Nicht meine Freiheit

von Sabrina Hoppe

Denjenigen, die Angst vor der Freiheit haben, war die Sünde schon immer das liebste Thema. Vielleicht haben sie Angst vor der Grenzenlosigkeit der eigenen Gefühle und ihrer Konsequenzen. Vor der Unbestimmbarkeit der Zukunft und der Widersprüchlichkeit der Welt. Vor dem Blick aus fremden Augen.

Die Sünde war schon immer das liebste Thema all derer, die sich auf der anderen Seite der theologisch Liberalen wähnen. Sie bezeichnen sich selbst nicht konservativ, weil das ein politisch besetzter Begriff ist. Manchmal nennen sie sich fromm, weil sich dieser Begriff selbst bereits etabliert hat und fast schon rehabilitiert ist – oder sie nennen sich gerne lutherisch oder noch lieber „reformatorisch“. Dass sich jetzt eine Gruppe junger „reformatorischer“ TheologInnen gerade die „Große Freiheit“ zum Thema gemacht hat, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. „Frei und los“ heißt eine junge Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vergebung der Sünden, die durch Christi Tod in die Welt gekommen ist, als die befreiende Botschaft des Evangeliums neu zu verkünden. Höhepunkt der Arbeit des Vereins, der maßgeblich von der Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland[1] unterstützt wird, soll eine zentrale Konferenz im Mai 2020 in Hamburg sein. Ihr Titel: „Große Freiheit 2020“.

Um welche große Freiheit geht es also hier und warum brauchen wir sie angeblich „gerade heute“ so dringend? Auf ihrer Website schreiben die Veranstalter: „Denn es gibt genug, das uns wieder gefangen nimmt. Eine ganze Welt schleudert uns Maßstäbe entgegen, denen wir gerecht werden sollen: Schönheitsideale, Karrierepläne oder das perfekte Foto für Instagram. Doch Christus bringt uns Freiheit. Sie sieht oftmals anders aus, als wir es erwarten.“[2] Eine gewohnte, ja altmodische theologische Sprachformel: Wir sind gefangen in den Gesetzen der Welt, in den Erwartungen Anderer und ihrer Maßstäbe. Das, was uns Freiheit verspricht, knechtet uns eigentlich nur und macht uns damit unfrei. Wirkliche Freiheit finden wir nicht „im Außen“, sondern innerlich: Durch Christus, der uns von dem Druck befreit, immer genügen zu müssen. Soweit, so richtig, so vorhersehbar. Aber noch einmal nachgehakt: Das perfekte Foto für Instagram macht unfrei? Der sogenannte Gastgeber der Konferenz, Pastor Gunnar Engel, ist ein inzwischen durchaus prominenter You Tube Star, ja vielleicht sogar so etwas wie ein christlicher Influencer. Seine Fotos atmen den Geist skandinavischen Interior-Designs –  weiße Räume, ausgewähltes Mobiliar, auf einem Holztisch liegt eine Bibel (eine ganz besondere natürlich), als deren Lesezeichen ein Büschel Schafgarben dient. Sehr praktisch – Sie merken, lange kann ich meine Polemik nicht mehr für mich behalten. Engels Instagram-Posts bestechen durch ästhetische Perfektion. Die lutherischen „Soli“ schmücken in schwarz gerahmten Drucken den Flur seines Pastorats. Das Bild einer Aeropress, versehen u.a. mit den Hashtags #church #1517tribe #pastor #solideogloria #bibellesen #digitalekirche #jesuschrist #glauben #kirche #evangelium fehlt natürlich nicht. (Für alle Unwissenden: Es handelt sich um eine Kaffeemaschine.) All das wäre und ist nicht anstößig oder fragwürdig, aber es steht doch in einer gewissen Spannung zur erfolgten Herabwürdigung der modernen Welt mit ihrer äußeren Zwängen und ihrer Fixierung auf Äußerlichkeiten, wie sie als Bild für die Sünde, von der uns Christus befreit, auf der Website beschrieben wird. Und wie sieht es mit den anderen „Maßstäben“ aus, in die uns die heutige Welt hineinzwingt? Tatsächlich scheint es doch eher die Auflösung aller Wertmaßstäbe zu sein, die den Theologen Angst macht: Die Kirchliche Sammlung etwa unterstützt selbstverständlich nicht die Öffnung der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare und Gunnar Engel bekennt sich in seinen Videos offen gemeinsam mit seiner Frau dazu, dass es das Beste für sie war, erst verheiratet zusammen zu ziehen –  klare moralische Vorgaben also, die wenig Raum für eine individuelle Lebensführung lassen, wenn jemand sich nicht immer auf der Grenze zur Sünde bewegen will [3].

Doch die Redner der Konferenz sind nicht nur Pastoren, auch ein Dozent der Neueren Geschichte an der Universität Würzburg [in einer früheren Version war hier von Universität Münster die Rede;  Anm.d.Red.] beteiligt sich mit einem Vortrag. Der Theologe und Historiker Benjamin Hasselhorn kuratierte im Reformationsjahr 2017 die Ausstellung ‚ Luther?! 95 Schätze, 95 Menschen‘ und veröffentlichte daraufhin die sogenannte Streitschrift „Das Ende des Luthertums“, eine theologische Kritik an der Evangelischen Kirche in Deutschland und an ihrem Lutherjubiläum. Hasselhorn vermisst in der Evangelischen Kirche demnach besonders „religiöse Ernsthaftigkeit“. Er beklagt eine Verniedlichung des Gottesbildes, Gottesdienste, die nicht mehr von der Sünde und der Gnade reden, sondern stattdessen eine „Wohlfühltheologie“ verkündeten. Ein weiterer Kritikpunkt besteht für Hasselhorn in der „Politisierung“ der Kirche –  ein beliebtes Narrativ politisch konservativer Gläubiger, die damit zumeist einen „Linksruck“ der Kirche diagnostizieren. Über eine politisch nach rechts driftende Kirche wurde dieser Begriffsstab dagegen noch nie gebrochen.[4] Hasselhorn selbst äußert sich nicht zu seiner politischen Gesinnung, wird jedoch inzwischen von der AfD als Gewährsmann ihrer kirchenpolitischen Gesinnung eingespannt. In ihrem Positionspapier „Unheilige Allianz –  Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen“ verweist die rechtspopulistische Partei auf ein Fazit Hasselhorns, dass sich schon immer „weite Teile des deutschen Protestantismus jeweils dem herrschenden politischen Zeitgeist“[5] angeschlossen hätten. Dass der Zeitgeist, den die AfD kritisiert, in Deutschland insbesondere für eine offene Gesellschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden stehe, macht das Zitat Hasselhorn an dieser Stelle zum Brandstifter in einem sehr trockenen Geäst. Auch auf öffentliche Nachfragen, z.B. von der evangelischen Theologin und Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Wittenberg, Eva Harasta hin, hat sich Hasselhorn nicht von der Rhetorik der AfD distanziert bzw. seine Aussagen nicht ins Verhältnis gesetzt.[6] Für welche Freiheit spricht also Hasselhorn auf besagter frommer Konferenz? Sein Vortragstitel lautet „Die bessere Freiheit: Eine Einführung in Luthers Freiheitsschrift.“ Das könnte Thema eines jeden theologischen Proseminars sein und ist für mich dementsprechend also kein Anreiz zu weiterer Polemik. Es bleibt jedoch gerade deswegen die Frage: Warum muss ausgerechnet ein Theologe wie Hasselhorn zu diesem Thema referieren?

Frei und los –  dieser zugegebenermaßen verführerisch schöne Titel der Konferenz soll zu guter Letzt hier noch eingeordnet werden. Er stammt aus der lutherischen Beichtagende für die Einzelbeichte, die sich an den Großen Katechismus Luthers anlehnt und im Ganzen lautet: „Der auferstandene Jesus Christus sprach zu seinen Jüngern: Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben. In der Vollmacht, die Jesus Christus seiner Kirche gegeben hat, spreche ich dich frei, ledig und los: Dir sind deinen Sünden vergeben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Geh hin im Frieden des Herrn.“[7] Die Einzelbeichte ist heute im pastoralen Alltag selten geworden. Das spricht nicht gegen ihre große entlastende und reinigende Funktion, auch nicht gegen ihre theologische Legitimität. Aber es lässt wiederum fragen, warum gerade die Absolutionsformel das ist, was junge „reformatorische“ Theologen heute als Inbegriff evangelischer Freiheit formulieren. Um nochmal zu meiner Ausgangsfrage zurückzukehren: Von welcher großen Freiheit ist hier die Rede? Was vermissen die Menschen meiner Generation an Freiheit dementsprechend und wie konkretisiert es sich in meinem Leben, wenn ich diese „biblische Freiheit“ in Hamburg im Mai 2020 suche? Das Werbevideo verrät mir davon nichts. Dort sehe ich lediglich, wie die Absolutionsformel Buchstabe für Buchstabe mit schwarzer und roter Tinte geschrieben wird, untermalt mit dramatischer Musik und in der zuvor beschriebenen perfektionierten Hipster-Ästhetik. Die so wirkungsvoll in Szene gesetzten Worte haben ihren biblischen Ursprung übrigens im Jesaja-Buch. Dort heißt es: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!“  (Jes 58,6) Der Vers ist die Antwort auf die Frage danach, wie das „rechte Fasten“ nach Gottes Willen aussieht: Es ist das Ende der Unterdrückung. Die Befreiung der Gefangenen. Das Sattmachen derer, die Hunger haben. Es sind Worte von politischer, gesellschaftlicher und existenzieller Brisanz. Es sind Worte von einer großen Freiheit, die nicht in einer engstirnigen Moralität aufgeht. Worte, die keine Angst davor haben, den Wohlhabenden zu Leibe zu rücken. Für mich sind es Worte für eine Kirche, die keine Angst vor selber denkenden Menschen hat. Ich bin gespannt, wie die Referentin und die Referenten der Tagung im Mai diese Freiheit entfesseln. Und warte auf eine Antwort auf die Frage, warum wir gerade jetzt eine solche Freiheit brauchen. Bis dahin nehme ich mir einen pinken Filzstift und male Krönchen auf die schönen Instagram-Fotos in meinem Handy, lese in meiner blauen Schmetterlingsbibel, trinke Kaffee aus dem Vollautomaten und spende für das Schiff der EKD, das sich an den Zeitgeist anbiedert.

Dr. Sabrina Hoppe ist Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

[1] Auf ihrer Website beschreibt die Kirchliche Sammlung wie folgt, warum es sie geben muss: Die Grundlage unseres christlichen Glaubens sind die Bibel und die Lutherischen Bekenntnisschriften. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) ist jedoch in der Gefahr, sich davon zu entfernen und sogar elementare Glaubensinhalte dem Zeitgeist zu opfern und sich dem gegenwärtigen Meinungsstrom anzupassen. Das betrifft vor allem die zentrale Bedeutung von Jesus Christus und die verbindliche Autorität der Bibel als Wort Gottes, aber auch wichtige ethische Positionen. Säkularisierungsprozesse gefährden die Kirche von innen. Vgl. https://www.kirchliche-sammlung.de.

[2] https://www.freiundlos.de/grossefreiheit2020/

[4]                  Zur Frage „Ist die Kirche zu politisch?“ äußerte sich präzise und trotzdem umfassend der Kulturbeauftragte de EKD Claussen: https://zeitzeichen.net/node/7849

[5]                  https://afd-thl.de/wp-content/uploads/sites/20/2019/06/Kirchenpapier_Onlineversion.pdf, S.7, zitiert nach Benjamin Hasselhorn, Das Ende des Luthertums, Leipzig 2017, S.157.

[6] Vgl. dazu Eva Harasta auf Twitter: https://twitter.com/HarastaEva/status/1174322748530855936

[7]                  Zitiert nach Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, S.660.

[3]                    Anm.d.R.: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Gunnar Engel (und zwar hier) empfiehlt, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Er machte uns darauf aufmerksam, dass das so nicht gesagt wurde. Da er Recht hat, ist diese Stelle geändert worden.

Theologische Brandstiftung

Ein Kommentar zu Frischs Klimakrisenkritik

von Hermann Diebel-Fischer

Ralf Frisch kommentiert cum ira et studio für Zeitzeichen unter der Überschrift Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer die Klimakrise, die er als »Klimahysterie« bezeichnet.

Es ist ein Aufkleber mit der Aufschrift ›Fuck you Greta!‹ (sic!), der Frisch in seinen Bann zieht und ihn darüber sinnieren lässt, ob er als Theologe sich »theologisch angemessen« verhielte, klebte er diesen Aufkleber auf sein Fahrzeug. Dieses Nachdenken ordnet Frisch als Provokation ein, die er um des Wahrgenommen-werdens willen begeht, um gleich darauf nach weiteren Gründen zu suchen. Frisch sieht seinen Verzicht auf den »provokanten Protest« als Resultat einer theologischen Affektkontrolle, will aber dennoch ein Fünkchen Wahrheit in der nicht vollzogenen Protestaktion erkennen und meint, diese theologisch begründen zu können.

Frischs Kritik richtet sich nicht nur persönlich gegen Thunberg, die er als humorlose »Prophetin« des von ihm entdeckten »Klimagottes« beleidigt, sondern vornehmlich dagegen, dass seiner Ansicht nach der Klimawandel an die Stelle tritt, die durch die Säkularisierung freigeworden scheint – an etwas Großes zu glauben, mit allen Konsequenzen, die dies vermeintlich hat. Er sieht hier Konkurrenzverhältnis zwischen der Reaktion auf die von Thunberg – wissenschaftlich belegten und somit berechtigtermaßen – aufgezeigten Probleme und dem christlichen Glauben, der – so die Zahlen – sich gerade weniger eines konjunkturellen Aufschwungs erfreuen kann.

Ist es Trauer um das Verlorengehen einer volkskirchlichen Tradition, die hier zu einer theologisch verqueren Reaktion führt? Wenn die Sorge um den Klimawandel dem Protestantismus, zu dessen Kernidee die Unterscheidung von Gott und Welt gehört, tatsächlich als Konkurrenz erscheint – wie steht es dann um ihn? Wie Frisch vom »neuen Glauben« zu sprechen zeugt doch von einer durch Konkurrenzdenken generierten Vergessenheit darüber, was Glaube überhaupt bedeutet.

Die Gemengelage wird dort unübersichtlich, wo Frisch der evangelischen Kirche unterstellt, dass auch in ihren Reihen eine von ihm identifizierte, klimakrisenevozierte, demokratieverachtende Tendenz »schleichend an Plausibilität gewinnt«, denn »[…] es entsetzt [Frisch] geradezu, dass die Bereitschaft, einer Alles-oder-Nichts-Logik zu folgen und totalitär aufs Ganze zu gehen, gerade in der bundesdeutschen Gegenwart wieder fröhliche Urstände feiert.« Dass Forderungen einer gewissen Radikalität nicht entbehren dürfen, um überhaupt Gehör zu finden hat Frisch in seinem Text eingangs noch festgestellt – dann aber scheinbar unterwegs vergessen. Die unterstellte Protestantismuswidrigkeit einer nicht näher erklärten »Schuld-und-Sühne-Logik«, die im Zusammenhang mit Klimaschutzbestrebungen bestehe sowie der Vorwurf einer »schöpfungswidrig[en]« »Alles-oder-Nichts-Logik« sind tiefe Griffe in die theologische Werkzeugkiste – allerdings ohne Erfolg, denn mitnichten wollen sich die Menschen, deren Ziel es ist, die Klimakatastrophe irgendmöglich abzumildern, selbst zu Gott machen, noch haben sie zum Ziel, eine Religion zu etablieren.

Von Frisch als problematisch Wahrgenommenes wird von ihm zur Religion theologisiert und dann zur Häresie erklärt. Das ist eine perfide Abwehrstrategie, die man sich genauer ansehen muss. Sie dürfte politisch nicht neu sein und lässt protestantismustheoretisch alle Alarmglocken ob einer unbotmäßigen Inanspruchnahme theologischer Topoi schrillen. Frischs Parallelisierung alttestamentlicher Erzählungen über die menschliche Hybris wie Gott sein zu wollen mit der Klimaschutzbewegung ist exegetisch durchaus fragwürdig, wird aber richtig skurril, wenn er unter Verweis auf die Zwei-Regimente-Lehre eine theologisch legitimierte Kritik am Klimaschutzstreben zu konstruieren versucht.

Frischs Lamento, dass es keine dogmatischen Häresien, sondern nur noch ethische gebe, schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die Forderung nach einer Entpolitisierung des Protestantismus, die oft nur der Abwehr einer bestimmten politischen Position dient. Seine Kritik, dass der Streit um ethische Fragen den um dogmatische abgelöst hat, rückt die nicht alternde, fundamentaltheologische Debatte darum, wie Ethik und Dogmatik zueinander stehen in den Fokus. Frisch will einen »Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart« ausmachen, vergisst dabei aber, das sämtliche dieser Frage nie in einem dogmatischen Vakuum verhandelt werden, sondern immer mindestens implizite dogmatische Aushandlungen rückgebunden sind, die zweifellos auch jederzeit Gegenstand theologischer Aushandlungen werden können.

Aber schon der Vorwurf »ethischer Häresien« geht hier fehl, weil er das Bild eines Protestantismus zeichnet, in dem es nur die eine evangelische Handlungsoption gibt. Das ist schlicht falsch. Dass Frisch daraus dann die vermeintliche dogmatische Häresie eines menschgemachten Versuchs der Vorwegnahme eschatologischer Versprechen macht, wirkt nachgerade als Folgefehler. Frisch fordert sodann eine ›Ent-Eschatologisierung‹ zum Zwecke einer klareren Debatte: »Das eigentliche theologische Problem wäre dann also nicht die Frage, wie es um das Weltklima bestellt ist, sondern die Tatsache, dass ein neuer Glaube entstanden ist.« Hier schließt sich der Kreis. Die Forderung nach der Ent-Eschatologisierung kann überhaupt nur für denjenigen plausibel sein, der den Versuch einer Klimarettung als Akt menschlicher Anmaßung begreift. Die für Frisch offensichtlich unbequeme Klimaschutzbewegung, wird durch ihn zunächst religiös aufgeladen, damit er dann unter Zündung eines theologischen Tischfeuerwerks den Versuch einer Sprengung derselben vornehmen kann. Wer sich als Theologe in Zeiten einer zunehmenden Entchristlichung und einer Infragestellung des eigenen Lebensstils durch andere an zwei Fronten angegriffen wähnt, darf sich – gerne auch offensiv – verteidigen. Die Strategie dazu will aber gut überlegt sein. Wenn ich, wie im law of the instrument beschrieben, mein Problem erst zum Nagel machen muss, weil ich nur einen Hammer habe, dann sollte ich sie überdenken.

Beinahe vernachlässigbar erscheint in diesem Lichte, dass theologisch Fragwürdiges politisch angereichert wird: Frisch bedient sich eines Potpourris von Ressentiments, wenn er den Klimawandel als geologisches Phänomen mit einem sozialen Klimawandel in Verbindung bringt. »Ökodiktatur« und die Wünsche vermeintlich privilegierter Stadtbewohner_innen werden hier als Motoren einer Wähler_innenwanderung zu den Rechten dargestellt – weil diese sich politisch anders nicht nur nicht mehr repräsentiert, sondern auch diskreditiert fühlen würden.

Frischs Strategie der Einhegung, der Betonung des dünnen Eises und des schmalen Grates, auf dem er sich bewege und die fortwährende Rede von sich selbst in der dritten Person kann man als schamhafte Distanzierung vom eigenen Machwerk in doppelter Hinsicht interpretieren – als vorweggenommene Distanzierung von der Beleidigung Thunbergs und als Distanzierung vom Text, der eben diese einer Reflexion unterziehen soll.

Ralf Frisch wollte gerne den ›Fuck you Greta‹-Aufkleber an sein Auto kleben, hat es aber wegen seiner »theologische[n] Affektkontrolle« nicht getan. Sein – zu einem nach Ansicht der Herausgegebenden »streitbaren« Text geronnenen – theologischer Irrweg offenbart dabei weitaus mehr als es der Aufkleber, der ans Auto sollte, je gekonnt hätte.

 

Hermann Diebel-Fischer ist evangelischer Theologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Systematische Theologie der Universität Rostock (Projekt: „Netz-Stabil“).

 

(Quelle Titelbild: https://www.flickr.com/photos/schrift-architekt/10127383934, CC BY-SA 2.0)

 

Rezension zu: Werner Thiede, Karl Barths Theologie der Krise Heute

Werner Thiede (Hrsg.), Karl Barths Theologie der Krise Heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag, Leipzig 2018.

Rezensiert von Martin Böger

Pünktlich zum 50. Todestag Karl Barths am 10. Dezember 1968 und dem 100-jährigen Jubiläum des Erscheinens seines Römerbriefkommentars 1919 ist es mehr als angemessen, diesen umtriebigen und prägenden Theologen des 20. Jahrhunderts auf verschiedenste Arten und Weisen zu würdigen.

In den Reigen dieser Festivitäten reihen sich erfreulicherweise neue Publikationen. Werner Thiede versammelt als Herausgeber unter dem vielversprechenden Titel „Karl Barths Theologie der Krise Heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag“ verschiedene Autoren, die sich jeweils einem Teilaspekt der barth‘ schen Theologie annähern.

Die einzelnen Beiträge bilden in ihrer Breite die zentralen theologischen Topoi ab, mit denen sich Barth Zeit seines Lebens auseinandergesetzt hat und die in besonderem Maße für seine Theologie stehen: Theologie der Krise, Dialektische Theologie, Abgrenzung zur Liberalen, Offenbarungstheologie, Schriftverständnis; Sünde und Versöhnung, Ethik, Christologische Zentrierung, Theologie, Pneumatologie, Ekklesiologie, Taufe und Eschatologie.[1]

Die einzelnen Beiträge bewegen sich zwischen einer Darstellung der barth’ schen Theologie und einem darauf aufbauenden Transferversuch für ein »Heute«. So vergleichen Harald Seubert und ebenso Christofer Frey die gesellschaftlichen Herausforderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts mit denjenigen des 21. Jahrhunderts und kommen zum Schluss, dass Barths Theologie wahrscheinlich weder damals noch heute dem Zeitgeist entsprechen will, sondern eher zur kritischen Spiegelfigur der eigenen postmodernen Selbst- und Wirklichkeitsdeutung wird. In diese Kerbe schlagen zurecht auch zahlreiche andere Beiträge: Gerade für die pluralistische-postmoderne Gesellschaft in ihrem Diskurs um Wahrheit und Sinn kann die Theologie Barths ein bedenkenswerter Gesprächspartner werden, der so manche postmoderne Denkweisen und Wahrheit(en) kritisch hinterfragen lässt, die um die Begriffe der Autonomie, der Individualität und der Freiheit kreisen.

Für einen lohenden weiterführenden theologischen Diskurs ist Wolf Krötkes Beitrag zu erwähnen, der sich im Gegenüber zu aktuellen Verlautbarungen der EKD zum Thema Taufe mit den für ihn bleibenden Anfragen Barths an die gängige Taufpraxis beschäftigt.

Etwas fragend lassen einen jedoch die Beiträge von Ralf Frisch und Werner Thiede zurück. Frisch deshalb, weil er mit dem kecken Anspruch antritt, die Sündenlehre Barths in drei aktuelle Diskussionslagen zu übertragen: „Die Sünde des Islams“, „Die Sünde der identitären Rechten“ und „Die Sünde der postfaktischen Kultur“. Ob jedoch der Übertragungsversuch auf den islamischen Bereich in irgendeiner Form hilfreich bzw. lehrreich sein könnte, soll hier mindestens mit einem großen Fragzeichen versehen werden, hinterlässt der entsprechende Abschnitt doch viel eher den Anschein, dass das Religionsverständnis des Islams von außen und für die These des Abschnitts einseitig vereinnahmend behandelt wird. Hier wäre für den wichtigen Ansatz des Beitrages ein Beispiel aus dem aktuellen (fundamentalistischen) christlichen Kontext m.E. sprechender und erhellender gewesen. Thiedes Mutmaßungen in Teilen seines Beitrages über den genauen Sterbezeitpunkt Barths, den er über die genaue Sterbehaltung Barths herausgefunden haben will, haben eher etwas mit einer Hagiografie als einem wissenschaftlichen theologischen Diskurs zu tun.

Dem Herausgeber ist in seinem Vorwort zuzustimmen: Barths Theologie lohnt sich – gerade auf dem Hintergrund unserer pluralen, ambiguen und postmodernen Gesellschaft. Und ja, vielleicht hat die Theologie Barths ihre beste Zeit noch vor sich (man schaue nur in den angloamerikanischen Raum, wo Barth als deutlich hipper und anschlussfähiger gilt als hierzulande). In diesen für die Theologie herausfordernden Zeiten sind noch nicht alle Schätze gehoben, die sich in Barths weitverzweigten Werk aufspüren lassen, wenn es um die Sache des Menschen, die Sache Gottes geht; was Kirche ausmacht und wie sich in ihrer Zeitgenossenschaft für die Welt einzusetzen hat.

Treffend schreibt Frey in seinem Beitrag: „Soll Karl Barths Theologie weitergedacht werden, darf sie nicht nur theologisch eingeordnet werden.“ (S. 48) An der einen oder anderen Stelle hätte man den Autoren des Bandes jedoch etwas mehr Mut zu dieser Einsicht gewünscht. So bleiben doch einige Transferversuche zu stark in einer historisch-theologischen Darstellung der Theologie Barths verhaftet.

Daher hinterlässt es einen besonderen faden Beigeschmack, dass keine einzige Frau unter den Autoren zu finden ist und daneben auch niemand, der sich der jüngeren bis jüngsten Generation des wissenschaftlich-theologischen Standes zurechnen könnte (der jüngste Autor ist Jahrgang 1971). Gerade ein solch junger Blick hätte beweisen können: Ja, die Theologie Barths bleibt eine Inspiration und Herausforderung für eine gegenwärtige Theologie im Diskurs für Gegenwart und Zukunft.

 

[1] Harald Seubert, Zwischen den Zeiten: Karl Barths Krisis-Theologie und die Krise der gegenwärtigen Theologie; Christofer Frey, Karl Barth und die »Dialektik der Aufklärung«; Ulrich Beuttler, Radikale Theologie der Offenbarung: Karl Barth und die postmoderne Phänomenologie und Hermeneutik; Matthias Gockel, Barths offenbarungstheologischer Ansatz im heutigen Kontext pluralistischer Religionstheologie; Günter Thomas, Karl Barths pneumatologischer Realismus und operativer Konstruktivismus; Volker Leppin, Karl Barth, die Mystik und das Wort; Christoph Raedel, Barths Schriftverständnis und die historisch-kritische Methode in der Krise; Ralf Frisch, Der nichtige Widerstand gegen die Gnade Gottes: Karl Barths Sündentheologie heute; Hans G. Ulrich, Karl Barths Ethik – Rückblick und Ausblick; Hans Schwarz, Barths Christologie und liberale Dekonstruktionen der Gegenwart; Matthias Heesch, hat die liberale Theologie Karl Barth besiegt?; Eberhard Busch, Karl Barths Lehre von der Kirche – eine notwendige Erinnerung; Wolf Krötke, Der »Dienstantritt« der Partnerinnen und Partner Gottes – die Taufe; Werner Thiede, Karl Barths individuelle Eschatologie und die Krise der Ganztod-Theologie.

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte (Teil II)

Im zweiten Teil des Beitrags unseres Gastautoren Jonathan Spanos zu den Angriffen der bayerischen AfD gegen die Kirchen geht es um antiklerikale Argumentationsmuster und deren Geschichte sowie eine Verortung in den jüngsten religionspolitischen Debatten der deutschen Parteien.

 Link zu Teil I

Antiklerikale und antichristliche Topoi

Drei Gruppen antikirchlicher Argumentationsmuster lassen sich im Umfeld der AfD und der neurechten Bewegungen identifizieren. Teilweise treten sie alleine auf, häufig aber auch in Mischformen.

Vorwurf der verdeckten Agenda

Hierunter fällt der Vorwurf von Ex-AfD-Landeschef Petr Bystron, die Kirchen würden „unter dem Deckmantel der Nächstenliebe“ ein Milliardengeschäft mit der Flüchtlingskrise machen wollen.[1] Seine Kritik enthielt zudem den Vorwurf, die Kirchen nützten Ehrenamtliche für ihre institutionelle Eigeninteressen aus. In diese Kategorie fällt auch die versuchte Stigmatisierung über den Begriff Lobbyismus. Die Klassifizierung als Lobbygruppe assoziiert Eigenschaften wie Profitgier, Heuchelei und Intransparenz. Zudem setzt dieser Vorwurf voraus, es gäbe eine Art Ideal von idealistischen NGOs, die keinerlei institutionelles Eigeninteresse verfolgen.

Vorwurf der Anpassung an den Zeitgeist

Dieser Topos ist im Kontext des rechten Antiklerikalismus besonders verbreitet. Zugleich ist er auch Bestandteil eines langwierigen inneren Aushandlungsprozesses innerhalb der Kirchen wie auch des konservativ-bürgerlichen Spektrums. Die Auseinandersetzung zwischen der CSU und den Kirchen über den Kreuzerlass und die Frage, wer die christliche Prägung Bayerns offensiver vertreten würde, hat das Thema ebenfalls berührt. Besonders dem deutschen Protestantismus wird seit den 1960er Jahren immer wieder vorgeworfen sich zu sehr an den Zeitgeist anzupassen und so seinen eigentlichen christlich-spirituellen Kern wahlweise zu vergessen oder zu verraten. Als Zeitgeistthemen gelten entweder Flüchtlinge (1980er Jahre bis heute), Umwelt (1970er Jahre bis heute), Gender (heute) oder der Verlust der Bezugnahme auf das „deutsche Volk“ (1960er bis 1980er Jahre). Schon nach der sogenannten Ostdenkschrift von 1965 war ein regelrechter brieflicher Shitstorm über die EKD losgebrochen, in dem sich Vertriebenenvertreter entsetzt darüber äußerten, wie die Kirche die Interessen des deutschen Volks verraten könne. Grob vereinfacht: Die verstärkte Internationalisierung der christlichen Kirchen und ihre Zuwendung zu neuen sozialethischen Themen sorgte in konservativen bis rechtsextremen Kreisen wiederholt für heftige Kritik und Widerstand. Schon in den 1980er Jahren, der Phase als in der Bundesrepublik angesichts steigender Asylbewerberzahlen zum ersten Mal umfangreich über die Flüchtlingspolitik diskutiert wurde, lassen sich Elemente des rechten Antiklerikalismus identifizieren. In Zuschriften an die EKD, die Landeskirchen und das Bundesinnenministerium beklagten die Zuschriften, die Kirchen würden der Regierung das Leben schwer machen und Verschärfungen der Ausländer- und Asylpolitik behindern. Geistliche, die sich für Asylbewerber einsetzen, wurden als „Moralisten“ und „Bußprediger“ diffamiert.[2]

Dieser Topos ist bis heute erhalten geblieben, wenngleich er sich bedingt durch die neue Relevanz des Themas Islam bisweilen in gewandelter Form zeigt. Besonders der Dialog der Religionen und die Zusammenarbeit mit islamischen Verbänden wird von rechter Seite oft als eine Anpassung an einen falschen Zeitgeist bezeichnet. Vor diesem Hintergrund inszenieren sich konservative Journalisten oder Politiker als Bewahrer „echter christlicher Werte“, die sich anders als die zu stark dem Zeitgeist verfallene Amtskirche noch gegen äußere Einflüsse zu Wehr setzen könnten. Gerne geht der „Zeitgeist“-Topos mit der Forderung einher, dass die Kirchen mehr über Glaubensfragen sprechen sollten. Einer der prominentesten Vertreter der Forderung nach einer stärkeren Fokussierung der Kirchen auf spirituelle Angelegenheiten ist der bayerische Ministerpräsident und Protestant Markus Söder.[3] Dabei ist zu beachten: Die getroffene Diagnose als solche muss nicht von vorneherein indiskutabel sein. Auch in der Forschung gibt es die These, dass sich Religionsgemeinschaften in säkularisierten Umfeldern an gesellschaftlich akzeptierte Überzeugungen anpassen, um ihre Stellung zu sichern. Zudem wäre es absurd anzunehmen, dass die Kirchen eine von gesellschaftlichen Einflüssen abgeschottete Position hätten und nicht von außerhalb beeinflusst würden. Entscheidend ist aber, ob eine solche Aussage zu dem Zweck getroffen wird, den Vorgang zu verstehen oder zu analysieren oder ihn zu delegitimieren und verächtlich zu machen.

Vorwurf der falschen Ideologie

Dieser Topos ist im rechten Antiklerikalismus aktuell seltener anzutreffen. Bisweilen findet er sich aber in den Kommentaren rechter Trolle im Internet. Er baut auf den Vorwurf auf, christliche Moral und Ethik wären schlecht und würden falsche Einstellungen, zum Beispiel Mitleid gegenüber Flüchtlingen fördern. Björn Höckes Äußerungen in der Forchheimer Rede, in den Kirchen würden „unsere Kinder zu Schafen gemacht“ lassen sich in diese Kategorie einordnen. Auch Diskreditierungen der Kirchen als „Bußprediger“ und „Moralisten“ fallen in diese Kategorie. Zur Verfügung stehen dabei verschiedene Argumente aus den breiten Traditionsbeständen der Religions- und Moralkritik. Anders als im neuen rechten Antiklerikalismus, der ja häufig für sich in Anspruch nimmt „christliche Werte“ vor den Amtskirchen in Schutz zu nehmen, werden religionspolitische Standpunkte im liberalen und linken Spektrum häufiger mit dem Verweis auf solche Argumente begründet. Dahinter steht zum einen die lange Tradition der sozialistischen Religionskritik. Zudem hat der sogenannte New Atheism seit den 2000er Jahren neue religionskritische Figuren in den Diskurs gespült. Ein Beispiel wäre die Bezeichnung „Hirtenmythologie“, die das Christentum diffamieren soll. Dieser Begriff hat mittlerweile den Weg aus dem Umfeld der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung in Anträge auf SPD-Parteitagen geschafft.[4]

Jüngste Entwicklungen in den religionspolitischen Debatten

Welche Folgen die verstärkten Angriffe aus dem rechten Umfeld für die politischen Debatten haben wird, lässt sich aktuell noch nicht absehen. Für die evangelische und katholische Kirche stellt sich spätestens seit dem Einzug der AfD im Bundestag die Frage nach dem Umgang mit den Vertretern und Anhängern der Partei im Alltag. Auf den ersten Blick kann die eindeutige Positionierung der kirchlichen Spitzengremien in der Flüchtlingspolitik im Kontrast zu den Polemiken aus dem AfD-Umfeld nur zu einer heftigen Konfrontation führen.

Werden die verschärften Angriffe von rechts möglicherweise den paradoxen Effekt erzielen, dass sich die Parteien des bürgerlichen und linken Spektrums stärker mit den Kirchen solidarisieren? Angesichts der Stärke der AfD-Fraktionen in einigen Landesparlamenten, besonders in Ostdeutschland, wäre es für deren Abgeordnete ein leichtes Unterfangen, die kirchenpolitischen Themen mit Anträgen und kleinen oder großen Anfragen auf die Tagesordnung zu setzen. Der kommende Landtagswahlkampf in Bayern wird vielleicht entsprechende Reaktionen zeigen. An dieser Stelle lohnt sich noch einmal der Blick auf die Debatten innerhalb anderer Parteien.

Auch die Linkspartei hatte vor der Aufstellung ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahl 2017 eine medienwerksame Auseinandersetzung um die politische Bewertung Staatskirchenverträge.[5] Anders als von der Parteiführung im Entwurf vorgesehen, wurde auf dem Parteitag nach einer Kampfabstimmung ein Passus angenommen, der die Kündigung aller Staatsverträge mit Religionsgemeinschaften forderte. Die Abstimmung geschah zur späteren Stunde, als bereits einige Delegierte auf dem Weg zum Hotel oder zur Bar waren. In der Nacht rauschte der Beschluss des Parteitags durch die Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen. Anschließend fiel immer mehr Vertretern der Linkspartei über Nacht auf, dass das Thema a) auch Verträge mit den jüdischen Gemeinden betrifft b) größtenteils Ländersache ist und man c) Staatsverträge meist nicht einseitig kündigen kann.[6] Führende Politiker der Linken befürchteten daraufhin Schwierigkeiten für den anstehenden Wahlkampf. Teilweise taten sie sich auch schwer damit, die offenkundig falschen Vorstellungen der Antragsteller so stehen zu lassen. Am Vormittag darauf wurde der Beschluss des Bundesparteitags nach einer erneuten, im Ton teils ausfallenden Debatte revidiert und die Forderung wieder aus dem Bundestagswahlprogramm gestrichen – ein auf Parteitagen seltener Vorgang. Die über Nacht entstandene Aufmerksamkeit für den Vorgang verpuffte so schnell wie sie gekommen war. Einzig atheistische Blogger witterten daraufhin einen „religiösen Kniefall der Linken“[7].

An dieser Stelle geht es nicht darum, die Debatte der Linkspartei pauschal mit der antiklerikalen Polemik der AfD gleichzusetzen. Dennoch ist die Posse um das Bundestagswahlprogramm ein eindrückliches Beispiel dafür, was passiert, wenn dieses juristisch und gesellschaftlich komplexe Thema mit weitestgehender historisch-politischer Ahnungslosigkeit und getrieben von Vorurteilen diskutiert wird. Den meisten der Delegierten war der Unterschied zwischen Staatsleistungen und Staatsverträgen nicht bewusst. Ins Bundestagswahlprogramm schaffte es der Passus trotzdem. Die Pointe des Vorgangs: Das flüchtlingspolitische Engagement der Kirchen sowie die besondere Schutzwürdigkeit der jüdischen Kultusgemeinden mussten in der Debatte auf dem Linken-Parteitag dafür herhalten, um die Staatskirchenverträge quasi vor dem Wahlprogramm zu retten. Interessant im Kontrast zu den Forderungen der bayerischen AfD ist daher das Landtagswahlprogramm des bayerischen Landesverbands der Linkspartei. Dieser enthält neben vielen kleineren Forderungen zur Kirchenpolitik sehr differenzierte Aussagen im Abschnitt „Religionsfreiheit“. Zwar wird dort auch der Abbau bestimmter Privilegien gefordert, ansonsten ist der Abschnitt für Linkspartei-Verhältnisse erstaunlich wohlwollend gegenüber den Religionsgemeinschaften. Unter anderem heißt es dort, historisch gewachsene Verhältnisse könnten nicht von heute auf morgen beseitigt werden, daneben wird ein Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden gefordert und das Engagement religiöser Menschen in der Zivilgesellschaft gelobt.[8]

Das gleiche Thema – und zweimal spielte die flüchtlingspolitische Position der Kirchen jeweils die konträre Rolle, um den Erhalt oder die Abschaffung der Staatsverträge (neben anderen Argumenten) zu begründen. Beide Fallbeispiele zeigen, dass es problematisch sein kann, die religionspolitische Position davon abhängig zu machen, ob Kirchen und Religionsgemeinschaften aus der Perspektive der eigenen Partei wünschenswerte Dinge vertreten. Der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers hat auf diese Inkonsequenz in einem lesenswerten Essay hingewiesen. Er bezeichnet die Begeisterung bürgerlicher Kreise über die flüchtlingspolitischen Positionen der Kirchen als „nicht hilfreich“. Wer, ohne die theologischen Gründe des Christentums zu teilen, die öffentliche Einmischung der Kirchen in diesem Falle begrüße, könne sie dann wohl kaum bei anderen, möglicherweise kontroverseren Themen als illegitime Einmischung der Religion in die Politik zurückweisen.[9] In der Tat ist es nur mit größter Mühe vorstellbar, dass Vertreter von Linkspartei oder Grünen die Position konservativer Katholiken in Fragen von Abtreibung und Eherecht lauthals begrüßen würden. Insofern ist die kirchliche Aktivität im Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch eine Anfrage an die Gesellschaft und die politischen Parteien. Deren Vorstellungen von der Rolle der Religionen in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft müssen sich an diesem Fallbeispiel auf ihre Konsistenz prüfen lassen.

Auch die Kirchen sollten es nicht zu einfach machen. Nur weil das Thema Antiklerikalismus mittlerweile nicht nur von Seiten säkularer Liberaler und Linker, sondern vermehrt aus der rechten Ecke gespielt wird, befreit das nicht vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen und Problemen. Die jüngsten Verwicklungen um das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD verdeutlichen dabei zwei für die religionspolitische Diskussion entscheidende Aspekte: Einerseits führen sie deutlich vor, dass dieses Thema ohne Kenntnis juristischer, gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge nicht sinnvoll diskutiert werden kann. Sonst enden religions- und kirchenpolitische Debatten allzu häufig im Austausch von persönlichen Ressentiments und Halbwissen. Und zum anderen führt der aggressive Tonfall der AfD gegen die Kirchen auch vor Augen, dass eine laizistische Position nicht zwingend progressiv-liberal sein muss, wie es die Rhetorik von Religions- und Kirchenkritikern gerne suggeriert. Dieser Standpunkt ist ebenso wenig wie das Kreuz auf der Pegida-Demonstration gegen die Inanspruchnahme und Instrumentalisierung durch den Rechtspopulismus gefeit.

 

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[2] Anonymes Schreiben an das Bundesministerium des Innern, o.D. [vermutlich 1983] (BArch B106/77602).

[3] https://www.zeit.de/2016/47/markus-soeder-kirche-glauben-engagement/komplettansicht

[4] https://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/landespolitik/-2000-jahre-alte-hirten-mythologie–jusos-laestern-ueber-jesus-29451982

[5] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/linkspartei-opposition-regierung-bundestagswahl; Die dazugehörige Erklärung der religionspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion: http://christinebuchholz.de/2017/07/17/ist-die-linke-jetzt-gegen-die-trennung-von-staat-und-kirche/

[6] Phoenix-Interview dazu mit Parteichef Bernd Riexinger auf dem Parteitag am 10.06.2017: https://www.youtube.com/watch?v=1gqOypHuf48&list=PLoeytWjTuSuoX19slBfsaftRwU4vWQ41r&index=18

[7] https://www.atheisten-info.at/infos/info3706.html

[8] Landtagswahlprogramm Die Linke Bayern 2018, S. 59-61: https://www.die-linke-bayern.de/fileadmin/Bayern/Wahlen/Landtag2018/Programm/Landtagswahlprogramm.pdf

[9] Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen). In: Merkur 71 (2017), H. 7, S. 5-16, hier: S. 11.

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte

Unser Gastautor Jonathan Spanos beschäftigt sich in einem zweiteiligen Beitrag mit den Angriffen der AfD auf die Kirchen im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl. Im ersten Teil werden die aktuellen Positionen der Partei politisch und historisch eingeordnet. Im Mittelpunkt stehen das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD sowie eine Wahlkampfrede des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke Anfang August 2018, bei der Höcke unter anderem den evangelischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm verbal attackierte.

Im zweiten Teil, der kommende Woche erscheint, geht es um die Konsequenzen für die aktuelle religionspolitische Debatte in Deutschland.

Jonathan Spanos ist Historiker mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“ an der LMU München.

Religionspolitik ist wieder aktuell.[1] Drei Monate vor der Wahl des Bayerischen Landtags hat der bayerische AfD-Landesverband mit nur wenigen Seiten Wahlprogramm für Aufsehen gesorgt. Die deutschsprachige Huffington Post versieht ihren Artikel zum Landtagswahlprogramm mit der martialischen Überschrift, die AfD erkläre „den Kirchen in Bayern den Krieg“[2]. Die Süddeutsche Zeitung titelt weniger reißerisch von einem Bruch der AfD mit den christlichen Kirchen.[3]

Durch den in der Presse überraschend ausführlich kommentierten kirchen- und religionspolitischen Abschnitt des Landtagswahlprogramms stehen Themen der Religionspolitik wieder im Scheinwerferlicht. Interessant ist, dass das Thema von rechter Seite wieder auf die Agenda gesetzt wird. In den letzten Jahren waren Diskussionen um Religionspolitik vor allem in Parteien des linken und liberalen Spektrums geführt worden. Auch die bayerische FDP macht in ihrem Landtagswahlprogramm zwar nicht das große inhaltliche Fass im Bereich Staatskirchenrecht auf, erhebt aber ebenfalls Forderungen im Feld der Religionspolitik, ohne dass es bisher größere mediale Reaktionen gegeben hätte. Die bayerischen Freidemokraten fordern mit Bezug auf ihre Parteitagsbeschlüsse zur Trennung von Staat und Kirche unter anderem die „Einführung eines gemeinsamen Religionskunde- und Ethikunterrichts“[4] ohne genauer auszuführen, ob damit eine Abschaffung des bisher im Freistaat üblichen konfessionellen Religionsunterrichts mitgemeint ist. Auch angesichts der Tatsache, dass die bayerische AfD im Wahlkampf bisher kaum mit landespolitischen Themen in den Vordergrund drängen konnte und von den Forderungen der FDP keine Zeitung Notiz nahm, ist der Aufruhr erklärungsbedürftig. Die Aufmerksamkeit für das Thema ist zwar auch der traditionell starken Stellung der Kirchen im Freistaat Bayern zu verdanken. Die Auseinandersetzung der AfD mit den beiden christlichen Kirchen hat aber eine längere Vorgeschichte, die sich jetzt im Wahlprogramm des bayerischen Landesverbandes manifestiert. Im Folgenden werden die tagespolitischen und historischen Hintergründe dieser Entwicklung beleuchtet. Einerseits soll es darum gehen, die Elemente der bisweilen bis zur Hetze reichenden Attacken aus der AfD und dem (neu-)rechten Spektrum gegen die christlichen Kirchen politisch und historisch einzuordnen, aber auch Schlussfolgerungen für die religionspolitische Diskussion in Bayern und Deutschland zu ziehen.

Die kirchenpolitischen Forderungen der bayerischen AfD

Der diskutierte Abschnitt des Wahlprogramms steht im ersten Kapitel des Wahlprogramms zum Thema „Demokratie und Staatsverständnis“. Die Forderungen nach einer „Trennung von Staat und Religion“ stehen neben Forderungen nach einer Abschaffung des Rundfunkbeitrags, der Möglichkeit zur Abwahl von AmtsträgerInnen, Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild und einer Halbierung der Landtagssitze.

Auf drei kleinformatigen Seiten ist unter anderem die Forderung nach einer Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen enthalten, die im bayerischen Fall weiterhin vergleichsweise umfangreich sind.[5] Wenngleich in der Textfassung des unzureichend lektorierten Wahlprogramms ein Tippfehler enthalten ist und fälschlicherweise auf Artikel 38 anstelle des Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung Bezug genommen wird, ist der Verweis auf die im Grundgesetz übernommene Vorschrift zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften korrekt.[6] Solche Forderungen sind spätestens seit dem Kirchenpapier der FDP von 1974 kein echter Grund zur Aufregung mehr. Immer wieder forderten Landesverbände der Linkspartei und der FDP in Parteitagsbeschlüssen vergleichbares, auch SPD und Grüne diskutieren in regelmäßigen Abständen darüber. Daneben beansprucht die bayerische AfD die Vertretung der Interessen Konfessionsloser. Die Konfessionslosen bzw. Konfessionsfreien werden dabei implizit als eine homogene Gruppe mit einem einheitlichen Interesse an der Abwehr kirchlichen Einflusses angesehen. Auch diese Position ist keineswegs neu. Die mit der religionskritisch bis religionsfeindlichen Giordano-Bruno-Stiftung personell verflochtene Kleinstpartei „Die Humanisten“ hat sich dieses Thema ebenfalls besonders auf die Agenda geschrieben und wirbt gezielt um kirchenkritische WählerInnen.[7]

Der Programmteil belässt es aber nicht dabei. Explizit auf die beiden christlichen Kirchen abzielende Forderungen (von anderen Religionsgemeinschaften, mit denen der Freistaat Bayern Staatsverträge geschlossen hat, ist nicht explizit die Rede)[8] werden direkt neben der Frage der Moscheefinanzierung durch Gelder aus Saudi-Arabien und der türkischen Religionsbehörde Dianet abgehandelt. Themen der Religionspolitik werden verstärkt auch als Themen des Islam verhandelt. Bereits bei der letzten großen Diskussion um das Kirchenasyl war diese Verschiebung zu beobachten, als Schlagzeilen wie „Kirchenasyl ist (keine) Scharia“ die Kommentare bestimmten.[9] Die bayerische AfD begründet ihre Forderungen im Wahlprogramm so:

„Eine Fortsetzung der finanziellen staatlichen Unterstützung an die Amtskirchen ist weder zeitgemäß noch sachgerecht, zumal es sich bei den Kirchen um eine besondere Lobbygruppe handelt, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass sie auf finanzielle staatliche Hilfe zurückgreifen kann. Diese staatliche Unterstützung ist dem deutschen und insbesondere bayerischen Steuerzahler nicht länger zumutbar.“[10]

Das Landtagswahlprogramm zielt darauf ab, die Kirchen mit dem Begriff Lobbygruppe zu stigmatisieren. Dem Text zufolge zeichnen sich die Kirchen besonders dadurch aus, dass sie dank ihrer privilegierten Stellung besonders umtriebiges Lobbying betreiben könnten. Nun könnte man versuchen, sachlich darüber zu sprechen, welchen politischen Einfluss die christlichen Kirchen in Deutschland auf die Politik ausüben. Dass der Lobbying-Begriff an dieser Stelle nicht analytisch-neutral, sondern diffamierend verwendet wird, erklärt sich von selbst. Wenngleich nicht im Text des Wahlprogramms erwähnt, ergibt sich aus dem Kontext, dass die AfD hier wohl vor allem Interessensvertretung im Bereich der Sozial- und der Migrationspolitik im Blick hat. Direkt im Anschluss geht es um die Gewährung von Kirchenasyl: Die Praxis der Gewährung von Kirchenasyl soll nach Willen der bayerischen Alternative für Deutschland beendet und nicht mehr vom Staat toleriert werden, zudem sollten Verantwortliche bei der Durchführung von Kirchenasyl strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Eine einzige Ausnahme im „Bruch mit den Kirchen“ kennt das Programm dann doch: Staatliche Zuwendungen für die Kirchen soll es nach dem Willen der AfD nur noch bei der Baudenkmalpflege sakraler Gebäude geben – eine Beschränkung, die gut zu einem Verständnis des Christentums als kulturellem Landschaftsmarker passt. Die Kostenübernahme für seelsorgerliche Leistungen soll ebenfalls verschwinden, zu diesem Zweck fordert die AfD sofortige Kündigung der Staatskirchenverträge zwischen der Bayerischen Staatsregierung und den beiden Kirchen.

Gänzlich unumstritten ist der angriffslustige Ton in der Partei nicht. In der SZ kommt unter anderem eine hochrangige niederbayrische Kandidatin zu Wort, die den Abschnitt im Wahlprogramm kritisiert. Ein vom Artikel nicht näher benannter Parteifunktionär sieht in der Positionierung der AfD die Antwort auf das Verhalten vieler Pfarrer vor Ort, die sich gegen die Partei wenden würden.[11] Interessant waren die Reaktionen der Partei auf die Pressemeldungen zu den kirchenpolitischen Forderungen: Erkennbar deutlich versuchte die bayerische AfD im Nachhinein, die Berichterstattung über das Wahlprogramm wieder in ein rechtes Licht zu rücken – man sei nur gegen die Staatsnähe der Kirchen und wolle ein starkes Christentum.[12] Ein Indiz dafür, dass die Parteispitze möglicherweise Verluste bei einem Teil ihres Wählerspektrums befürchtet oder zumindest Angriffsfläche für den politischen Gegner sieht. Als Kronzeugen für diese Haltung bietet die Pressemitteilung der bayerischen AfD gleich zwei Päpste, nämlich Benedikt und Franziskus auf.[13] Gerade die Inanspruchnahme des Letzteren kann angesichts der deutlichen flüchtlingspolitischen Positionierung der katholischen Kirche unter Franziskus eher als absurd gelten.

Björn Höckes Rede in Forchheim am 8. August 2018

Die lavierenden Positionen des AfD-Landesvorstandes wurden spätestens durch den Auftritt des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke bei einem Wahlkampfauftritt im oberfränkischen Forchheim als irrelevant entlarvt. Der Vertreter des völkisch-nationalen Flügels der AfD nutze seinen Auftritt bei einer Veranstaltung der oberfränkischen AfD zum Auftakt des Landtagswahlkampfes neben Angriffen gegen Flüchtlingshelfer, die etablierten Parteien und die Gegendemonstranten auch für verbale Attacken gegen die Kirchen sowie den bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Zuvor hatte Höcke in seiner Ansprache das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD ausführlich gelobt. Die entsprechende Passage, transkribiert aus dem YouTube-Mitschnitt der Rede, lautet:[14]

(ab Minute 24/12) „An diese Manipulationen wurde ich wieder erinnert durch die unsäglichen Äußerungen eines Herrn Heinrich Bedford-Strohm [Buhrufe der Zuhörer], seines Zeichens [Pfui-Rufe] EKD-Ratsvorsitzender, das war der, dieser Bedford-Strohm, der mit seinem katholischen Amtskollegen Kardinal Marx 2016 Jerusalem besuchte, eine Stätte die die Christen verehren, und das war der, der auf dem Tempelberg und an der Klagemauer, sein Kreuz niederlegte. Liebe Freunde, für mich ist das nichts anderes als das Zeichen der Unterwerfung. [Applaus]

(ab Minute 25/00) Das ist das eine. Aber was er neulich rausgelassen hat, das kann ich nur unter Böswilligkeit subsumieren, oder wenn ich ihm wohlgesonnen bin, unter Hitzeschaden. [Es folgen Anspielungen auf den Trauergottesdienst für Sophia L., eine beim Trampen ermordete Studentin, die bei den Jusos und in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Landesbischof Bedford-Strohm hat die Trauerpredigt gehalten. Die Trauerpredigt hat aufgrund einer Formulierung in rechten Kreisen im Internet für einen Shitstorm gesorgt[15]].

(ab Minute 26/12) „Der Tenor dieses Geistlichen lautet also: Es ist besser seine eigene Ermordung in Kauf zu nehmen, anstatt seine sozialromantische Naivität zu hinterfragen. Liebe Freunde, das ist nichts anderes, als der Missbrauch, das ist nichts anderes als die Pervertierung des christlichen Glaubens. [Zuhörer gröhlen: Widerstand, Widerstand] Liebe Freunde, ich schätze die Werte des Christentums, aber ich verurteile und habe es schön öfter gemacht und ich tue es auch hier und heute wieder: ich verurteile Kirchenfunktionäre, die statt die frohe Botschaft von der Kanzel zu verkünden, Hobbypolitiker spielen. Und ich fordere jeden Christen in diesem Lande auf, ich fordere euch auf, die ihr noch Mitglied der evangelischen und der katholischen Kirche seid, macht euren Funktionären Druck, und erklärt ihnen, dass sie einen geistlichen Dienst zu verrichten haben, dass sie es zu unterlassen haben dämliche Bemerkungen in der Öffentlichkeit kundzutun. Das schadet dem Ansehen der christlichen Kirche, egal ob es die evangelische oder die katholische in Deutschland ist. [Zurufe: Austreten!]“

(ab Minute 28/08) Ja es ist so. Unsere Kinder werden in den Schulen, in den Kirchen und in sonstigen linken Projekten zu Schafen gemacht, während man die Wölfe über die Grenzen lässt. [Applaus] Und diese letzte Bemerkung sei mir noch zu Heinrich Bedford-Strohm erlaubt. Das sind klare Worte, die ich jetzt artikuliere und wahrscheinlich werde ich dafür wieder angegriffen, aber wer austeilt, der muss auch einstecken können, Herr Bedford-Strohm, Herr Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für mich, lieber Herr Bedford-Strohm, lieber Herr sehr geehrter Herr Bedford-Strohm [sic!] sind sie wirklich in der Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung angekommen. [Applaus] Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung! [Applaus]“

Höke inszeniert sich bei diesem Auftritt als eigentlicher Verteidiger christlicher Werte gegen eine „linksversiffte“ Kirche. Mit dem angeblichen Skandal um die Abnahme der Kreuze auf dem Tempelberg und dem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat aus der Trauerpredigt für Sophia L. ist der bayerische Landesbischof für das rechte Spektrum zu einer Hassfigur stilisiert worden, die die angebliche Selbstverleugnung und den Linksrutsch der Kirchen personifiziert. Entsprechend konzentriert Höcke seine Angriffe auf ihn. Möglicherweise implizierte Folgen wie Kirchenaustritte und politisches Vorgehen gegen die Kirchen spricht er nicht direkt an, sie werden nur durch die Reaktionen seiner Zuhörerschaft vorweggenommen. Da dieser Auftritt erst den Wahlkampfauftakt darstellte, ist davon auszugehen, dass das Feindbild Kirchen im Rahmen bis zur Wahl des Bayerischen Landtags mehrfach wieder von Seiten der bayerischen AfD aktiviert wird.

Zur Vorgeschichte des Antiklerikalismus im AfD-Umfeld

Die antiklerikale Position der AfD ist hingegen kein neues Phänomen. Seit der Gründung der Partei vor fünf Jahren kam es wiederholt zu ähnlichen Äußerungen. Häufig spielte dabei auch die Positionierung der Kirchen in asylpolitischen Debatten eine Rolle. Besonders im Umfeld von Kirchen- und Katholikentagen, aber auch während Wahlkämpfen kochte das Thema Kirchenpolitik in der Partei hoch.

Bei der bayerischen AfD hat die antiklerikale Polemik eine besonders ausgeprägte Vorgeschichte. Der ehemalige Landesvorsitzende und jetzige Bundestagsabgeordnete Petr Bystron, einst für seine Sympathien für die rechtsextreme Identitäre Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet,[16] schaffte es bereits während den Auseinandersetzungen um die mögliche Einladung von AfD-Vertreten auf den Katholikentag in Leipzig im Jahr 2016 mit einer Attacke auf die Kirchen in die Medien. Bystron hatte den Kirchen vorgeworfen, mit ihrem flüchtlingspolitischen Einsatz in erster Linie öffentliche Gelder für Caritas und Diakonie abzukassieren.[17] Der aktuelle Landesvorsitzende Martin Sichert, ebenfalls Mitglied der AfD-Bundestagsfraktion, nutzte seinen Auftritt im BR-Politikmagazin Kontrovers zu Jahresbeginn für entsprechende Statements. Gefragt nach den Aufrufen zum Kirchenaustritt durch seine Partei antwortete Sichert, die Kirchen würden keine echten „christlichen Werte“ mehr vertreten.[18] Vergleichbare Auseinandersetzungen gab es bereits zwischen den Kirchen und der zahlenmäßig starken AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt.[19]

Auch auf der Bundesebene zeichnete sich diese Tendenz bereits länger ab. Im Vorfeld der Bundestagswahl im September 2017 hatten sich antiklerikale Tendenzen mehrfach abgezeichnet. Das niedersächsische Bundesvorstandsmitglied Armin Hampel hatte unter großem Beifall der AfD-Delegierten auf dem Bundesparteitag zum Kirchenaustritt aufgerufen. Zuvor hatten sich andere AfD-Spitzenpolitiker über kirchliche Beteiligung an Anti-AfD-Kundgebungen empört.[20] Während dem Evangelischen Kirchentag in Berlin veröffentlichten Accounts von AfD-Gliederungen antiklerikale Inhalte in den sozialen Medien. Die Beiträge griffen sich dabei besonders Äußerungen zu den Themen Dialog der Religionen, Christenverfolgung, Homosexualität und Gender-Mainstreaming heraus. Der Twitter-Account der AfD-Jugendorganisation postete ein Banner mit Zitaten von KirchentagsrednerInnen, versehen mit dem Spruch „Dumm, dümmer, EKD“. Als die sonst von AfD-Mitgliedern verabscheute heute-show einen kritischen Beitrag über die Finanzierungsstruktur des Kirchentags veröffentlichte, teilte die Düsseldorfer AfD ausnahmsweise den entsprechenden Inhalt der ZDF-Satiresendung und verlinkte zustimmend auf das Video.[21] Den vermeintlichen Höhepunkt setzte die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, als sie kurz vor Weihnachten 2017 in einem in den sozialen Medien verbreiteten Statement die aktuelle gesellschaftliche Rolle der Kirchen mit dem Staat-Kirche-Verhältnis im Nationalsozialismus gleichsetzte. Weidel beklagte in ihrem Posting eine Politisierung der beiden christlichen Großkirchen und die fehlende Trennung von Staat und Kirche in Deutschland. Wie während der Zeit des Dritten Reichs, so Weidel, hätten sich die Kirchen heute wieder mit den Herrschenden arrangiert.[22]

Erweitert man die Perspektive auf das rechte Spektrum wie die islamfeindliche Pegida-Bewegung in Dresden, fällt deutlich auf, dass dieser Vorwurf in rechten Kontexten auch jenseits der Partei AfD verbreitet ist. Tatjana Festerling, lange Zeit neben Lutz Bachmann Frontfrau bei den Dresdner Kundgebungen, hatte sich bei einem viel von den Medien diskutierten Auftritt im Januar 2016 ebenfalls über die Kirchen geäußert:

„Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“[23]

Die Kirchen wurden hier in eine Reihe neben andere von Pegida verabscheute Institutionen wie Medienhäusern und Parlamenten gestellt. Festerlings Hetzrede verdeutlicht, dass die Amtskirchen in rechten Weltbildern fest zum verhassten Establishment der Bundesrepublik gehören.

Dennoch gibt es auch in diesem Kontext Grauzonen. Das Fallbeispiel Pegida zeigt auch Ambivalenzen, denn von rechter Seite wird auch positiv auf christliche Wertvorstellungen oder Symbole Bezug genommen werden. Das Foto eines schwarz-rot-goldenen Kreuzes auf der Dresdner Pegida-Demonstration ist mittlerweile ikonisch für die Inanspruchnahme des Christentums als kulturchauvinistischer Marker geworden.[24] Auch in einem mehrheitlich von Konfessionslosen bestimmten Umfeld wie der Pegida-Bewegung wird das Christentum insbesondere in der Abgrenzung zu einer imaginierten Bedrohung durch den Islam in Anspruch genommen.[25] Und auch im konservativ-christlichen Milieu existieren Vernetzungen und Anknüpfungsmöglichkeiten. Der humanistische Pressedienst hat zurecht angemerkt, dass im Falle von Pegida der Anteil protestantischer Teilnehmer neben den Konfessionslosen nicht unter den Tisch fallen sollte.[26] Die Publizistin Liane Bednarz hat in ihrem Buch „Die Angstprediger“ umfassend dargestellt, dass die AfD insbesondere für streng konservative christliche Gruppierungen mit monothematischer Fixierung auf Themen wie Abtreibung oder Geschlechter- und Familienbilder attraktiv ist.[27] Beispielsweise ist AfD-Fraktionsvize Beatrix von Storch sehr eng in der Szene der Abtreibungsgegner vernetzt.

 

 

[1] Im Herder-Verlag erschien vor Kurzem ein umfangreicher Band zum Thema „Religionspolitik heute“, in der APuZ-Reihe der Bundeszentrale für politische Bildung zudem ein sehr lesenswertes Heft zu aktuellen Fragen der Religionspolitik in Deutschland: https://www.bpb.de/apuz/272095/religionspolitik

[2] https://www.huffingtonpost.de/entry/weil-pfarrer-zu-kritisch-sind-afd-erklart-kirchen-in-bayern-den-krieg_de_5b4def40e4b0fd5c73bf2304?utm_hp_ref=de-homepage

[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/wahlkampf-in-bayern-die-afd-will-mit-den-kirchen-brechen-1.4056494

[4] Landtagswahlprogramm FDP Bayern 2018, S. 18: https://fdp-bayern.de/wp-content/uploads/2018/06/180621-LTW-Programm.pdf

[5] Der Abschnitt „Trennung von Staat und Religion“ findet sich im Landtagswahlprogramm auf den Seiten 12–14. https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[6] Art. 138 Weimarer Reichsverfassung: http://www.verfassungen.ch/de/de19-33/verf19-i.htm

[7] https://www.deutschlandfunk.de/partei-der-humanisten-politiker-stellen-sich-gerne-neben.886.de.html?dram:article_id=380293; Homepage der Partei: https://diehumanisten.de/

[8] Ein Beispiel wäre der „Vertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern“: http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayIsraelKultVertrag

[9] Vorhergegangen war eine Äußerung des evangelischen CDU-Bundesinnenministers Thomas de Maizière: https://www.welt.de/politik/deutschland/article137373663/Union-kritisiert-de-Maiziere-fuer-Scharia-Vergleich.html.

[10] https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[11] Ebd.

[12] https://www.afdbayern.de/afd-bayern-sieht-im-wahlprogramm-keine-attacke-auf-die-kirchen/

[13] Ebd.

[14] https://www.youtube.com/watch?v=cjS-Dy0c9xo.

[15] https://www.cicero.de/kultur/heinrich-bedford-strohm-sophia-l-trauerrede

[16] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/petr-bystron-afd-bayern-verfassungsschutz-identitaere-bewegung

[17] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[18] Ab Minute 46: https://www.br.de/mediathek/video/bayerntrend-2018-die-kontrovers-umfrage-zur-politischen-stimmung-im-landtagswahljahr-av:5a16bc41a7c4c200186bfc06

[19] http://www.fr.de/politik/sachsen-anhalt-afd-fehde-mit-den-kirchen-a-1479332

[20] https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2017-04-25/aufruf-zu-kirchenaustritt-auf-afd-parteitag-sorgt-fuer-kritik

[21] Der Verfasser verfügt über Screenshots der Postings.

[22] https://www.sz-online.de/nachrichten/weidel-provoziert-kirchen-mit-vergleich-zur-nazi-zeit-3844710.html

[23] Rede Tatjana Festerlings bei der Pegida-Kundgebung im Januar 2016, zitiert nach: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/pegida-aktivistin-festerling-radikaler-geht-s-nicht-14021313.html

[24] Zu sehen ist das dpa-Foto unter anderem in diesem Bericht des Berliner Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/pegida-in-dresden-kirchenvertreter-nennen-pegida-unchristlich/11185530.html

[25] https://www.tagesspiegel.de/politik/studie-ueber-anhaenger-der-pegida-gut-ausgebildet-konfessionslos-unzufrieden/11229064.html

[26] https://hpd.de/artikel/12688

[27] https://www.deutschlandfunkkultur.de/liane-bednarz-ueber-ihr-buch-die-angstprediger-wie-christen.1270.de.html?dram:article_id=415018

Von den 90 Prozent, Hausbesuchen und der Zukunft der Kirche

Rezension zu: Erik Flügge und David Holte: Eine Kirche für Viele (statt heiligem Rest), Freiburg im Breisgau 2018.

von Niklas Schleicher

Erik Flügge kann man zurzeit ohne Übertreibung als shooting-star der aktuellen kirchlichen Debatten bezeichnen. Sein Buch über die Sprache der Kirche1 war ein Verkaufserfolg und seitdem ist Flügge ein gern gesehener Referent in Fortbildungsveranstaltungen. Zwischendurch verfasst er immer mal wieder viel beachtete Artikel zur Zukunft der Kirche. Interessanterweise genießt Flügge für seine Arbeit, wenn ich das richtig sehe, breite Zustimmung und stößt auf wenig harsche Kritik.

Vor zwei Wochen erschien Flügge neues Buch, zu dem David Holte ein Kapitel beigesteuert hat. Buch ist dabei freilich etwas hoch gegriffen, erweiterter Essay trifft es vielleicht eher; so entfaltet Flügge seine Thesen auf 78 Seiten im Kleinformat bei Herder. Das Buch ist erneut ein Verkaufsschlager, die erste Ausgabe ist bereits vergriffen und die Rezeption wieder äußerst positiv.

Ich wiederum lese gerne Bücher, die Verkaufsschlager sind, positiv rezipiert werden und Ideen beisteuern, wie man denn die Kirche(n) reformieren könnte. Meistens bin ich dann enttäuscht und manchmal lasse ich mich auch zu einer Rezension hinreißen.

„Eine Kirche für viele (statt heiligem Rest)“ lautet der Titel des Buches. Das Grundanliegen ist dabei ein gänzlich anderes, als es beispielsweise „Vom Wandern und Wundern“ hat. Ich erwähne das deshalb, weil dieses Buch, jedenfalls in meiner Filterblase, von den gleichen Personen ähnlich euphorisch begrüßt wurde. Flügge geht es nicht um Rückzugsorte oder Klientelkirchen, die ganz bestimmte Menschen in ganz bestimmten Situationen (mit ganz bestimmten Vorlieben für koffeinhaltige Heißgetränke) bedienen, sondern in gewisser Weise um eine Kirche, die alle Menschen erreicht – also im besten Sinne um so etwas wie Volkskirche. Ich finde diese Idee jedenfalls schon einmal gut und interessant. Löst das Buch auch ein, was es verspricht?

Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist im ersten Satz des Buches grundgelegt:

„90 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen nicht am Gemeindeleben Teil. Sie zahlen nur für den Rest. Kann das wirklich die Idee einer Kirche sein? (S. 9)“2

Der Anstoß ist also, wie so oft, die Kirchensteuer. Viele zahlen, wenige nehmen die Angebote der Kirche wahr, gehen also regelmäßig in den Gottesdienst oder besuchen die Veranstaltungen, die in der Gemeinde angeboten werden. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz im Leben derjenigen, die sie eigentlich finanzieren, und über kurz oder lang führt das zum Rückgang oder Verschwinden von volkskirchlichen Strukturen. Dabei ist es egal, ob es um das evangelische oder katholische Christentum geht; in dieser Frage unterscheiden sich beide nur um Nuancen.

Der Vorschlag, mit denen Flügge die 90 Prozent erreichen will, wird in einer Art Gedankenexperiment dargeboten, ist aber erstaunlich handfest: Man sollte die Arbeitszeit, die durch die Kirchensteuer finanziert wird nutzen, um Hausbesuche zu machen; und zwar nicht nur die üblichen 70+ Geburtstagsbesuche, sondern um alle Menschen der Gemeinde einmal im Jahr aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Dies ist erstmal, wenn man so will, die formale Seite des Vorschlags: Weniger Geld investieren in Erhalt der Häuser, Kirchen, usw., sondern als Kirche zu den Menschen gehen. Flügge zieht einen Vergleich aus seiner Arbeit für die SPD heran: Auch im Wahlkampf ist das Besuchen von Menschen von gutem Erfolg gekrönt.

Die Kehrseite der Medaille ist dann allerdings die Anschlussfrage, die der zweite Teil des Buches behandelt: Was soll denn bei den Hausbesuchen geschehen, was gesprochen werden? In Flügges Worten: „Für wen ist das katholische beziehungsweise evangelische Christentum überhaupt noch relevant?“ Denn, so weiter: „[U]nd wenn man an diese Frage herangeht, dann sieht es düster aus.“ (S. 47) Die Streitfragen, um die es in den Kirchen gerade geht, sei es Sexualmoral oder die Frage nach Laien, sind reine Kulturfragen und reines Marketing. Um das Christentum zu reanimieren, ist, so Flügge weiter, eine Rückbesinnung auf die Wurzeln nötig; und zwar weniger in einem inhaltlichen Sinne, sondern in einem formalen Sinne: Man spricht mit anderen Menschen über seinen christlichen Glauben, nicht (allein) um sie zu überzeugen, sondern um im Gespräch mit ihnen und von ihnen neues über das Christentum zu lernen, eben genauso, wie es die frühe Christenheit in Aufnahme der griechischen Philosophie getan hat.

Der zweite Modellversuch, den Flügge dann vorschlägt, ist ein Schritt unter den Hausbesuchen bei allen Kirchenmitgliedern und sieht vor, dass die gesamte Gemeinde mit selbst geschriebenen Karten z.B. anlässlich wichtiger Feste kontaktiert wird. Diese Karten sollen Ehrenamtliche und Hauptamtliche gemeinsam in einer konzertieren Aktion verfassen.

Das Buch schließt mit der Hoffnung, dass die Eindrücke und Einsichten, die man durch die Gespräche im Rahmen einer solchen Haustürmission Gewinnt , Eingang in den Glauben und die Lehre der Kirche finden und es so zu einer Revitalisierung kommt.

Flügges Vorschläge klingen auf den ersten Blick sehr plausibel und einleuchtend. Aber ich meine: Sie sind auch etwas einfach. Nun muss Einfachheit per se nichts Schlechtes sein. Aber trotzdem sollte sie wenigstens ein bisschen stutzig machen. Sollte die Forderung, dass „Kirche zu den Menschen kommen muss“, Theologinnen und Theologen wirklich noch nicht in den Sinn gekommen sein?

Tatsächlich haben sich Theologie und Kirche diesbezüglich schon einige Gedanken gemacht. Und der Vergleich mit dem Straßenwahlkampf hat eben seine Grenzen: Auch die SPD und die CDU/CSU erholen sich ja durch Hausbesuche nicht in dem Sinne, dass sie mehr oder besser gebundene Mitglieder gewinnen. Vielmehr funktioniert die Mobilisierung in der konkreten Wahlkampfsituation. Rübergespiegelt auf die Kirche trifft diese Parallele m.E. auch zu: Für ein konkretes Projekt oder eine konkrete Veranstaltung könnte so ein Hausbesuch oder ein direktes Ansprechen durchaus kirchenferne Mitglieder aktivieren, sei es, weil die Kirchturmuhr repariert werden soll, oder weil die Kirchgemeinde eine Brauereiführung organisiert hat. Einfach mal so zu kommen und über den Glauben zu reden, scheint mir demgegenüber schwieriger; zumal die Haustürmission der Zeugen Jehovas hier keine guten Assoziationen wecken dürfte.

Flügge schlägt zudem vor, dass die Mission mehr von gemeinsamen Gespräch geprägt sein soll und der Besuchende etwas von den Besuchten lernen soll. Dies klingt zunächst gut, aber wirft Fragen auf, zu deren Beantwortung Flügges Buch wenig beiträgt. Wenn das Christentum aus den Stimmen erneuert werden soll, die mit der christlichen Kirche und dem christlichen Glauben bislang wenig zu tun haben, was ist dann das, was der christliche Glaube dort finden und integrieren soll? Aus welcher Mitte heraus wird bestimmt, welche Anliegen aufgenommen werden? Gerade die frühe Christenheit hat sich in der Auseinandersetzung mit der Philosophie fest an ihr Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten gehalten. Nicht zuletzt erscheint das Unternehmen mit einer doppelten Agenda verbunden: Die Kirche soll vordergründig zu den Menschen, um diese zu erreichen und diesen was zu bieten. Allerdings ist dieser Besuch hintergründig für die Kirche selbst verzweckt, steht nämlich im Dienst der eigenen Erneuerung. Geht es im Endeffekt geht es dann gar nicht um die Besuchten, sondern um die Kirche, ihren Bestand und und ihr Bedürfnis nach Erneuerung?

Das Problem scheint mir allgemein weniger der Wille zu sein, mit Menschen und ihrer Lebenswelt in Kontakt zu kommen. Sondern es scheint darin zu liegen, wie mit diesen Menschen über den Glauben gesprochen und ihnen dabei auch glaubwürdig vom den Glauben erzählt werden kann. Theologen und Theologinnen sind in der Regel keine lebensweltfremden Fachidioten, die völlig fern von jeder Lebenswelt stehen und keine Ahnung von den Ideen und religiösen Bedürfnissen anderer Menschen haben. Im Gegenteil: Manchmal erscheint es mir vielmehr notwendig, zunächst einen Blick auf das zu werfen, was die eigene Botschaft ausmacht und was das Christentum von allgemeiner Religiosität unterscheidet.

Ein zweiter Punkt betrifft das Bild von Kirche, dass hier gezeichnet wird: Kirche erscheint dabei eine ganz konkrete, abgeschlossene Organisation mit ihren angestellten Mitarbeitenden. Als Gegenüber dieser Kirche gibt es dann die zahlenden Mitglieder, die etwas von ihrer Mitgliedschaft haben sollen. Mir scheint diese Betrachtungsweise zu verkennen, dass diese zahlenden Mitglieder selbst die Kirche sind. Daher könnte man darauf verweisen, dass es im freien Belieben der Einzelnen liegt, wo sie sich und wie beteiligen. Gerade z.B. bei der evangelischen Kirche sind die Strukturen so beschaffen, dass sie viele Möglichkeiten der Beteiligung bieten. Die meisten Hauptamtlichen sind für Ideen und Projekte aufgeschlossen und bieten Räume zur Verwirklichung. Aber andersherum gilt auch: Wenn ich meine Mitgliedschaft in der Kirche sozusagen „ruhen“ lassen möchte, weiter meine Kirchensteuer zahle, aber mich jenseits bestimmter biografischer Schwellensituationen nicht beteilige, dann ist das genauso legitim.

Möglicherweise wäre hier ein Punkt, den man vertiefen sollte: Möglichkeiten der Beteiligung an Konzeption und Umsetzung neuer Ideen innerhalb der Kirche aufzeigen. Das ist vielleicht weniger radikal, als mit der Erfahrung von Hausbesuchen im Rücken einen Großumbau der kirchlichen Lehre vorzunehmen. Aber man muss dafür dann auch keine Kirchen abreißen, weil man sie vielleicht noch brauchen kann.

Und wenn wir die Debatte darüber führen, was Kirchen leisten sollen und was nicht, sollte man nie vergessen, dass die Kirche auch eine Solidargemeinschaft ist. Manche Dinge, wie Sozialarbeit, Kinderbibelwochen oder Altenheimseelsorge finanzieren eben viele, während nur wenige sie in Anspruch nehmen, weil sie das entsprechende Angebot eben gerade brauchen. Das muss nicht ungerecht sein, ich jedenfalls kann gut damit leben.

Es gibt ausgehend vom vorliegenden Buch also viele Fäden, die man aufgreifen kann. Interessant ist der Ansatz allemal – auch wenn ich glaube, dass die Erneuerung der Volkskirche mehr braucht als Hausbesuche.

Niklas Schleicher

2Wie genau Flügge auf diese Prozentzahl kommt, wird leider nicht aufgeschlüsselt.

Über religiöse Menschen. An die vermeintlich Gebildeten unter ihren Spöttern

 

Ein Kommentar von Claudia Kühner-Graßmann

 

Als christlich-religiöser Mensch hat man es zur Zeit wahrlich nicht leicht: vom alljährlichen Angriff an Karfreitag, ausgelöst durch das sog. Tanzverbot, über das Urteil des EuGH zum kirchlichen Arbeitsrecht bis zur bayerischen Kreuzaffäre. Neben viel berechtigter Kritik und richtig gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat kommt es dabei immer auch zu einer Abrechnung mit der Religion, vornehmlich mit der christlichen (konfessionsindifferent). In maßloser Überheblichkeit wird die intellektuelle Unterlegenheit von Religion und damit ineins die eigene Überlegenheit herausgekehrt. Man selbst habe ja keine Vorurteile – im Gegensatz zu den Religionen; wie blöd müsse man sein, um einen Menschen zu betrauern, der vor 2000 Jahren gekreuzigt wurde und der behauptet, Gottes Sohn zu sein; wie uncool sei man bitte, wenn man in diese Kirche geht.

Ich nehme diese Polemik vor allem aus eher gebildeten Kreisen wahr, so wird etwa auch die Wissenschaftlichkeit der eigenen areligiösen Position besonders hervorgehoben. Wenn gegen Kirche, Religion und immer wieder auch Geistliche gewettert wird, scheint es um Stellvertreterkämpfe zu gehen, denn das, was die Damen und Herren beschreiben, hat mit meiner Wahrnehmung religiöser Menschen wenig zu tun. Gut, ich bin ja auch mittendrin und sogar Theologin! Deutlich wird, dass es oft in irgendeiner Form mehr oder weniger schlimme, vielleicht eher lächerliche Erfahrungen mit Kirche und religiösen Verwandten gegeben hat. Das tut mir Leid, aber die Verallgemeinerung und das Projizieren eigener Erfahrungen auf alle lebende Christinnen und Christen zeugt nicht gerade von differenziertem Reflexionsvermögen – was ja gerade in Anspruch genommen wird. Zudem gibt es immer diffuse Ausnahmen, weil der ein oder die andere Religiöse dann doch eigentlich ganz ok ist. Ich könnte so weiter machen, aber mein Punkt dürfte deutlich geworden sein.

Ich nehme zudem wahr, dass das, was die Kritiker an unterstufiger Religiosität der Gegenseite unterstellen, nicht über die Ebene eines „Kinderglaubens“ hinausgekommen ist. Hierbei kann und vermutlich muss man Versagen beim kirchlichen Katechumenat, v.a. in seiner Form als Religions- und Konfirmandenunterricht konstatieren. Aber, und darauf kommt es mir wiederum an, das hat halt mit dem, was in vielen Gottesdiensten (jaja, es gibt auch da andere!) verbreitet wird und was viele Erwachsene glauben, doch überraschend wenig zu tun. Glaube wird irgendwie auch erwachsen.

Es zeugt also nicht gerade von Intellekt, wenn auf dieser undifferenzierten Grundlage eine ganze Gruppe von Menschen angegangen wird. Es ist mühselig, auf dieser Grundlage das Gespräch zu suchen und zu führen. Man bleibt halt doch in einer Verteidigungshaltung gefangen. Aber warum? Gerade wir Theologinnen und Theologen brauchen uns eigentlich nicht zu verstecken!  Unser Studium ist so breit angelegt, dass wir – nicht ohne Stolz – von uns behaupten können, Generalisten zu sein. Wir lernen zudem eine wichtige Sache: die Reflexion auf unsere eigenen Voraussetzungen. Im besten Fall sind wir dazu fähig, über unseren Glauben einigermaßen allgemeinverständlich Auskunft geben zu können. Pfarrerinnen und Pfarrer sollten diesen katechetischen Aspekt auch in ihren Predigten bedenken, um der Gemeinde Hilfe zur eigenen Sprachfähigkeit zu geben.

Ich, und das ist meine persönliche Meinung, halte viele Spielarten des Atheismus und Humanismus für deutlich unterstufiger, weil diese Reflexion über die eigenen Voraussetzungen und Grundlagen ausbleibt. Die eigenen Ansichten werden als so evident betrachtet, dass Kritik und Prüfung ausbleiben können (das ist übrigens auch ein Grund, warum ich den Laizismus für einen Trugschluss halte: wir alle leben im Horizont solcher Voraussetzungen, die auch thematisiert werden müssen). Häufig sind dazu Ersatz-Glaubenshandlungen zu beobachten, wenn etwa das Schicksal oder Murphy’s Law für das Wetter, das kaputte Auto o.ä. verantwortlich gemacht werden – immer ironisch gemeint, versteht sich…

Liebe Spötter: mir ist es im Grunde egal, ob ihr glaubt oder nicht glaubt. Wirklich. Aus meiner christlichen Sicht mag das bedauerlich sein, aber ich weiß ja auch, dass der Geist weht wie und wo er will. Aber unterlasst doch bitte diese unterstufige Kritik an allen religiösen Menschen. Ihr fühlt euch intellektuell überlegen? Dann zeigt das doch bitte auch. Reflektiert Eure Motive und Eure eigenen weltanschaulichen Grundlagen.

Liebe Theologinnen und Theologen, liebe Christinnen und Christen: bitte seid nicht immer so apologetisch. Versucht nicht immer zu zeigen, dass Ihr cooler und klüger seid als „die“ Kirche, da springt Ihr doch nur auf diesen Zug auf (abgesehen davon, dass ihr ebenfalls „die“ Kirche seid). Konzentrieren wir uns doch darauf, unseren Glauben reflektiert darzustellen und uns selbstbewusst des Evangeliums nicht zu schämen!

Denn, ich zitiere einen Tweet von @hrmnn01:

https://twitter.com/hrmnn01/status/803343103176409090

 

Wandern ohne Stecken und Stab?

Notwendige Anmerkungen zu „Und wie wir wandern im finstern Digital“

von Niklas Schleicher

Ich sitze gerade vor meinem Laptop, und tippe diesen Text. Auf dem zweiten Bildschirm läuft nebenher eine gestreamte Serie. Ich schreibe hier eine Antwort auf einen Text von Hannes Leitlein, der online bei zeit.de (http://www.zeit.de/2017/13/digitalisierung-medien-martin-luther-kirchen-reformation-netz) erschienen ist. Erfahren habe ich von diesem Text per Twitter und mich dann kurz per Telegram mit einem Freund ausgetauscht, ob wir auf nthk.de darauf reagieren sollen. Also auf dem Blog, den ich mitbetreibe. Lange Rede, kurzer Sinn: Auch ich bin mir dem bewusst, dass die digitale Welt bestimmend für unsere Diskurse ist, dass das Internet ein Raum für Kommunikation mit bisher ungekannten Möglichkeiten ist.

Von daher müsste ich Leitlein für diesen Text, der sich wie ein flammendes Plädoyer liest, dass die EKD sich endlich positiv mit der Digitalisierung auseinandersetzt, danken. Ja, möchte man sagen, ja, recht hat er. Der Kommentar von Margot Käßmann bezüglich Facebook und Seelsorge ist wirklich ziemlich peinlich. Und Äußerungen von technologiekritischen Theologen wie z.B. Werner Thiede sind oft auch nicht auf der Höhe der Zeit. Und er trifft auch weitere Punkte, die durchaus richtig sind, die für eine Kirche, die auch in der Gegenwart relevant bleiben will, zu bedenken sind.

Aber, um es etwas pathetisch mit Karl Barth zu formulieren: Nein! So kann das mit der Digitalisierung in der Gesellschaft, aber dann eben auch in Theologie und Kirche nun auch wieder nicht sein.

Der Gedankengang Leitleins ist, soweit ich das richtig interpretiere, folgender: Die digitale Revolution ist analog zu sehen zum Buchdruck und stellt einen tiefgreifenden Wandel unseres Kommunikationsverhaltens dar. Luther hat damals den Buchdruck für seine Reformation nutzen können und wurde erst durch diesen bekannt. Die evangelische Kirche, die sich in seiner Nachfolge sieht, sollte deshalb auch die Digitalisierung würdigen und mit ihr gehen, zumal die Kommunikation im Internet eine Form darstellt, die Ureigenes des Protestantismus zur Geltung bringt. Sie ist nämlich eine Form von Kommunikation, die das Dialogische, das Gespräch miteinander in den Fokus stellt. So entspricht sie dem Priestertum aller1. Von daher lösen sich im Digitalen dann auch Dinge wie geistiges Eigentum und so weiter auf und „Vielfalt, Beziehungen, Netzwerke, Interaktionen und Solidaritäten“ stehen im Vordergrund2. Kritisiert wird dann auch die Art der Internetkommunikation, wie sie z.B. der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm betreibt, da diese noch ganz im Analogen verhaftet bleibt, in dem Sinne, dass Bedford-Strohm zwar viel auf Facebook postet, aber auf Kommentare nicht antwortet3. Die digitale Welt jedenfalls ist etwas, das theologisch gedeutet werden will, über das und mit dem die Kirche gesprächsfähig werden muss. Es gibt freilich schwierige Seiten, z.B. Datenschutz und Barrieren des Zugangs4, aber im Großen und Ganzen eröffnet das Internet eine große Chance für den Menschen. Diese besteht nicht zuletzt darin, die institutionellen Schranken der verfassten Kirche durch eine fluide christliche Community zu ersetzen.

Soweit in aller Kürze das Narrativ, dass ich aus verschiedenen Gründen nicht teile. Ich will nur drei Punkte nennen, an denen zumindest weiterzudenken wäre.

Zum ersten muss man sich nochmal die Interpretation des Priestertums aller Gläubigen näher anschauen, das hier (nicht ganz zu Unrecht) als Kernstück der Reformation bezeichnet wird und das sich anscheinend in der digitalen Welt erst vollends verwirklichen soll. Nun meint das Priestertum aller Gläubigen zunächst folgendes: Es gibt für die Würdigkeit des Christen in Bezug auf sein Gottesverhältnis keinen Unterschied zwischen Priestern, Bischöfen und Mönchen und den Laien. Jeder getaufte Christ hat direkten Zugang zu Gott, kann sich Gott im Gebet nähern und braucht keine Vermittlung durch Geweihte, Priester oder Heilige5. Aber: Für die öffentliche Verkündigung des Evangeliums, also dafür, dass Leute auch die Christusbotschaft hören können, die bei Menschen den Glauben wecken kann, bestimmt die Kirche Ämter. Diese Ämter beinhalten keinen Unterschied in der Würdigkeit, sondern beschreiben Funktionen. Die Amtsträger verkünden das Evangelium öffentlich. Dies sieht Luther übrigens schon recht früh, als Lektüre sei hier z.B. die Adelschrift empfohlen. Aus dem Priestertum aller Gläubigen zu schließen, dass im Internet jeder Christ gleichermaßen zur öffentlichen Verkündigung berufen ist, wäre genauso falsch, wie zu folgern, dass es im Priestertum aller Gläubigen um die Beziehung der Menschen zueinander geht. Dass Leitlein in dieser ganzen Passage zur Reformation ohne irgendeine Idee zum Gottesbezug auskommt, ist wenigstens als sportlich zu bezeichnen.

Zum zweiten wird hier etwas übersehen, dass meine Generation immer wieder gerne übersieht. Das Leben im Digitalen ist für viele selbstverständlich geworden, macht aber auch einigen Menschen Angst und überfordert andere. Die Kirche besteht eben nicht nur aus den jungen 15-40 jährigen, die fordern, dass endlich wieder alles neu werden soll. Einen großen Teil der wirklich Treuen machen eben diejenigen aus, für die das Abrufen einer Mail oder ein Skypekontakt mit dem Enkel schon das Höchste der Gefühle ist. Es ist irritierend, dass diese Menschen in Leitleins Vision von Kirche gar keine Rolle mehr spielen und offensichtlich längst abgeschrieben sind. Hinzu kommt: Nicht nur Menschen dieser Generation bevorzugen eben im Sonntagsgottesdienst eine Predigt, die von der Kanzel vorgetragen wird, und kein digitales Happening in der Twitter-Sphäre. Die digitale Avantgarde überschätzt notorisch ihr eigenes zahlenmäßiges Gewicht, Stichwort: Filterbubble. Gerade die Gottesdienste an Lebensübergängen werden noch immer gerne in Anspruch genommen. Hier ist nun aber die Ritualkompetenz und Verkündigungserfahrung von Spezialisten gefragt. Denn bei aller Liebe: Meine Hochzeit hätte ich nicht gerne im freien Gespräch mit der Gemeinde im Internet gestaltet. Da gehört die gelehrte und emphatische Auslegung des Trauspruches genauso dazu wie der Segen und der Ringetausch vor der im Analogen versammelten Gemeinde. Noch deutlicher wird das Ganze bei Beerdigungen. Bei aller Möglichkeit von Online-Kondolenz-Büchern ist doch hier das analoge Ritual m.M.n. kaum zu ersetzen6.

Und drittens: Wenn wir die digitale Welt theologisch deuten wollen, dann bitte ordentlich. Dann muss man notwendigerweise die Unterscheidung zwischen Schöpfung und Fall machen und darauf hinweisen, dass auch die Person, die digital unterwegs ist, immer simul iustus et peccator bleibt. Die digitale Welt bleibt genauso wie die analoge zwiespältig, es wird dort gute Dinge geben, aber es gibt dort auch schlechte. Mit Bonhoeffer gesprochen: Auch die neue, digitale Welt bleibt im Vorletzten, die digitale Welt der neuen Kirche bleibt immer noch die sichtbare Kirche und wird nicht plötzlich als Ganzes zu derjenigen, die die Dogmatik als unsichtbare Kirche, mithin als Reich Gottes bezeichnet. Es wird also auch in der digitalen Kirche Strukturen geben müssen, die ein gewisses Maß an Ordnung und Verlässlichkeit sichern. Man muss das dann nicht Hierarchie oder Lehramt nennen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass in der digitalen Welt nicht viele Probleme analoger Kirche wiederkehren, meinetwegen in gewandelter Form.

Nochmal zurück zu Luther: Freilich nutzte er die neuen Medien, den Buchdruck für die Verbreitung seiner Reformation. Aber er hatte auch andere Äußerlichkeiten auf seiner Seite: Die politischen Verhältnisse im Reich und gewisse aufstrebende Schichten. Und trotz dieser Äußerlichkeiten brauchte es eben dennoch so jemanden wie Luther (oder Zwingli oder Bucer) der die treibenden Ideen hatte. Auch im Internet entstehen Ideen nicht qua Offenbarung ins Nichts. Und welche Kirche genau „Luther verdient“ hat, entscheidet zum Glück kein Redakteur der Zeit.

Die Digitalisierung ist von Seiten der Kirche als Faktum anzunehmen, kreativ mitzugestalten und keinesfalls kulturpessimistisch zu verteufeln. Aber ob wir die Digitalisierung für die Möglichkeit feiern wollen, die verfasste Kirche mit ihren spezialisierten Ämtern abzuräumen und durch eine Cloud fluider Cybersekten zu ersetzen?

Mit Luthers Bibelübersetzung gesprochen: Das sei ferne!

1Das bei Leitlein nicht vom Priestertum aller Gläubigen bzw. aller Getaufen die Rede ist, könnte ein Flüchtigkeitsfehler sein. Bestimmt meint er „aller Gläubigen“. Oder?

2Hier bin ich persönlich recht angefressen. Freilich kann jemand die Abschaffung geistigen Eigentums als Gewinn bezeichnen, der Geld für seinen Journalismus bekommt. Wissenschaftliche Theologen, die sich mit ihren Veröffentlichungen und entsprechend auch mit ihrer geistigen Arbeit später eventuell auf Stellen bewerben also solche Leute wie ich, sollte ich einmal nicht den Weg ins Pfarramt einschlagen , sind schon ein bisschen drauf angewiesen, dass mit den von ihnen produzierten Texten nicht einfach als beliebiges Allgemeingut umgegangen wird. Oder aber: Wenn wir schon den Kommunismus fordern, dann bitte richtig!

3Nun muss man allerdings auch zugestehen: Wer sich mal die Kommentare unter manchen Posts von Bedford-Strohm angeschaut hat, kommt vielleicht zu dem Ergebnis dass darauf sachlich zu antworten mehr gute Nerven erfordert, als ein Mensch haben kann.

4Das Barrieren übrigens nicht nur Sehbehinderungen betrifft, sondern auch die Tatsache, dass viele Leute sich Internet bzw. die notwendigen Endgeräte immer noch nicht leisten können, nun, dass kann man schon mal übersehen.

5Kann aber, um diese einfache Gegenüberstellung etwas einzuordnen, auch nicht mehr auf die Fürsprache von Heiligen vor Gott bauen. Jede Person ist vor Gott unvertretbar.

6Mich hat bis jetzt noch kein online-basiertes Ritual oder noch keine Form des Online-GDs auch nur halbwegs überzeugt. Mit Blick auf die absoluten Zahlen dürfte sich die Gruppe derer, die solche Angebote regelmäßig in Anspruch nehmen, als recht begrenzt herausstellen. Und es ist kaum zu erwarten, dass sich das in näherer Zukunft kategorial ändert.

Die EKD und die Politik I: Das ist zu kurz gegriffen!

 

In den folgenden Wochen möchten wir die Frage in den Fokus stellen, ob und inwieweit die Kirche und im Besonderen die EKD politisch agieren soll. Den Auftakt dieser Diskussion ist hierbei der folgende Beitrag von Ulrich Kronenberg. Wir freuen uns über eure/ihre rege Beteiligung in den Kommentarspalten. [Niklas Schleicher für die Redaktion]

 

Das ist zu kurz gegriffen!

von Ulrich Kronenberg

Über 270000 evangelische Christen haben 2014 ihren Austritt aus der Kirche erklärt. Die Erklärung, dies rühre aus der geänderten Steuer auf Kapitalerträge, greift zu kurz. Der seit Jahrzehnten anhaltende Mitgliederschwund – bei steigendem Kirchensteueraufkommen – hat vielmehr tieferliegende theologische Gründe.

Die zunehmende Liebe der Kirche zum politisch linkslastigen Zeitgeist, der sich in Leben und Lehre niederschlägt, die ständige Einmischung in alle möglichen und unmöglichen Fragen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens und die krampfhafte Sucht, auf alle Fälle um jeden Preis „modern“ sein zu wollen, tragen ihre Früchte. Neben dem privaten Steuersparmodell des Kirchenaustrittes steht in viel fatalerer Weise das Schwinden der kirchlichen Substanz aus Gründen der Frustration und der geistlichen Heimatlosigkeit. Kirchenaustritt ist immer das Ende eines langwierigen Prozesses der inneren Entfremdung, den sich viele Menschen nicht leicht machen. Ein prominenter Vertreter der Menschen, der von verbohrten Ideologen aus der Kirche getrieben wurde, war der frühere Verteidigungsminister Hans Apel.

Immer weniger Gemeindeglieder wollen die Randgruppentheologie und das linkslastige Politisieren vieler kirchlicher Amtsträger, die Politik und Evangelium verwechseln und ihre Gemeinden statt mit dem Brot des Lebens mit Steinen abfüttern. Der geistliche Ausverkauf auf EKD-Ebene zeigt sich in jahrzehntelang geführten Debatten um Themen wie Umweltpolitik, Homophilie oder Gender-Ideologien. Dies sind keine kirchlichen Arbeitsfelder im Weinberg des Herrn sondern vielmehr Schrebergärten eigener Orchideenzüchterei. Darüber werden die Kernaufgaben wie Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und Seelsorge zu Randthemen degradiert. Der vom früheren bayerischen Kirchenpräsidenten Hermann Dietzfelbinger diagnostizierte „zweite Kirchenkampf“[1] richtet heute weit schlimmere Schäden an als die Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen im Dritten Reich. Die Tragik besteht darin, dass er nicht einmal als solcher erkannt wird. Die Kirche blutet langsam aus, weil sie ihre Salzkraft und ihre Kampfkraft als ecclesia miltans verloren hat und immer mehr zum Kuschelverein für Ideologien, Moralvorstellungen und politische Indoktrination verkommt. Die Besinnung auf das Wesen und die Aufgabe der christlichen Kirche tut hier dringend Not: der Bremer Predigttextstreit um Pastor Olaf Latzel hat das klar gezeigt: es geht um den Anspruch des Christentums und die Einmaligkeit des auferstandenen und widerkommenden Jesus Christus, der sein Blut zur Vergebung der Sünden am Kreuz auf Golgatha vergossen hat.

Mit Hilfe der klassischen richtig-verstandenen Zwei-Reiche-Lehre Luthers kann diesem Missstand begegnet werden. Die Vermischung von Weltlichem und Göttlichem führt zu einer – oft angemaßten – Allzuständigkeit von Kirchenleuten, die sich um Dinge kümmern, die sie eigentlich nichts angehen. Dies verbirgt sich hinter Tarnworten wie Wächteramt der Kirche, Paradigmenwechsel oder gar Theologie der Einmischung. Die strikte Trennung tut dringend Not: im Bereich der Friedensethik braucht der Staat keine kirchlichen Nachhilfestunden, was er zu tun oder zu lassen hat, denn das gouvernantenhafte Einmischen in fremde Zuständigkeiten ist überflüssig: eine Verteidigungsministerin braucht keinen kirchlichen Friedensbeauftragten, um ihr Amt ordentlich und verantwortungsvoll führen zu können. Die von Altbischof Huber angeprangerte kirchliche „Politikbeschimpfung“ nützt niemand. Die Besinnung auf den geistlichen Auftrag und das Reduzieren auf die Fundamente des christlichen Glaubens ist m.E. das Gebot der Stunde. Das verbissene Kämpfen auf Nebenkriegsschauplätzen aller Art schwächt die christliche Kampfkraft an der Hauptkampflinie: die geistliche Waffenrüstung (Eph 6, 10-17) ist klar vorgegeben. Folgt man diesem Verweis auf Zuständigkeiten, werden Geistliche wieder Geistliche sein dürfen anstatt immer mehr zu Verwaltungsbeamten zu mutieren. Ein klares Zeugnis erfordert eine klare Botschaft. Solange diese nicht klar ist, sind alle anderen Selbstheilungsversuche zum Scheitern verurteilt. Der berühmte Friedrich von Bodelschwingh hat in den Tagen des Kirchenkampfes seine Brüder dazu ermahnt, jede von außen kommende Kritik an der Kirche sehr ernst zu nehmen und sich selbst zu prüfen, ob die Kritik nicht zurecht erfolge: legen wir diesen Maßstab an, so muss das – in vielen Kirchenkreisen höchst unbeliebte – Wort der Buße ins Spiel kommen: das Wunderbare der Buße ist die Chance zur Umkehr und zum Neuanfang. Schonungslose Selbstkritik kann hier einen evangelischen Neustart ermöglichen aus so mancher kirchlichen Sackgasse, in die die Wohlstandstheologen mit ihrer hausbackenen Werkgerechtigkeit geführt haben. Kirche ist nicht der bunte Jahrmarkt für alle möglichen Vorstellungen und Ideen sondern die Speerspitze Gottes in der Welt, die einen klaren Auftrag hat und sich diesem in Geschichte und Gegenwart oft entzogen hat. Die Folgen dieser theologischen Fahnenflucht ist der Exodus der Menschen aus dieser Kirche mit der man sich nicht mehr identifiziert. Treffend sagt es der apokryphe Ignatiusbrief: „Seid eurem Kriegsherrn zu Gefallen, von dem ihr auch den Sold erhaltet; möge keiner von euch als Deserteur erfunden werden! Eure Taufe bleibe als Wappnung, der Glaube als Helm, die Liebe als Speer, die Geduld als Rüstung; eure Einlagen seien eure Werke, auf dass ihr einst euer Guthaben entsprechend erhaltet“.

 

Ulrich Kronenberg, aufgewachsen als Kind eines Berufssoldaten in Rengsdorf, München, Höxter, Heidelberg, Heerlen, Minden und Köln, verheiratet mit Pfrin Heike Kronenberg seit 1990, Ausbildung zum Reserveoffizier der Bundeswehr, studierte von 1986 bis 1992 Theologie. Nach dem Vikariat in Kusel  tätig im Gemeindepfarrdienst im Kirchenbezirk Zweibrücken und in der Krankenhausseelsorge, Notfallseelsorge, Militärseesorge. Promotion zur Friedensethik angestrebt. Seit 1/2016 im Kirchenbezirk Speyer im Gemeindepfarrdienst verwendet.

 

[1] „Haben diejenigen ganz unrecht, die von einer Epoche geistlicher Verwirrung und Verzweiflung reden, in deren Anfang wir uns befinden? Anders gesagt: Wenn nicht alles täuscht, so stehen wir heute in einem Glaubenskampf, einem Kirchenkampf, gegenüber dem der Kirchenkampf des Dritten Reiches ein Vorhutgefecht war. Das Unheimliche dabei ist, dass dieser heutige Kampf vielfach kaum erkannt, zu allermeist verharmlost wird und unter Tarnworten wie Pluralismus voranschreitet“