auskosten kann. Ich wünsche mir, uns allen, Ihnen viele Erfahrungen dieser gemeinsamen Freiheit.
Freiheit, die sich in gegenseitiger Rücksichtnahme realisiert. Freiheit, weil wir dann einmal gemeinsam die Pandemie überwunden haben werden.
Freiheit, weil es irgendwann auch mal wieder ohne Masken geht.
Freiheit im Ruhestand.
Freiheit, weil uns manche Steine vom Herzen fallen.
Freiheit, weil wir wissen, dass Christus uns liebt.
Denn:  Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Amen.

Rezension zu: Erik Flügge, „Nicht heulen, sondern handeln“

Erik Flügge: Nicht heulen, sondern handeln. Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft, Kösel-Verlag, München 2019, 90 Seiten, 12,00 Euro.

Diese Rezension erschien zuerst im Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin: MdEZW 83/2 (2020), S. 154–158.

Mit seinem ersten Buch erklomm er die Spiegel-Bestseller-Liste („Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“, 2016), bald folgte eine zweite, ebenfalls viel gelesene Kirchenreformschrift („Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“, 2018, gemeinsam mit David Holte). Im letzten Jahr hat sich der Politikberater und freie Autor Erik Flügge dann ausdrücklich die evangelische Kirche vorgenommen, mit einem schmissigen Plädoyer für einen protestantischen Neuaufbruch. Er findet damit erneut gehörige Resonanz.

Man wird von einem Text dieser Gattung und Kürze keine sorgfältigen Analysen und abgewogenen Urteile erwarten. Hier wird nicht differenziert argumentiert, sondern provokativ zugespitzt. Dabei werden subjektive Beobachtungen, Empfindungen und Ideen im Schwung der Rede zu Behauptungen mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Aber der Duktus apodiktischer Selbstgewissheit ist nicht so sehr Ausdruck von Selbstgefälligkeit als Mittel rhetorischer Verschärfung. Flügge weiß, dass seine Rede Leserinnen und Leser in Teilen „wütend machen“ (15) wird, und er will sie wütend machen.

Dagegen ist wenig einzuwenden. Entscheidend ist, ob es sich um eine produktive Provokation handelt. Warum sollte man sich nicht einmal von den Eindrücken und Einfällen eines jüngeren Zeitgenossen herausfordern lassen, wenn es der Zukunft des Protestantismus dient? Dass Flügge selbst ein „liberaler Katholik“ ist, den ein Faible für das Protestantische zum Schreiben treibt, tut hierin nichts zur Sache. Was also hat er zu sagen, nach Abzug aller dem rhetorischen Effekt geschuldeten Einseitigkeiten, Pauschalisierungen und Überspitzungen?

Der Basissatz seines Thesenbuches lautet, nicht ganz überraschend: Es steht schlecht um den Protestantismus. Diejenige christliche Konfession, die die moderne Welt geprägt hat wie keine andere, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. In den Kirchen herrscht gähnende Leere. Das Alter der wenigen Gottesdienstbesucher ist so hoch wie die atmosphärische Tristesse tief. So versinken die Kirchenleute „in ständiger Trauer über den langsamen Niedergang“ (16). In archivarischer Traditionsfixierung versäumen sie es, endlich nach vorne zu schauen und das Alte „zugunsten des schöpferisch Neuen“ (20) entschieden hinter sich zu lassen. „Wie erhebend wäre jener Moment, in dem sich ein Protestant loslöste von der Vergangenheit und eine Wand einschlüge. Die Wand einer Kirche, damit die Welt von draußen hineinbricht. Damit das geschäftige Treiben auf unseren Einkaufsstraßen in die Kirche hineinbrandet. Damit die Flut der Nachrichten rund um die Welt das Innerste des Kirchenraums durchflutet.“ (20)

Flügges Grunddiagnose ist eine rhetorisch dramatisierte Reformulierung des kirchensoziologischen common sense. Sie ist nicht falsch. Aber dann seine Lösungsparole: die Wand der Kirche einschlagen, damit die Welt hineinbricht, hineinbrandet, hineinflutet. Das Bild scheint direkt dem Programm eines politischen Nachtgebets von 1974 entnommen und gehört zu den abgegriffensten Reformmetaphern der letzten Jahrzehnte.

Es folgen Konkretisierungen. Dabei wird man bald mit einer radikalen These konfrontiert. Flügge ruft den protestantischen Leserinnen und Lesern zu: „Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.“ (30) Seiner Ansicht nach lässt sich dem evangelischen Gottesdienst auch nicht durch irgendwelche Umformatierungen neues Leben einhauchen. Warum nicht? Weil die Kanzelrede obsolet geworden ist. „Warum sollte man einer protestantischen Predigt […] lauschen? – Man erfährt ja nichts Neues, sondern nur mittellauwarm Aufgewärmtes.“ (26f)

Nun ist die Klage über irrelevante Predigten ihrerseits so alt wie die protestantische Predigt selbst. Aber die Begründung der Irrelevanzbehauptung lässt aufhorchen. Gottesdienst und Predigt, so Flügge, sind just durch den Siegeszug des Protestantismus selbst obsolet geworden. Denn kraft der reformatorischen Idee vom Priestertum aller Gläubigen wurden die Menschen zu einer Gottesbeziehung befreit, die keiner priesterlichen Vermittlung mehr bedarf ­– Protestanten können auch im stillen Kämmerlein und in der freien Natur gottinnig sein. Und sie wurden befreit zu einer Mündigkeit, die keine pastorale Belehrung von der Kanzel mehr braucht ­– der protestantische Mensch kann selbst in der Bibel lesen und kann sich seinen eigenen Reim auf Gott und die Welt machen.

Der Erfolg des Protestantismus also hat Gottesdienst und Predigt überflüssig gemacht. Darum spricht Flügge seinen Leserinnen und Lesern tröstend zu, „dass das Ende des Gottesdienstes Sie nicht erschrecken muss, sondern erfreuen könnte“ (34). Es ist dementsprechend endlich die „Möglichkeit eines Protestantismus ohne Gottesdienst“ (31) mutig ins Auge zu fassen und wohlgemut zu bejahen, um sich der beschriebenen Dauerfrustration zu entledigen. Freilich rechnet der Thesenautor mit heftigem Widerstand gegen diese Option. Denn seiner Erfahrung nach wird die Überzeugung vom Gottesdienst als „Mittelpunkt einer Kirche“ (31) von der protestantischen Funktionselite als unantastbares Dogma ins Feld geführt, auch wenn sie durch das Fernbleiben von 97% der Kirchenmitglieder Sonntag für Sonntag als Zeichen einer binnenkirchlichen „Verweigerung der Realität“ (31) entlarvt wird.

Die „Realität“ auf seiner Seite zu wissen, ist immer gut. Und tatsächlich ist die Wirklichkeit der Zahlen ja kein schwaches Argument. Der Gedanke, das Ausbleiben der allermeisten sei ein Beweis für die Verzichtbarkeit des Gottesdienstes, ist nachvollziehbar. Man sollte ihn auch nicht reflexhaft mit der Berufung auf Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses erledigen. Aber sicher genügen die Überzahl der Fernbleibenden und die Ideen Gottunmittelbarkeit und Mündigkeit nicht als Argumente für die Abschaffung. In welchem Verhältnis steht der beträchtliche kirchliche Ressourcenaufwand zu der Erbauung, die der Gottesdienst nicht wenigen Menschen immer noch zu bieten scheint? Welchen Beitrag leisten dazu neben der Predigt die Musik, das gemeinsames Singen und Beten? In welchem Verhältnis steht der Wert des Gottesdienstes für die Anwesenden zu der Relevanz für die Abwesenden, welche Religionssoziologen mit dem Begriff der „stellvertretenden Religion“ (Grace Davie) geltend machen? Lässt sich überhaupt eine Religionsgemeinschaft ohne ein symbolisches Zentrum in einem institutionalisierten Ritus denken? Eine Erwägung dieser komplexen Fragen darf man in dem Provokationsbuch nicht suchen. Aber sie wird von ihm immerhin – provoziert.

Auch im Weiteren überdeckt der Hang zur Radikalität fast die bedenkenswerten Impulse. Denn Flügges Vision eines Protestantismus ohne Gottesdienst ist zwar überspitzt, aber nicht in jeder Hinsicht abwegig. Sie nimmt die alte kulturprotestantische Idee einer Religiosität im Gewand der Kunstandacht auf. „Haben Sie schon einmal auf einem Kirchenkonzert in einer protestantischen Kirche nur die Gesichter beobachtet? Eine stille Zufriedenheit in jedem Menschen, der da ist. Viele Augen geschlossen und ganz konzentriert auf den Moment. Es sind diese Augenblicke, für die ich diese Konfession liebe.“ (37) Wie andere vor und neben ihm macht Flügge darauf aufmerksam, dass es in der Moderne auch eine christliche Religiosität oder „Spiritualität“ jenseits kirchlicher Formen gibt, die als ernstzunehmende Gestalt von Christentum zu würdigen und von der Kirche zu fördern ist. Da der Sinn für die ästhetischen Spielarten des Religiösen durchaus nicht überall anzutreffen ist, kann man diesen neuerlichen Hinweis umstandslos begrüßen. Gleichwohl sind auch hier Rückfragen angebracht: Ist das Besucherpotential bei Kirchenkonzerten wirklich so viel größer als bei Gottesdiensten? Sind nicht die bürgerlichen Bildungsvoraussetzungen eher noch höher als niedriger? Wie oft passiert es außerdem im Konzert, dass sich die kontemplative Innerlichkeit gar nicht einstellen will, weil einem die Tonkunst äußerlich bleibt?

Nach dem Gottesdienst widmet sich der Autor zwei weiteren Identitätsmerkmalen des Protestantismus: dem Rekurs auf die Bibel und auf den Reformator. Wieder legt er den Finger in offene Wunden und fordert damit legitimerweise zur Auseinandersetzung heraus. Seit Antike und Reformation hat sich der Abstand zwischen den biblischen Texten und der Welt der Gegenwart massiv vergrößert. Auch das ist keine neue Einsicht, aber Flügge bringt ein daraus resultierendes Grundproblem gut auf den Punkt. Der konstitutive Schriftbezug macht die protestantische Frömmigkeit umwegig und daher schwergängig: „Weil sich der erklärende Text“, der den Abstand zu überbrücken hat, „immer mehr in die Länge ziehen muss.“ (47) Dazu kommt die distanzierende Wirkung des historischen Bewusstseins, das sich von der Bibel nicht fernhalten lässt. Um ihrem „Relevanzverlust“ (48) entgegenzutreten, fordert Flügge: „Schreiben Sie die Bibel endlich fort.“ (48) Weil dem Protestantismus aber die Aktualisierung im katholischen Modus lehramtlicher Auslegung nicht zu Gebote steht, kann er nur auf die Fortschreibung durch einen neuen Propheten oder eine neue Prophetin hoffen. Sonst droht ihm die Vergreisung.

Luther war einst ein solcher Prophet. Aber: „Luther ist tot.“ (51) Seine Aktualisierung der Schrift hat sich überlebt, weil der geistige Abstand der Gegenwart auch zur Reformationszeit immer größer wird. „Mit jedem Tag, der vergeht, verliert Luther an Aktualität. Egal, wie sehr man die Aktualität Luthers auch als Kirche immer neu beschwört.“ (52) Natürlich ist das wieder provokativ formuliert. Ob sich aber Theologie und Kirche zu oft damit begnügen, lutherische Schlüsselgedanken zu reformulieren und zu erklären, wird man immerhin fragen dürfen. Auch hier trifft es zu: Der dominierende Reformationsbezug macht die protestantische Frömmigkeit schwergängig, weil er immer längere Erläuterungen erfordert.

Sollte sich aber ausgerechnet die Hoffnung auf eine neue Prophetin als Ausweg aus der Vergreisungsgefahr und aus der „Ecken- und Kantenlosigkeit“ (66) der modernen Synoden- und Funktionärskirche empfehlen? Könnte ein solcher Prophet die „innere Ausgebranntheit der gesamten Kirche“ (26) und den von Flügge dafür maßgeblich verantwortlich gemachten Zweifel an der leiblichen Auferstehung überwinden? Und kommt wirklich die vorgeschlagene Direktwahl von Reformimpulsgebern „auf Zeit“ durch alle protestantischen Christen weltweit als ein Mittel zur Prophetenfindung infrage? Flügge ahnt selbst, dass er mit diesen Vorschlägen ins Abwegige gerät. Aber man kann aus ihnen den Appell an die „frei denkenden Menschen“ (74) in Theologie und Kirche ableiten, ohne traditionalistisches Korsett (wohl aber mit Traditionsbewusstsein) nach gegenwartsplausiblen Gestalten von Christentum zu suchen. Dass sie sich dann auch breitenwirksam durchsetzen, steht nicht in der Macht institutioneller Organisation.

Blickt man auf die Lektüre zurück, bleibt das Gesamtbild zwiespältig. Flügges Pathos radikaler Infragestellung ist anstrengend, und es wirkt in seiner Überspanntheit zugleich sehr medienmarktförmig. Aber obgleich die Lösungen zu kurz greifen, enthält das Büchlein doch einige produktive Denkanstöße. Es ist ihm daher trotz allem zu wünschen, dass es noch einige Leserinnen und Leser findet. Bald wird es wieder vergessen sein. Eine Provokation, die Reformen oder gar Reformationen hervorrufen will, braucht mehr Substanz.

Martin Fritz

Vom Predigen. Widersprüche zu #abkanzeln

von Niklas Schleicher

 

Wir haben vor zehn Jahren erfolgreich die Idole getötet
Und jetzt hängen wir im Zuckerbergwerk, labern nur Blödsinn
Und ich weiß ihr wollt ’ne Hymne und ’ne provokante Botschaft
Doch ich stolper‘ zwischen Prediger und kollektiver Ohnmacht
Scheiß auf Jugendrebellion, ich hab‘ die Faxen dick
(Disko Degenhardt: „Der Druck bleibt“)

 

cara

Heute predige ich darüber, dass man es nicht verhindern kann, Fehler zu machen, aber dass man bei allem versuchen kann, Mensch zu bleiben, denn das ist immer gut. (@PastoraCara)

Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch zum Artikel von Hanna Jacobs (https://www.zeit.de/2018/44/religioese-reden-predigt-abschaffung-sermon-kanzel). Ich habe weder Erfahrungen im Vikariat oder im Pfarramt, noch bin ich Praktischer Theologe, der sich berufsmäßig mit der Geschichte und der Praxis protestantischer Predigt beschäftigt. Meine gehaltenen Predigten lassen sich bequem an zwei Händen abzählen. Und ja, auch ich rege mich mehr über Predigten (oder Predigtideen) auf, als dass ich diese gut finde. Also: Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch. Es wird widersprochen und widersprochen werden: @FrauAuge hat in einem Tweet-Thread differenziert darauf hingewiesen, dass man mehr Freiräume für gute Predigten braucht. Der Blog „Homilia“ hat geantwortet und die richtigen Anliegen aufgenommen. Und die niedersächsische Landessuperintendentin Petra Bahr wird diese Woche bei „Christ und Welt“ respondieren. Alles berufenere Menschen, die sich gewählter ausdrücken und differenzierter argumentieren.

Ich sollte nicht widersprechen: Selbst hier bei NThK gibt es bessere: Claudia Kühner-Graßmann ist praktische Theologin und kann sehr differenziert die Praxis religiöser Rede reflektieren. Tobias Jammerthal ist Vikar und verfügt außerdem über breites geschichtliches Wissen. Die stilistische Schärfe von Tobias Graßmann erreiche ich kaum. Und lustiger wäre der Widerspruch sicherlich, wenn ihn Julian Scharpf verfassen würde.

buiting

Heute Nacht geträumt: Priester steigt von der Kanzel und fragt anstelle einer Predigt: “ Mal ehrlich: Wie geht’s euch, Leute?“ Und dann wird erzählt. Und zugehört. Und geweint. Und umarmt. Und die Kirchentür ist geöffnet dabei. Himmelweit. Ist mein Traum irgendwo Wirklichkeit? (@HannaBuiting)

Andere müssten widersprechen. Und warum überhaupt: Folgt Hanna Jacobs nicht ganz präzise einem Trend? Hat sie in ihrer Deskription recht? Ich meine, man muss nur auf den Powertweet einer anderen Hanna, Hanna Buiting, schauen: Runter von der Kanzel und zuhören, dass ist doch das, was die Menschen brauchen. Und dann: Trage ich hier wieder persönliche Aversionen ein? Bin ich nur neidisch, dass ich nicht in der „Christ und Welt“ schreiben kann, sondern nur ab und zu mal in einem kleinen Blog meine kleinen Dummheiten in die Welt schreibe?

Nein, andere sollten widersprechen: Die Exegeten und Exegetinnen vielleicht. Sie sollten bemerken, dass die biblischen Bücher zu einem guten Teil von Reden berichten oder sogar in stilisierter Redeform abgefasst sind. Dass Jesus vor allem auch als Lehrer wirkte, als einer der sprach, ja, der auch monologisierte. Und Paulus. Und auch die Propheten. Und Mose. Sie sollten darauf hinweisen, dass die christliche Religion und ihre Wurzel, das Judentum ganz eminent auf gesprochene und verschriftlichte Rede angewiesen war. Ja: Schon im Ursprung war das Christentum eine Religion des Wortes, und das gilt auch ohne das man auf den Johannesprolog aufmerksam machen müsste.

elektropastor

@hannagelb Werde am Reformationstag die Gemeinde über Gal 5 diskutieren lassen. 30-45 Minuten, mit alkfreien Cocktails. Kurzes Minifazit am Ende mit den Ergebnissen der Leute. Leserbrief zum dk-Artikel: Ohne Predigt kein Gottesdienst. Finde den Fehler. #abkanzeln (@elektropastor)

Es sollten andere widersprechen. Die Kirchengeschichtler und Kirchengeschichtlerinnen bestimmt. Mit Luther zum Beispiel. Denn freilich: Reformation war ein Medienereignis. Der Buchdruck und die Bibelübersetzung waren wichtig. Aber durch welche Schriften wurde Luthers Lehre verbreitet? Was war das, was wirkte? Es waren: Predigten. Entweder gehaltene oder eben: Gedruckte. Aber es waren Predigten. Klar, Luther ist vorbei. Aber danach Schleiermacher und seine Reden. Oder im Kirchenkampf. Oder. Oder.

knuuut

Jede Predigt muss bis 2021 auf einen Bierdeckel passen. #abkanzeln (@knuuut)

Oder möglicherweise die Dogmatiker oder Dogmatikerinnen: Sie sollten darauf hinweisen, was in der Schrift zur Rechtfertigungslehre der EKD (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2014_rechtfertigung_und_freiheit.pdf) nochmal deutlich hervorgehoben wurde: Es sind eben nicht nur vier reformatorische Exklusivpartikel (gratia, fide, christus, scriptura), sondern fünf. Solo verbo: Das zugesprochene, ja, eben auch das verkündigte Wort ist es, so Gott und sein Geist will, das den Sünder in die Gnade ruft. Vielleicht müsste der Dogmatiker oder die Dogmatikerin auch sagen, dass hier bei Hanna Jacobs der Rahmen des lutherischen Bekenntnisses, wenn nicht verlassen, so doch wenigstens herausgefordert ist. Aber gut, möglicherweise ist das auch altertümlicher Blödsinn und heute muss es anders gedacht werden.

Aber vielleicht widersprechen auch die praktischen Theologen und Theologinnen und machen deutlich, dass die Predigt eben auch ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation des Evangeliums ist. Ich weiß nicht, vielleicht irre ich mich, aber die Homiletik als Teildisziplin ist eine, die einen relativ hohem Innovationsgrad hat. Sei es szenisches Predigen oder die Semiotik. Vieles Neue findet den Einlass in die Praktische Theologie und damit auch in die Theologie als Ganzes über den Trichter der Homiletik.

gayk

Statt einer Predigt gab es heute eine Frage: Was gibt dir Kraft? #abkanzeln (@julegayk)

Nun ja, das sind alles fachwissenschaftliche Debatten. Dann sollten vielleicht die Pfarrer und Pfarrerinnen widersprechen. Sie müssten sagen, dass Sie sich der Abständigkeit vieler Predigttexte durchaus bewusst sind, ja daran auch oft fast verzweifeln, aber Sonntag für Sonntag, Predigt für Predigt ihr Bestes geben, um das, was diese Texte auch in der (Post/Spät/Wasauchimmer-)Moderne dem Hörer oder der Hörerin bedeuten kann, auszulegen.

Es geht im Artikel ja aber um die Menschen, vielleicht müssten diese, die Menschen, die Sonntag für Sonntag im Gottesdienst sitzen, widersprechen. Sie müssten sagen: Woher, im Namen des Allmächtigen, weißt du denn, was meine Fragen sind? Glaubst du, nur weil du deine Probleme kennst, kennst du auch meine? Oder Sie müssten sagen: Nur weil du die Predigt, ja selbst deine Predigt nicht gut findest, weißt du noch gar nicht, was Sie in diesem Moment für mich bedeutet. Sei es, weil es für mich eine Tradition ist. Sei es, weil mich diese Auslegung trifft. Sei es, weil mich nur ein Satz berührt.

marthori

Mir spricht das aus dem Herzen, weil ich mich längst von der Predigt verabschiedet habe. Ich gehe kaum noch in Gottesdienste – vor allem wegen der Predigt. Ich ertrage sie einfach nicht mehr. (@marthori)

Oder sie müssten sagen: Klar, wenn ein Pfarrer von der Kanzel steigt und fragt, wie es geht, ist schön. Aber kann es sein, dass dann eh nur die gleichen reden? Oder dass ich vielleicht in diesem Moment nichts zu sagen haben, nicht reden will oder reden kann, sondern einfach nur hören will. Vielleicht Zuspruch, Aufmunterung oder auch Ermahnung brauche?

Vielleicht müssten Sie widersprechen und sagen: Klar, es ist die konkrete Person, um den es im Protestantismus geht, aber die konkrete Person ist eben nicht nur eine Pfarrerin in einem neuen Gemeindeprojekt in einer deutschen Großstadt, sondern auch der Rentner, die Küsterin, der Konfirmand oder ich. Und vielleicht, ja vielleicht, geht es eben auch manchmal um mich und nicht nur um Pioniere und Wanderer und Raumschiffpiloten.

jacobs

Für meinen Glauben brauche ich regelmäßig Predigten. [Umfrage] #abkanzeln (@hannagelb)

Irgendwie so, aber viel besser und differenzierter müssten es die klugen Menschen sagen. Sie werden, wenn sie es tun,  es differenziert und in Aufnahme der wichtigen und klugen Punkte sagen, die Hanna Jacobs anspricht. Ich nicht. Ich würde sagen: Wer die Abschaffung der Predigt fordert und denkt, dass er so eine protestantische Position vertritt, hat nicht Recht. Ich würde auch sagen: Wer so begründet wie im Artikel, stellt nur das eigene in den Fokus der Überlegungen und vergisst, dass es in der Kirche um mehr als nur mich und meine Richtigkeiten geht. Er sagt ein bisschen sehr viel „Ich“, auch wenn er denkt, dass es ihm immer um das „Du“ geht. Möglicherweise müssten wir nochmal darüber nachdenken, was das eigentlich heißt und von mir fordert, dieses „Kirche“. Aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.

Rezension: Manuel Stetter, Die Predigt als Praxis der Veränderung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik

Anmerkung der Redaktion: Mit dieser Rezension wechselt die Verantwortlichkeit im Ressort „Klassiker und Rezensionen“ von Tobias Jammerthal zu Martin Böger. Tobias Jammerthal sei an dieser Stelle herzlich für die sehr erfolgreiche Arbeit gedankt. Wir freuen uns, dass der „Staffelstab“ für dieses Ressort in Tübingen bleibt und danken Martin Böger, dass er weitermacht. Er liefert selbst die erste Rezension.

Manuel Stetter, Die Predigt als Praxis der Veränderung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik, (APTLH 92), Göttingen/Bristol 2018.

Rezensiert für www.nthk.de von Martin Böger

Predigen verändert die Welt.“ (S. 1) Den Weg, diese einfache und gleichzeitig gehaltvolle Überzeugung wissenschaftstheoretisch näher in den Blick zu nehmen, unternimmt Manuel Stetter in seiner Studie: Die Predigt als Praxis der Veränderung.

Stetter macht es sich zur Aufgabe, eine begründungstheoretische Lücke zu schließen und sich aus wissenschaftlicher Sicht genau jenem Phänomen und jener allgemein anerkannten Erfahrung und Zielsetzung des Predigens zu nähern, die die Hörendenden existentiell ansprechen und verändern will.

Nach einem einführenden Abschnitt, der sich der transformativen Dimension der Predigt anhand ihrer religiösen Beziehungen vergewissert, nähert sich Stetter dem sehr ausführlichen und überaus reichhaltigen materiellen Teil seiner Studie. In diesem beschreibt er detailliert und fachkundig philosophische Entwürfe des Selbst, seiner Selbstdeutung und kritischen Entwicklung. Ziel ist es dabei, die Homiletik in ein fruchtbares Gespräch mit diesen „lebensweltlich situierten Praktiken“ des Transformativen zu verwickeln.

Der materielle Teil gliedert sich in vier Abschnitte, die jeweils einen spezifischen philosophischen-wissenschaftlichen Fachdiskurs beschreiben und deren Erkenntnisse für eine Homiletik mit dem Anspruch der Transformation ausloten.

Im ersten Abschnitt untersucht Stetter kritiktheoretische Perspektiven, die transformative Dimensionen für die Selbstdeutung bereithalten. Zusammengefasst beschreibt Stetter die kritische Praxis als eine Spiegelungskunst, die einerseits ein Bild der bereits realisierten Existenz zu zeichnen vermag und andererseits Räume für Hoffnungen und Zukünftiges eröffnen kann. Daher kann es zur Gretchenfrage werden, ob die Kritik entweder vom Bestehenden (status quo) oder vom Erhofften (status novus) her formuliert wird.

Im zweiten Abschnitt bedenkt Stetter ästhetische Perspektiven, die sich der Predigt als Erfahrunsgraum der Schwelle (Liminalität) annähern. Auf deren Grenze kann der Einzelne die Erfahrungen seines Alltages gesteigert entdecken, beschreiben und reflektieren. Die Predigt, und mit ihr der Gottesdienst, werden so zu einer Kunst der Schwellenerfahrung, die dazu anhebt, die Ästhetik des Alltäglichen in einem experimentellen Charakter auf Zeit zu transformieren und transzendieren.

Im dritten Abschnitt widmet sich Stetter rhetorischen Perspektiven, die darauf abzielen, die transformative Dimension einer zwischenmenschlichen Kommunikation eines Überzeugens anstatt eines Überreden zu deuten und darin das besondere transformative Element einer sprachlichen Kommunikation stark zu machen.

Im vierten Abschnitt, der als eine Art übergeordnete Bezugs- und Rahmenkategorie anzusehen ist, beschäftigt sich Stetter mit dem aktuellen gesellschaftlichen Rahmen des Religiösen, innerhalb dessen die Predigt ihre transformative Dimension zu entfalten hat. Es geht um die Einsicht in die Pluralität des Religiösen und dem damit einhergehenden Pluralismus der Lebens- und Sinndeutungen, inmitten deren sich das Predigtgeschehen zu verstehen und zu positionieren hat.

Stetter benennt das Predigtgeschehen als eine Reflexionspraxis und fasst summarisch den letztendlich angestrebten Reflexionsertrag seiner Studie darin zusammen, die Predigt unter dem Konzept einer Aneignungspraxis zu verstehen. Denn der Begriff der Aneignung schaffe es, (1.) die Balance zwischen Absicht auf Wirkung und Absicht auf Autonomie im Predigtgeschehen zu fassen; (2.) erhelle der Begriff nicht nur den Vorgang der Rezeption, sondern auch der Produktion einer Predigt; (3.) bedenke der Begriff der Aneignung die der Predigt strukturell innewohnenden Dialektik des Rekurses auf und die Überschreitung von individuellen Selbstentwürfen und schaffe es (4.) im Predigtgeschehen die Überschreitungs- und Rekursionskunst für eine Selbstverständigung und-erschließung des Hörers deutbar zu machen.

Wo sich der Rezensent manchmal etwas in der Komplexität und Dichte der Reflexionen im materialen Teil der Studie zu verlieren droht, zeigt sich eine kleine dornige Herausforderung der Studie: Dem Leser wird keine leicht verdauliche Kost vorgesetzt, sondern eine komplexe und diffizile, deren Verständnis sich erst durch eine eingehendere Auseinandersetzung einstellt. Hilfreich ist es hier, sich an die resümierenden Abschnitte zu halten ein, die den Blick wieder auf das Ganze und das Wesentliche der Grundfragestellung richten.

Stetter schließt mit seiner versierten und beeindruckend detailreichen Studie eine Lücke der homiletischen Reflexion. Ausgehend vom Verständnis der Predigt als einer religiösen Reflexionspraxis zur Selbstverständigung, wird diese spezifische Erwartung an die Predigt aus schwammigen und diffusen Begrifflichkeiten in das wissenschaftlich-systematisierende und herausfordernde Licht von Ästhetik, Rhetorik und Kritiktheorie geführt. In dieser Auseinandersetzung zeigt sich die theologische Homiletik auf Augenhöhe, die den Diskurs und die selbstbewusste Positionierung mit angrenzenden Fachgebieten nicht zu scheuen braucht. Die Predigt ist neben ihrer biblisch-religiösen Dimension eben gerade auf jene kritischen und philosophisch angereicherten Reflexionen angewiesen, um im Vollzug ihr ganzes transformatives Potential entfalten zu können.

 

Martin Böger ist Pfarrer und Repetent am Ev Stift in Tübingen. Für NThK verantwortet er das Ressort „Klassiker und Rezensionen“.

It’s the theology, stupid!

Ein Kommentar von Tobias Graßmann (@luthvind)

Der Kirchentag 2017 ist vorbei und er hat mich irgendwie nicht genug interessiert, um dafür mein Seminar abzusagen und meine Familie einzupacken. Kann sein, dass ich da was verpasst habe.

Das bedeutet allerdings nicht, dass ich gar nichts mitbekommen hätte. Denn so ein Kirchentag sorgt ja auch für Debattenstoff. Debatten sind erst einmal gut. Wenn ich meiner Twitter-Timeline trauen darf, drehten die sich dieses Mal vor allem um den richtigen Umgang mit der AFD. Aber irgendwie ging es auch um Früchtetee und Tassengrößen, was dann mit der großen Frage zu tun haben soll, wieso zu Kirche die falschen Leute kommen und die richtigen entsprechend wegbleiben. Wobei das mit falsch und richtig natürlich niemand so deutlich ausspricht. Muss man auch nicht, ist ja Allen klar.

Man kann diese Fragen immer wieder einmal stellen. Aber man wird in der Diskussion kaum weiterkommen, wenn man das zentrale Problem unserer Kirche ausklammert. Dazu ein kleines Gedankenspiel:

Gehen wir davon aus, ein Mensch „verirrt“ sich in eine evangelische Kirche. Er, nein besser: sie hat auf einer grässlich unübersichtlichen Homepage tatsächlich den Termin eines Gottesdienstes gefunden, hat sich Sonntagmorgen aus dem Bett gequält, sich von der mürrischen Mesnerin ebenso wenig abschrecken lassen wie von dem Kirchenvorsteher, der in seinem missionarischen Eifer dem neuen Gesicht gleich ein wenig übergriffig zu Leibe rückt. Nun sitzt sie da im Gottesdienst und weiß nicht so recht, was sie sich davon eigentlich erwartet.

Wir auch nicht. Aber egal, was sie sich erwartet – was erlebt diese Person in unserer (ok, etwas klischeehaft gezeichneten) Gemeinde? Lieder, bei denen die Gemeinde eher zaghaft mitsingt, eine beliebig zusammengestückelte Liturgie und dann endlich die Predigt. Deren Plot lässt sich in etwa so zusammenfassen: „Wer den Nächsten lieben will, muss erst einmal sich selbst lieben. Gott liebt uns so, wie wir sind. Wenn man das ganz fest glaubt, dann wird alles gut.“ Dazu noch irgendwelche privaten Erlebnisse des Pfarrers, die man im Telefongespräch mit der besten Freundin wohl kaum berichtenswert fände. Irgendwie haben sie es trotzdem in die Predigt geschafft, wahrscheinlich für den Lebensweltbezug.

Falls sich diese Person davon angesprochen fühlt, kommt sie nächste Woche wieder. Und hört mehr oder weniger das Gleiche. Und wieder. Und wieder. Wie lange tut man sich das als vernünftiger Mensch eigentlich an? Weshalb war sie nochmal genau gekommen?

Und hier sind wir an dem Punkt, weshalb die Suche nach fresh expressions of church eben zu kurz greift. Es geht bei der Krise unserer Kirche nicht oder zumindest nicht nur um den Ausdruck, der frisch und modern werden muss. Es geht nur am Rande um Gottesdiensformen, um Milieuverengung, um Kekse und Früchtetee.

Zu oft servieren wir den Menschen in unseren Gemeinden ein theologisches Sparmenü. Wir köcheln es zusammen in den Geschmacksvariationen „Großvater erzählt“, „Frauen in der Mitte des Lebens“ oder „Kindermutmachgottesdienst“. Wenn wir unserer Menükarte jetzt noch ein paar neue Gerichte dieser Art hinzufügen, zugeschnitten etwa auf die „urbanen Twentysomethings“ oder so, dann sprechen wir vielleicht eine Handvoll neuer Leute an. Ein paar Müde und Beladene werden schon kommen; solche, denen die Botschaft erst einmal egal ist, weil sie einfach Anschluss und Trost suchen. Tolle, wertvolle Menschen, gewiss – aber was ist mit den Anderen?

Das schwarze theologische Loch, das viele Predigten so austauschbar und banal macht, lässt sich nicht mit Beamerunterstützung, neuen Songs, professionellen Homepages, stylischen Plakaten, schicken pastoralen Outfits und abgefahrenen Veranstaltungstformaten stopfen. Auch nicht durch tätige Nächstenliebe oder diese „ganz besondere Gemeinschaft“, die immer bloße Behauptung war. Und schon gar nicht durch billiges Moralisieren, das sich politisch gibt, aber genau das Gegenteil bedeutet. Denn wenn wir uns versichern, dass wir irgendwie Aalle gegen Krieg, Klimakatastrophe und Kinderarbeit sind, ist damit für die politische Orientierung mündiger Christenmenschen halt wenig gewonnen. Oder?

Was also ist zu tun? Es wäre erst einmal einzugestehen, dass Gemeindeglieder an kirchliche Veranstaltungen Erwartungen haben. Legitime Erwartungen. Der Einwand, dass da eine theologisch anspruchsvolle Predigt ja wohl nicht dazu gehöre, überzeugt mich nicht im Geringsten. Denn Theologie meint eben nicht verkopftes Geschwafel, sondern Arbeit an Lebens- und Glaubensproblemen. Es geht um die Fragen, die in den Texten der Bibel, aber auch den theologischen Klassikern von Paulus über Augustin und Luther bis hin zu Karl Barth vibrieren – aber heute aus unseren Gottesdiensten weitgehend verbannt sind! Wem das alles zu „churchy“ ist, der oder die wird freilich auch in Film, Musik und Literatur fündig. Auch da begegnen Heil und Verderben, Schuld und Vergebung, Zorn und Versöhnung, Glück und sein Scheitern, Zweifel und neue Gewissheit – all die Eisen halt, die anzufassen wir Prediger oft zu hitzeempfindlich sind!

Wirklich, ich habe hohen Respekt vor Pfarrerinnen und Pfarrern, die sich der Herausforderung stellen, fast wöchentlich in der Predigt etwas Interessantes und Geistreiches über Gott, die Welt und den Menschen sagen zu müssen! Ich kann mir halt nicht vorstellen, wie das gehen soll mit einer Theologie, die sich auf drei Sätze eindampfen lässt. Denn die Wenigsten von uns haben ein so spannendes Leben, dass unsere privaten Erlebnisse Woche für Woche eine Predigt tragen. Und selbst dann interessiert mich Biografie auf der Kanzel eigentlich nur, wenn sie mir etwas über das Leben mit Gott erschließt. Was bitte erschließt es mir, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Blumenzwiebeln einpflanzen, im Wald spazieren gehen oder abends mal ein gutes Buch lesen? Wobei – ich stelle mir bei solchen Banalitäten manchmal die Frage, ob das nicht als best practice aus irgendeiner Predigtmeditation stammt. In dem Fall wären es die Verfasser dieser wenig hilfreichen Hilfen, die mein Zorn trifft.

Denn es macht mich zornig! Es erfüllt mich mit Ärger, dass die Menschen mit ihren Fragen alleine gelassen werden. Etwa Fragen wie: „Wie bekomme ich meinen Glauben mit meinem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild zusammen? Wie erkläre ich meinem muslimischen Freund, warum wir an einen dreieinigen Gott glauben? Wie gehe ich mit Texten in der Bibel um, die mir Angst machen oder mich ratlos zurücklassen?“ Und da ist noch keine große Krise dabei, noch keine Theodizee, keine der letzten Fragen, die sich an der Grenze zwischen Leben und Tod stellt.

Wer die Kirche wieder „relevant“ machen will, muss ihr die theologische Substanz zurückgeben. Und damit wir uns verstehen: Ich habe hier das Beispiel Predigt gewählt, aber das ließe sich für andere Handlungsfelder genauso durchspielen. Für die Schülerinnen und Schüler, die im Hormongewitter der Pubertät mit betulichen Geschichtchen abgespeist werden. Oder Senioren, die sich für die mittelalterliche Geschichte ihrer Kirche interessieren würden, doch geboten wird einmal mehr nur „Fröhlich durch alle Jahreszeiten“.

Theologinnen und Theologendürfen das Negative nicht länger aussparen, das Sperrige, das Dunkle und Fragwürdige, das Spannende. Gebannt hören die Leute nur zu, wenn sie merken, dass die bekannten, die einfachen, allzu rechtgläubigen und bieder moralischen Antworten nicht mehr greifen. Und wir müssen dafür eine Sprache suchen, die nicht museal und pastoral klingt, aber auch nicht zulässt, dass so große Worte wie Heil und Seligkeit, Barmherzigkeit und Gnade sich auflösen in die belanglose Nettigkeit, die in unseren Gemeinden so oft herrscht.

Das kann man dann meinetwegen auch „Fresh X“ nennen.