Rezension zu: Erik Flügge, „Nicht heulen, sondern handeln“

Erik Flügge: Nicht heulen, sondern handeln. Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft, Kösel-Verlag, München 2019, 90 Seiten, 12,00 Euro.

Diese Rezension erschien zuerst im Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin: MdEZW 83/2 (2020), S. 154–158.

Mit seinem ersten Buch erklomm er die Spiegel-Bestseller-Liste („Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“, 2016), bald folgte eine zweite, ebenfalls viel gelesene Kirchenreformschrift („Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“, 2018, gemeinsam mit David Holte). Im letzten Jahr hat sich der Politikberater und freie Autor Erik Flügge dann ausdrücklich die evangelische Kirche vorgenommen, mit einem schmissigen Plädoyer für einen protestantischen Neuaufbruch. Er findet damit erneut gehörige Resonanz.

Man wird von einem Text dieser Gattung und Kürze keine sorgfältigen Analysen und abgewogenen Urteile erwarten. Hier wird nicht differenziert argumentiert, sondern provokativ zugespitzt. Dabei werden subjektive Beobachtungen, Empfindungen und Ideen im Schwung der Rede zu Behauptungen mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Aber der Duktus apodiktischer Selbstgewissheit ist nicht so sehr Ausdruck von Selbstgefälligkeit als Mittel rhetorischer Verschärfung. Flügge weiß, dass seine Rede Leserinnen und Leser in Teilen „wütend machen“ (15) wird, und er will sie wütend machen.

Dagegen ist wenig einzuwenden. Entscheidend ist, ob es sich um eine produktive Provokation handelt. Warum sollte man sich nicht einmal von den Eindrücken und Einfällen eines jüngeren Zeitgenossen herausfordern lassen, wenn es der Zukunft des Protestantismus dient? Dass Flügge selbst ein „liberaler Katholik“ ist, den ein Faible für das Protestantische zum Schreiben treibt, tut hierin nichts zur Sache. Was also hat er zu sagen, nach Abzug aller dem rhetorischen Effekt geschuldeten Einseitigkeiten, Pauschalisierungen und Überspitzungen?

Der Basissatz seines Thesenbuches lautet, nicht ganz überraschend: Es steht schlecht um den Protestantismus. Diejenige christliche Konfession, die die moderne Welt geprägt hat wie keine andere, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. In den Kirchen herrscht gähnende Leere. Das Alter der wenigen Gottesdienstbesucher ist so hoch wie die atmosphärische Tristesse tief. So versinken die Kirchenleute „in ständiger Trauer über den langsamen Niedergang“ (16). In archivarischer Traditionsfixierung versäumen sie es, endlich nach vorne zu schauen und das Alte „zugunsten des schöpferisch Neuen“ (20) entschieden hinter sich zu lassen. „Wie erhebend wäre jener Moment, in dem sich ein Protestant loslöste von der Vergangenheit und eine Wand einschlüge. Die Wand einer Kirche, damit die Welt von draußen hineinbricht. Damit das geschäftige Treiben auf unseren Einkaufsstraßen in die Kirche hineinbrandet. Damit die Flut der Nachrichten rund um die Welt das Innerste des Kirchenraums durchflutet.“ (20)

Flügges Grunddiagnose ist eine rhetorisch dramatisierte Reformulierung des kirchensoziologischen common sense. Sie ist nicht falsch. Aber dann seine Lösungsparole: die Wand der Kirche einschlagen, damit die Welt hineinbricht, hineinbrandet, hineinflutet. Das Bild scheint direkt dem Programm eines politischen Nachtgebets von 1974 entnommen und gehört zu den abgegriffensten Reformmetaphern der letzten Jahrzehnte.

Es folgen Konkretisierungen. Dabei wird man bald mit einer radikalen These konfrontiert. Flügge ruft den protestantischen Leserinnen und Lesern zu: „Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.“ (30) Seiner Ansicht nach lässt sich dem evangelischen Gottesdienst auch nicht durch irgendwelche Umformatierungen neues Leben einhauchen. Warum nicht? Weil die Kanzelrede obsolet geworden ist. „Warum sollte man einer protestantischen Predigt […] lauschen? – Man erfährt ja nichts Neues, sondern nur mittellauwarm Aufgewärmtes.“ (26f)

Nun ist die Klage über irrelevante Predigten ihrerseits so alt wie die protestantische Predigt selbst. Aber die Begründung der Irrelevanzbehauptung lässt aufhorchen. Gottesdienst und Predigt, so Flügge, sind just durch den Siegeszug des Protestantismus selbst obsolet geworden. Denn kraft der reformatorischen Idee vom Priestertum aller Gläubigen wurden die Menschen zu einer Gottesbeziehung befreit, die keiner priesterlichen Vermittlung mehr bedarf ­– Protestanten können auch im stillen Kämmerlein und in der freien Natur gottinnig sein. Und sie wurden befreit zu einer Mündigkeit, die keine pastorale Belehrung von der Kanzel mehr braucht ­– der protestantische Mensch kann selbst in der Bibel lesen und kann sich seinen eigenen Reim auf Gott und die Welt machen.

Der Erfolg des Protestantismus also hat Gottesdienst und Predigt überflüssig gemacht. Darum spricht Flügge seinen Leserinnen und Lesern tröstend zu, „dass das Ende des Gottesdienstes Sie nicht erschrecken muss, sondern erfreuen könnte“ (34). Es ist dementsprechend endlich die „Möglichkeit eines Protestantismus ohne Gottesdienst“ (31) mutig ins Auge zu fassen und wohlgemut zu bejahen, um sich der beschriebenen Dauerfrustration zu entledigen. Freilich rechnet der Thesenautor mit heftigem Widerstand gegen diese Option. Denn seiner Erfahrung nach wird die Überzeugung vom Gottesdienst als „Mittelpunkt einer Kirche“ (31) von der protestantischen Funktionselite als unantastbares Dogma ins Feld geführt, auch wenn sie durch das Fernbleiben von 97% der Kirchenmitglieder Sonntag für Sonntag als Zeichen einer binnenkirchlichen „Verweigerung der Realität“ (31) entlarvt wird.

Die „Realität“ auf seiner Seite zu wissen, ist immer gut. Und tatsächlich ist die Wirklichkeit der Zahlen ja kein schwaches Argument. Der Gedanke, das Ausbleiben der allermeisten sei ein Beweis für die Verzichtbarkeit des Gottesdienstes, ist nachvollziehbar. Man sollte ihn auch nicht reflexhaft mit der Berufung auf Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses erledigen. Aber sicher genügen die Überzahl der Fernbleibenden und die Ideen Gottunmittelbarkeit und Mündigkeit nicht als Argumente für die Abschaffung. In welchem Verhältnis steht der beträchtliche kirchliche Ressourcenaufwand zu der Erbauung, die der Gottesdienst nicht wenigen Menschen immer noch zu bieten scheint? Welchen Beitrag leisten dazu neben der Predigt die Musik, das gemeinsames Singen und Beten? In welchem Verhältnis steht der Wert des Gottesdienstes für die Anwesenden zu der Relevanz für die Abwesenden, welche Religionssoziologen mit dem Begriff der „stellvertretenden Religion“ (Grace Davie) geltend machen? Lässt sich überhaupt eine Religionsgemeinschaft ohne ein symbolisches Zentrum in einem institutionalisierten Ritus denken? Eine Erwägung dieser komplexen Fragen darf man in dem Provokationsbuch nicht suchen. Aber sie wird von ihm immerhin – provoziert.

Auch im Weiteren überdeckt der Hang zur Radikalität fast die bedenkenswerten Impulse. Denn Flügges Vision eines Protestantismus ohne Gottesdienst ist zwar überspitzt, aber nicht in jeder Hinsicht abwegig. Sie nimmt die alte kulturprotestantische Idee einer Religiosität im Gewand der Kunstandacht auf. „Haben Sie schon einmal auf einem Kirchenkonzert in einer protestantischen Kirche nur die Gesichter beobachtet? Eine stille Zufriedenheit in jedem Menschen, der da ist. Viele Augen geschlossen und ganz konzentriert auf den Moment. Es sind diese Augenblicke, für die ich diese Konfession liebe.“ (37) Wie andere vor und neben ihm macht Flügge darauf aufmerksam, dass es in der Moderne auch eine christliche Religiosität oder „Spiritualität“ jenseits kirchlicher Formen gibt, die als ernstzunehmende Gestalt von Christentum zu würdigen und von der Kirche zu fördern ist. Da der Sinn für die ästhetischen Spielarten des Religiösen durchaus nicht überall anzutreffen ist, kann man diesen neuerlichen Hinweis umstandslos begrüßen. Gleichwohl sind auch hier Rückfragen angebracht: Ist das Besucherpotential bei Kirchenkonzerten wirklich so viel größer als bei Gottesdiensten? Sind nicht die bürgerlichen Bildungsvoraussetzungen eher noch höher als niedriger? Wie oft passiert es außerdem im Konzert, dass sich die kontemplative Innerlichkeit gar nicht einstellen will, weil einem die Tonkunst äußerlich bleibt?

Nach dem Gottesdienst widmet sich der Autor zwei weiteren Identitätsmerkmalen des Protestantismus: dem Rekurs auf die Bibel und auf den Reformator. Wieder legt er den Finger in offene Wunden und fordert damit legitimerweise zur Auseinandersetzung heraus. Seit Antike und Reformation hat sich der Abstand zwischen den biblischen Texten und der Welt der Gegenwart massiv vergrößert. Auch das ist keine neue Einsicht, aber Flügge bringt ein daraus resultierendes Grundproblem gut auf den Punkt. Der konstitutive Schriftbezug macht die protestantische Frömmigkeit umwegig und daher schwergängig: „Weil sich der erklärende Text“, der den Abstand zu überbrücken hat, „immer mehr in die Länge ziehen muss.“ (47) Dazu kommt die distanzierende Wirkung des historischen Bewusstseins, das sich von der Bibel nicht fernhalten lässt. Um ihrem „Relevanzverlust“ (48) entgegenzutreten, fordert Flügge: „Schreiben Sie die Bibel endlich fort.“ (48) Weil dem Protestantismus aber die Aktualisierung im katholischen Modus lehramtlicher Auslegung nicht zu Gebote steht, kann er nur auf die Fortschreibung durch einen neuen Propheten oder eine neue Prophetin hoffen. Sonst droht ihm die Vergreisung.

Luther war einst ein solcher Prophet. Aber: „Luther ist tot.“ (51) Seine Aktualisierung der Schrift hat sich überlebt, weil der geistige Abstand der Gegenwart auch zur Reformationszeit immer größer wird. „Mit jedem Tag, der vergeht, verliert Luther an Aktualität. Egal, wie sehr man die Aktualität Luthers auch als Kirche immer neu beschwört.“ (52) Natürlich ist das wieder provokativ formuliert. Ob sich aber Theologie und Kirche zu oft damit begnügen, lutherische Schlüsselgedanken zu reformulieren und zu erklären, wird man immerhin fragen dürfen. Auch hier trifft es zu: Der dominierende Reformationsbezug macht die protestantische Frömmigkeit schwergängig, weil er immer längere Erläuterungen erfordert.

Sollte sich aber ausgerechnet die Hoffnung auf eine neue Prophetin als Ausweg aus der Vergreisungsgefahr und aus der „Ecken- und Kantenlosigkeit“ (66) der modernen Synoden- und Funktionärskirche empfehlen? Könnte ein solcher Prophet die „innere Ausgebranntheit der gesamten Kirche“ (26) und den von Flügge dafür maßgeblich verantwortlich gemachten Zweifel an der leiblichen Auferstehung überwinden? Und kommt wirklich die vorgeschlagene Direktwahl von Reformimpulsgebern „auf Zeit“ durch alle protestantischen Christen weltweit als ein Mittel zur Prophetenfindung infrage? Flügge ahnt selbst, dass er mit diesen Vorschlägen ins Abwegige gerät. Aber man kann aus ihnen den Appell an die „frei denkenden Menschen“ (74) in Theologie und Kirche ableiten, ohne traditionalistisches Korsett (wohl aber mit Traditionsbewusstsein) nach gegenwartsplausiblen Gestalten von Christentum zu suchen. Dass sie sich dann auch breitenwirksam durchsetzen, steht nicht in der Macht institutioneller Organisation.

Blickt man auf die Lektüre zurück, bleibt das Gesamtbild zwiespältig. Flügges Pathos radikaler Infragestellung ist anstrengend, und es wirkt in seiner Überspanntheit zugleich sehr medienmarktförmig. Aber obgleich die Lösungen zu kurz greifen, enthält das Büchlein doch einige produktive Denkanstöße. Es ist ihm daher trotz allem zu wünschen, dass es noch einige Leserinnen und Leser findet. Bald wird es wieder vergessen sein. Eine Provokation, die Reformen oder gar Reformationen hervorrufen will, braucht mehr Substanz.

Martin Fritz

Rezension zu: Kristin Merle, „Religion in der Öffentlichkeit“

von Claudia Kühner-Graßmann

Merle, Kristin: Religion in der Öffentlichkeit. Digitalisierung als Herausforderung für kirchliche Kommunikationskulturen (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, Bd. 22), Berlin/Boston 2019.

Der Titel des Buches ist verheißungsvoll. Endlich beschäftigt sich mal jemand praktisch-theologisch so ausführlich mit der Digitalisierung! Und das mit dem selbstbewussten Anspruch, „einen theologischen Beitrag zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten über Mediatisierung und einen neuerlichen ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ zu leisten“ (24).

Die Habilitationsschrift der Hamburger Praktischen Theologin, die in Tübingen entstanden ist, will dabei zugleich „einen Beitrag zur Integration von Methoden der Online-Forschung […] in das Methodenensemble theologisch-empirischer Religionsforschung“ (24) leisten. Dem kommt die Studie auch nach.

Ausgangspunkt ist die These, dass Religion kommunikativ verfasst und Kirche auf Öffentlichkeit bezogen ist. Hier zeigt sich schon ein erstes Ensemble an Anfragen, denn diese These ist zwar nicht falsch, aber sie wird letztlich gesetzt. Auch der Überschritt von Religion zu Kirche wird nicht näher ausgeführt. Obgleich Merle mit Kirche in der Regel „die empirische Kirche als sozial verfasste Größe“ (2, Anm. 4) meint, schillert der Kirchenbegriff in der Studie leider zwischen normativer Abgrenzungsfolie und einer empirischen Verwendungsweise. Deutlich wird, dass der Kirchenbegriff eingebettet ist in ein Religionsverständnis, das insbesondere in Kapitel 3 dargelegt wird.

Doch davor skizziert Merle in Kapitel 2 einen neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit unter dem Mantel der Digitalisierung. Dass sie dabei Habermas’ bekannte Thesen zugrunde legt, bringt gewisse – von der Autorin freilich bemerkte – Schwierigkeiten mit sich, da die eigentlich empirische Studie damit das Vorverständnis einer ideengeschichtlich-soziologischen Analyse übernimmt. Dieses Kapitel ist dennoch so dicht wie informativ und absolut lesenswert! Merle erläutert hier nicht nur ihre These vom neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit, sondern unterzieht diesen Begriff einer umfassenden Analyse. Es läuft darauf hinaus, in der partizipativen, netzartigen und interaktiven Kommunikation, die das Internet ermöglicht, sowohl einen Strukturwandel der Öffentlichkeit als auch einen subjektiven Bedeutungswandel von Partizipation festzuhalten. Das Internet vereine verschiedene Öffentlichkeitsebenen, deren Grenzen dabei zugleich durchlässiger werden. Öffentlichkeit wird dabei als intermediäre Struktur mit Netzwerkcharakter gesehen, als „gesellschaftlicher Aushandlungsprozess“ (26). Dem Anspruch nach bewegt sich Merle dabei auf der Ebene der empirischen Darstellung von Öffentlichkeit. Normative Aspekte des Begriffs sollen weniger beachtet werden, wobei die Frage offen bleiben muss., ob sie nicht doch unter der Hand mitgeführt werden.

Kapitel 3 legt den Fokus auf den Zusammenhang von religiöser Kommunikation und Digitalisierung. In einem ersten Teil beschreibt Merle die Struktur digitaler Kommunikation näher. Für die flüchtige Weise der Kommunikation im Internet entwickelt sie den Begriff der „passageren Kommunikation“ (vgl. 145), der von da an als ein zentrales Schlagwort fungiert. Für den Fortgang der Argumentation ist wichtig, dass von der Entwicklung hin zu einer „Kultur der Digitalität“ ausgegangen wird, in der wiederum – wie beim Öffentlichkeitsbegriff – Aushandlungsprozessen eine wichtige Rolle zukommt.

Der zweite Abschnitt des Kapitels befasst sich mit „Transformationen von Religiosität in der Gegenwart“. Stichworte dieser Transformation des Religiösen sind Individualisierung, Pluralisierung und Synkretisierung, Popularisierung und Spiritualisierung, Eventisierung. Dieser Abschnitt ist eher überraschungsarm, ist man mit den Thesen des Kreises um Wilhelm Gräb und Birgit Weyel bereits vertraut. Zudem referiert Merle religionssoziologische Thesen, die in der Debatte ebenfalls nicht ganz unbekannt sind (Luckmann, Knoblauch). Wie vor diesem Hintergrund zu erwarten ist, läuft die Entwicklung auf eine Krise der Institutionen hinaus, weil die Verbindlichkeit von Religiosität abnimmt, weil es eine Konkurrenzsituation im Bereich der Religion gibt etc. Für den weiteren Verlauf sind hier wiederum vor allem zwei Aspekte von Interesse: zunächst die Grundbewegung des Transzendierens, die mit Luckmann und Knoblauch erläutert wird. Hier etabliert Merle das Konzept einer „transzendierungsoffenen Kommunikation“, unter der sie Kommunikation versteht, „die mittels des Gebrauchs von Zeichen und Symbolen als eine solche erkennbar wird, in der der Eine eine Bereitschaft signalisiert, durch die Kommunikation mit dem Anderen in einen kommunikativen Austausch involviert zu werden, der gegebebenfalls den eigenen Standpunkt beziehungsweise die die eigene Perspektive auf etwas verändert. Anders ausgedrückt: Die Auseinandersetzung mit dem Anderen, die mich selbst involviert, führt in eine Bewegung des Transzendierens hinein, deren Ausgang noch offen ist“ (184). Wichtig ist, dass Transzendenzerfahrungen vom Alltag ausgehen. Zweitens erläutert Merle den Aspekt der Mediatisierung von Religion und Religiosität, denn die Entgrenzung der Kommunikation führe zu einer Sichtbarkeit der Religion, die wiederum in vielen Fällen auch „Entprivatisierung“ bedeute (203). „Religion ist öffentliche Religion geworden“ (ebd.) – allerdings auf nicht-institutioneller Ebene, so die These. Die Grundperspektive bleibt dabei gebunden an die individuelle Religiosität des Einzelnen, und von da aus wird – als unpersönlich-allgemeines Gegenüber – die in der Kirche institutionalisierte Religion betrachtet und bewertet.

Kapitel 3 endet mit einem Abschnitt zur Resonanz. Merle nimmt dabei die Theorie Hartmut Rosas auf und ergänzt sie mit Martin Altmeyer, der der digitalen Kommunikation, anders als Rosa, eine positive Funktion zugesteht. Neben der Resonanzaffinität religiöser Kommunikation ist Merle wichtig hervorzuheben, dass digitale Kommunikation selbst wiederum transzendierungsoffen und resonanzaffin sei. Ihr Stichwort ist die „resonanzsensible Kommunikation“ (216). Merle geht dabei nicht vom Inhalt der Kommunikation, sondern von der Form aus, in der sich eine „religiöse Grundhaltung“ ausdrücke, „als mit der transformatorischen Kraft eines antwortenden Gegenübers gerechnet wird“ (217, H.i.O.). Diese Grundhaltung wiederum sei eine Voraussetzung für Erfahrungen der Resonanz.

Das geht am Ende fast schon zu gut auf. Nach der Lektüre dieses Kapitels bleiben bei der Rezensentin viele Fragen offen, die vor allem die Validität und Belastbarkeit der verwendeten Theorien betrifft.

Kapitel 4 bildet schließlich den empirischen Hauptteil der Arbeit. Merle untersucht hier gesteuerte Onlinekonversationen, um diese nach ihrem religiösen Gehalt – vor dem Hintergrund des in Kapitel 3 entwickelten formalen Religionsbegriffs – zu befragen. Sie hat sich dabei für die Kommentare unter Artikel zur Sterbehilfe entschieden. Das praktisch-theologische Interesse liegt darin, Konsequenzen für kirchliche Kommunikationskulturen aufzuzeigen und zugleich auch Methoden der Online-Forschung in die praktische Theologie zu integrieren. Ihre Methode beschreibt sie als qualitative Inhaltsanalyse der Erhebung und Auswertung. So ausführlich und aufschlussreich die Analyse ist, zu der Merle auch noch christliche Blogs zum Thema Sterbehilfe hinzuzieht – eine Vorannahme mag der Rezensentin nicht einleuchten: Der individuellen Religiosität wird „die“ Kirche gegenübergestellt. Kirche fungiert quasi als Gegenbegriff zu freier Religiosität. Wobei hier eine genauere Klärung, was darunter zu verstehen ist, sehr hilfreich gewesen wäre. Der Verdacht liegt nahe: Die Suche nach „kirchlichen“ Argumentationsmustern in den Onlinekommentaren muss schon deswegen erfolglos sein, weil Merle darunter primär die kirchenleitenden Positionierungen in Form von Denkschriften oder Äußerungen des EKD-Ratsvorsitzenden versteht. Polemisch-überspitzt gefragt: Hat sie wirklich erwartet, dass sich diese Positionen direkt als Argument und Autorität in den untersuchten Onlinekommentaren finden? Umfasst Kirche nicht mehr Akteure als die Kirchenleitung? Unter diesen Voraussetzungen wundert es fast kaum, dass die Untersuchung ergibt, dass „kirchliche“ Argumentationsmuster keine Rolle spielen (vgl. 304). Interessant ist zwar, dass es auch keinen Bezug in abgrenzender Funktion auf diese kirchlichen Positionen gibt. Allerdings bleibt weiter die Frage offen, inwiefern diese von Merle zugrunde gelegten Positionen überhaupt rezipiert werden, welchen Stellenwert diese Schriften und Äußerungen überhaupt haben? Welcher Stellenwert dagegen könnte der Kirche und ihren Institutionen als Diskursraum zukommen, der zur Bildung von Positionen beiträgt, ohne die Teilnehmer zugleich auf normierende Äußerungen der Kirchenleitung zu verpflichten? Merle ist zuzugestehen, dass sich hier gravierende methodische Schwierigkeiten anmelden und die Einschränkung auf explizit-kirchliche Stellungnahmen nahe liegt, doch bleibt die Erkenntnis so eben begrenzt.

Das Kapitel endet mit der Feststellung: „Die gesellschaftliche wie kirchliche Herausforderung besteht darin, Räume für Deliberationsprozesse zu öffnen, die unterschiedliche Meinungen (und Frömmigkeiten) in einen produktiven Austausch miteinander bringen“ (378, H.i.O.). Dem ist gerade hinsichtlich der genannten Anfragen voll zuzustimmen.

Kapitel 5 „Kirche und Öffentlichkeit: die medialen Transformationsprozesse und die Kommunikationskulturen der Kirche“ schließt an die bisherigen Thesen an und beginnt mit einer Zusammenschau der bisherigen Ergebnisse. Diese verweisen so auf die Frage, worin die Effekte der Digitalisierung für die kirchliche Kommunikation besteht. Merle legt einen dynamischen Begriff von Öffentlichkeit zugrunde und konstatiert: Kirche „kommuniziert auf Öffentlichkeit hin, vernetzt sich mit konkreten Öffentlichkeiten und schafft durch ihr kommunikativen [sic!] Handeln selbst Öffentlichkeiten“ (382). Der erste Abschnitt führt auf eine Untersuchung der Public Relations hin als Beziehungsgestaltung zwischen Organisation und Netzwerköffentlichkeit. Dies führt sich im zweiten Abschnitt zu einer Aufzählung von Anforderungen an (Volks)Kirche und christlicher Publizistik. Übergreifend kann man sagen, dass Kirche sich Netzstrukturen anverwandeln soll. Aber außer dem Hinweis, dass diese Kommunikation als spontane und persönliche, unkontrolliert und dezentral stattfinden soll, finden sich wenige konkrete Ausführungen (Stichworte wie Community-Building und Community-Management, Online-Monitoring, Crowdsourcing und Audience Engagement, Datenschutz und Datensouveränität fallen). Es bleibt für die Rezensentin die Frage, wie sich diese Anforderungen am Besten mit der Eigenlogik der Kirche und ihrer Kommunikation, die es ja durchaus gibt, vereinbaren lassen. Aber das wären wohl Überlegungen, die über die vorliegende Studie hinausgehen.

In einem zweiten Abschnitt geht Merle auf die Pluralität der Volkskirche und ihre Öffentlichkeitsrelevanz ein. Dabei arbeitet sie mit Pohl-Patalongs und Hauschildts Bild der Kirche als Hybrid. Die sicherlich richtigen Anliegen, Kirche auch jenseits von Institution und Organisation zu begreifen sowie die individuelle religiöse Erfahrung ernst zu nehmen, werden durch eine unterschwellige Polemik gegen „die“ Kirche untermauert. Hierbei ist aber erneut zu fragen, was eigentlich unter Kirche verstanden wird. Gegen was wird sich konkret abgegrenzt? Wessen pfarrherrlicher Kirchenbegriff steht denn im Hintergrund der Kritik? Die Idee, Volkskirche als „Konzeptbegriff in praktisch-ekklesiologischer Perspektive“ (413) zu entfalten, die durchaus interessant ist, steht ohne eine theologische Klärung ebenfalls etwas unvermittelt im Raum. Auch das Konzept intermediärer Konzeptionen wird eher angedeutet. Was schade ist, denn die Punkte, die Merle nennt, sind durchaus verheißungsvoll: Kirche selbst sollte intermediär werden, womit sie dann dem Partizipationsbedürfnis der Menschen entspräche. Diese Aspekte sind interessant, werden aber rein als empirische Anforderungen mit normativen Implikationen für die Kirche kommuniziert. Interessant wäre eine Auseinandersetzung mit theologischen Aspekten, die aus der Eigenlogik des protestantischen Kirchenverständnisses selbst erwachsen.

Zum Schluss von Kapitel 5 beschäftig sich Merle dann noch mit der Strömung der Gegenwartstheologie, die sich unter dem Begriff der sog. Öffentlichen Theologie sammelt. Nach einer Darstellung stellt sie drei Anfragen an die Öffentliche Theologie: Wer ist das Subjekt dieser Theologie? Wie könnte Öffentliche Theologie unter einem gesteigerten Pluralismus und einer religiös-weltanschaulichen Selbstbestimmung der Subjekte zu fassen sein? Und wie kann auf das Problem der Bedingung öffentlicher Artikulation von Positionen im weiteren Sinne rekurriert werden? Hier sind sicher zentrale Anfragen formuliert.

Das Buch endet mit einem Kurzen Epilog (Kapitel 6), in dem Merle den Bogen der Studie nochmals erläutert. Dieser ist eindrucksvoll – doch bleibt bei der Rezensentin am Ende die Frage, in welchem Verhältnis die ausführliche sozialwissenschaftliche Analyse zur dezidiert theologischen Reflexion steht. Ist eine solche überhaupt noch vorgesehen? Ja, hier wird ein Punkt berührt, der über dieses Buch hinausgeht: inwieweit ist Praktische Theologie Theologie? Allein durch die Arbeit an einem gewissen Gegenstand, etwa christlich-religiöser Kommunikation? Oder auch durch ihre Methode? Und ist Praktische Theologie am Ende die Anwältin einer von ihr erhobenen Empirie gegenüber Theologie und Kirche? Wünschenswert wäre doch ein Gespräch zwischen dem, was empirisch erhoben wird und dem, was dazu theologisch zu sagen ist. Die vorliegende Studie neigt dazu, sich an einem polemisch verzeichneten Kirchenbegriff abzuarbeiten, der wohl nicht völlig falsch ist, aber doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Anspruch einer solchen empirischen Untersuchung steht.

Nichtsdestotrotz bietet die Studie viele interessante Aspekte dar, die zum Nachdenken anregen. Und das wäre zu hoffen: dass die Ergebnisse zum kirchlichen Diskurs über die Öffentlichkeitspräsenz unter den Bedingungen der Digitalisierung beitragen, Und dass dieser Diskurs sich auch durch wissenschaftliche, nicht zuletzt empirisch und soziologisch fundierte Sichtweisen irritieren lässt. Wünschenswert wären auf Grundlage dieser Studie weitere theologische Beiträge zu diesem Thema, die das Verhältnis von Kirche und digitaler Öffentlichkeit noch einmal von der anderen Seite aus in den Blick nehmen. Anknüpfungspunkte gibt es, das zeigt Merles Buch, ja genügend.

Unsere Eindrücke vom #bckirche Süd

Koordiniert und zusammengestellt von @andy_h_krumm(Felix Weise).
Mit Beiträgen von: @leiseleben, @FunforTimo, @mein_kla4 und @megadakka

Felix (@andy_h_krumm): Zuerst einmal: Was ist eigentlich ein barcamp?

Wer das schon weiß, kann diesen Abschnitt ja einfach mal überspringen. Ein barcamp ist eine Art Konferenz, die maßgeblich von den Teilnehmenden mitbestimmt wird. In diesem Fall hatten die Landeskirchen in Baden, Bayern und Würrttemberg eingeladen und weder Kosten und Mühen gescheut, um eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Die Anmeldung war kostenfrei, nur um eine Übernachtung musste man sich selbst kümmern. Daneben wurde man hervorragend verpflegt. Kaffee und Brezeln, Bier, Saft, Limonade rund um die Uhr, sowie Mahlzeiten. Und die Räume! Das ganze fand nämlich im wizemann space statt. An der Kleinschreibung erkennt man schon: ein ganz schön hipper Ort. Aber in dem Fall: irgendwie auch ein Ort mit einer tollen Atmosphäre. In diesem Rahmen war es allen Teilnehmenden freigestellt, über das Wochenende irgendwas um die 100 Leute (keine Gewähr für die Zahlen), sessions anzubieten. Eine session kann ganz unterschiedlich sein: Ein vorbereiteter Vortrag, die Vorstellung einer App oder eines Instagram-Konzepts oder einfach das Angebot in einer kleinen Runde eine bestimmte Fragestellung zu diskutieren. Am Anfang des barcamps wird gesammelt, wer welche session anbieten möchte, erhoben, wie viele Leute noch an so einer session interessiert sind und dann ein  Zeitplan erstellt, wann wo welche session stattfindet.

Dann ging es also los. Die Auswahl an Veranstaltungen war fast größer als das Vorlesungsverzeichnis einer guten theologischen Fakultät. Es gab unglaublich viele versierte Menschen, die etwas zum Thema Kirche und Internet zu sagen hatten. Ein paar Blitzlicher findet ihr hier.

Alina (@leiseleben): Hatespeech macht uns nicht mehr sprachlos!

Schätzungsweise 30 Teilnehmende tauschen sich in der Session „Hatespeech macht mich sprachlos“ über Hasskommentare aus. Meist handelt es sich bei Hatespeech um sexistische, rassistische oder antisemitische Nachrichten oder Aufrufe zur Gewalt. Diese richten sich oft gegen einzelne Menschen oder Menschengruppen. In der Session, die von @CBoruttau initiiert und durchgeführt worden ist, wird der Umgang mit Hasskommentaren thematisiert.

Viele Teilnehmende haben die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass das Melden von Hasskommentaren bei Social Media Plattformen meist folgenlos bleibt. Auf der Suche nach Reaktionsmöglichkeiten kamen die Teilnehmenden zu folgenden Ergebnissen:

Ein Weg, gegen massive Hatespeech vorzugehen, ist eine Anzeige bei der Polizei. Hatespeech kann ein Straftatbestand sein (Volksverhetzung § 130 StGB, Bedrohung § 241 StGB oder Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 111 StGB) und Hater*innen können juristisch belangt werden. @ChBreit rät, am besten Screenshots von den Hasskommentaren zu machen, da diese vor Gericht als Beweismittel verwendet werden können.

Die meisten Teilnehmenden befürworten die Faustregel „Don’t feed the troll!“. Sinngemäß bedeutet das: Diskutiere nicht mit Trollen*. Es kostet Kraft, mit Trollen* und Hater*innen zu diskutieren und: Es ist sinnlos, da die Personen hinter den Hasskommentaren meist ohnehin kein Interesse an konstruktivem Austausch haben. @pfarr_mensch empfiehlt, auf einen Hasskommentar zum Beispiel mit Bildern von süßen Kätzchen zu antworten. Alternativ ginge auch das Jesus-liebt-Hater-GIF.

Ein außergewöhnlicher Tipp kommt von @ChBreit. Wenn man bestimmte Schriftzeichen schreibt, „verlängert“ sich der eigene Kommentar so, dass er die darunter stehende Nachricht überlagert und man jene nicht mehr lesen kann. So könne man Hasskommentare gewissermaßen durch Überschreiben unsichtbar machen.

Insgesamt war die Session für mich sehr lehrreich. Ich habe praktische Tipps mitgenommen – und den Vorsatz, auf Hasskommentare in Zukunft entsprechend zu reagieren.

Felix (@andy_h_krumm): Apps und Nerds

Gleich mehrere sessions gab es zu Apps, die für den Kirchenkontext entwickelt werden oder wurden. Die Stadtjugend in Ludwigshafen arbeitet gerade z.B. an einer App, über die die Jugendarbeit organisiert werden soll. Die App bündelt Terminkalender der Ludwigshafener Jugend, bietet einen eigenen Messenger und beinhaltet ein Spielearchiv. Die Gestaltung ist recht konservativ, dafür so konzipiert, dass sie von anderen Jugendwerken mit wenig großem Aufwand übernommen werden könnte. Aber, und die Frage stellte sich wohl bei jeder von der Kirche entwickelten Platform, wer nutzt das? Ist es realistisch, dass Konfis sich auf einen Messenger, der weit hinter WhatsApp zurücksteht, einlassen und hierüber Kommunikation untereinander und mit dem Jugendwerk entsteht? Im Fall der Evangelischen Jugend Ludwigshafen, so Stadtjugendpfarrerin Florentine Zimmermann (Instagram: @blueten_segen), kam der Wunsch nach Kommunikation und Terminplanung über eine eigene App von den Jugendmitarbeitenden. Und bei der Anzahl der Apps, die man installiert und später wieder löscht, ist zumindest die Hürde, eine EJL-App zu installieren, wohl eher gering. Es fragt sich nur, wie lange sie auf dem Handy bleibt. Im Verlauf des Gesprächs wurde neben der Rückfrage zum Umgang mit Pushnachrichten (werden sie weggelassen, um als Kirche nicht Suchtfaktoren zu unterstützen?), auch nachgefragt, inwiefern ein Nebeneinander von recht ähnlichen Angeboten nicht ressourcenraubend ist. Könnte nicht eine viel stärker aufgestellte App entwickelt werden, wenn sich Projekte wie die EJL-App, communi und KonApp zusammen tun.

Die Apps unterscheiden sich alle ein wenig in ihrem genauen Anwendungsfeld und auch im Funkionsumfang, dennoch bleibt die Frage, warum nicht mehr Kooperation und Bündelung der Kräfte möglich ist. Fallen wir Protestant*innen in der digitalen Welt unserer Freiheitsliebe und dem evangelischen Pluralismus zum Opfer?

Die Frage ist vermutlich noch grundsätzlicher zu stellen. Momentan versuchen viele Projekte noch, an vielen Punkten erfolgreiche Apps zu kopieren und eine kirchliche, sichere Version anzubieten. Die Budgets sind, wenn vorhanden, nicht besonders hoch, das Problem liegt aber eben viel grundlegender: Dort wo die Kirche versucht nachzumachen, was es schon gibt, kann sie meines Erachtens nur verlieren. Darum stechen für mich Projekte wie cantico (keine Ahnung wie erfolgreich die App ist) positiv heraus, weil hier kreativ eine eigene Idee entwickelt wurde. Cantico bietet ein Liederverzeichnis mit Audiodateien zu verschiedensten Gesangbüchern, so dass man auch als wenig musikalisch-praktischer veranlagter Mensch Handwerkszeug hat, um neue Lieder mit Hörproben schnell zu erlernen. Hier wurde nicht einfach eine App mit sehr viel niedrigeren Mitteln als die Großkonzerne zur Verfügung haben, versucht nachzumachen. Mehr Zusammenarbeit, mehr Innovation, und: Krass, wieviel es auch schon gibt, das waren die Eindrücke die vom Barcamp in Bezugs auf Kirchen-Apps mitnahm.

Ein Beispiel, wie man vorhandene Ressourcen im digitalen Bereich für die Kirche nutzbar machen kann bot Steffen Banhardt. Er stellte ein Skript im Textsatzprogramm LaTeX vor, mit der er quasi alle liturgischen Anlässe bestreitet. Seine Skript war für LaTeX-Anfänger wie mich: eine kleine Offenbarung. Es beinhaltete Funktionen wie das automatische Einsetzen von Wochenspruch und Predigttext oder das Einbinden von Liedern in die Gottesdienstvorlage über eine riesige Liederdatenbank. Ade, stundenlanges Formatieren von Liedblättern, weil man das Lied nicht richtig eingebunden bekommt, oder die Überschrift des Gottesdienstabschnitts einfach nicht über den Zeilenumbruch hinaus springen will. Das macht alles LaTeX. Mit Steffens Skript ist jeder Gottesdienstablauf eine Augenweide und er meinte, dass man nach einer etwas zeitintensiveren Einarbeitung, diese Zeit gut wieder reinholt. Diese LaTeX-Lösung ist vermutlich trotzdem ein Bereich der digitalen Kirche, der nur für wenige Menschen fruchtbar sein wird. Trotzdem hat es mir gezeigt, dass Kirche gerade im Bereich von Open-Source-Projekten, wo selbst mitentwickelt werden kann, großes Potential hat. Ein Teilnehmer formulierte: Die Kirche muss endlich aufhören, alles selbst machen zu wollen. Warum investiert sich nicht viel Geld in Open-Source-Projekte, die für die kirchliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Hier könnte wirklich Innovation entstehen und die Kirche als ressourcenreicher Player ein wichtiger Akteur werden. Die Partizipativität und Transparenz von Open-Source-Projekten ist darüberhinaus im höchsten Maße anschlussfähig für die Kirche und die christliche Botschaft. Priestertum aller Getauften. Programmierertum aller User.

Timo (@FunforTimo): Pfarrer*innen auf Instagram

Die letzte Session des BC 2019 in Stuttgart behandelte die Frage was Pfarrer*innen in sozialen Netzwerken machen. Die Instagram-Influencer Jörg Niesner (@wasistdermensch) und Nicolai Opifanti (@pfarrerausplastik) stellten ihre Arbeit vor.

Opifanti verwies auf die milieuspezifische Nutzung der sozialen Netzwerke. Name und Gestaltung des Accounts habe Einfluss darauf, wer sich für einen Account interessiert.

Mit dem Account pfarrerausplastik präsentiert und kokettiert er mit seinem Pfarrberuf. Dabei achte er jedoch darauf, sich in natürlichen Alltagssituationen zu präsentieren. Denn so wird er als lebenszugewandter Experte in Sachen Glaubensfragen verstanden. Die Nutzer*innen wenden sich mit ihren Fragen zu Glaubensthemen deshalb an ihn.

Mit der Thematisierung von Social-Media-Pfarrer*innen im kirchlichen Raum besuchen aber zunehmend klassische Kirchenmenschen den Account. Dadurch verändert sich der Charakter der Unterhaltungen, denn die gestellten Fragen werden zunehmend in Kirchensprech gestellt. Das kann nichtkirchlich sozialisierte Menschen abschrecken. Für Opifanti bleibt es jedoch gerade das Ziel über den digitalen Raum mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sonst keinen Zugang zu Kirche finden.

Niesner versteht seinen Account als digitales Pfarrhaus. D.h. dass er auf der Plattform einen Ort bereitstellen möchte, an dem Menschen Fragen zu ihrem Glauben stellen können. Zudem gibt er persönliche Einblicke in seinen Alltag. Die Einblicke sind also persönlich, haben aber nicht den Anspruch, das private Leben gläsern darzustellen. Vielmehr bilden sie einen ausgewählten Ausschnitt ab. Das Amt an sich weckt laut Niesner nicht das Interesse der Besucher*innen. Vielmehr entsteht Neugierde durch die dargestellte und gelebte Verbindung von Person und Amt. Vielleicht ist es die Pragmatik und Anwendbarkeit des Glaubens die für die Nutzer*innen entscheidend ist?

Seelsorgeangebote finden über die Plattform nicht statt, aber nicht weil kein Bedarf wäre, sondern weil im Gegenteil die Anfragen dafür einfach zu zahlreich sind. Allerdings verweist Niesner immer wieder auf die Plattform Tellonym. Hier gibt es die Möglichkeit Fragen zu stellen, die, sobald diese beantwortet werden, für alle öffentlich einsehbar sind. Damit entsteht online ein Ort, an dem lebenspraktische Glaubensfragen eine Antwort finden können.

Zudem stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und ablehnenden Kommentaren im Netz: Die beiden Influencer beobachten, dass sie mit deutlich weniger Ablehnung im Netz zu kämpfen haben, als ihre weiblichen Influencerkolleginnen. Als Ursachen wurde zum einen die unterschiedlichen Themensetzung genannt. Zum anderen scheint es leider noch immer so zu sein, dass Frauen im Pfarramt polarisieren und teilweise abgelehnt werden.

Abschließend wurde deutlich, dass auch die kirchlichen Strukturen für die Herausforderungen im digitalen Raum weiterentwickelt werden müssen. Denn viele Fragen die die Arbeit der Pfarrer*innen online betroffen sind noch zu klären: Wieviel Zeit steht im Arbeitsalltag für Onlineangebote zur Verfügung? Soll es so etwas wie Onlinepfarrer*innen geben? Müssen die Betreiber*Innen von kirchlichen Kanälen ordiniert sein?

Jacob (@mein_kla4): Jesus treffen auf dem Barcamp

Zu meinen persönlichen Highlights auf dem Barcamp Kirche Online gehörte der Gottesdienst im jesustreff am Sonntagmorgen. Der jesustreff ist eine Gemeinde in Stuttgart, die zur Evangelischen Landeskirche gehört. Die Gottesdienste finden in einer Konzerthalle statt, mit entsprechender Licht- und Tontechnik. Das macht schon erst mal ordentlich Eindruck, wenn man reinkommt. Aber die Leute, die da sind, sind auch richtig nett. Weil wir zum ersten Mal da waren, haben wir sogar ein Päckchen Gummibärchen und ein paar Informationsbroschüren bekommen. Bekommt man anderswo ja auch nicht immer, und so weiß man gleich mal, was los ist. Was sonst noch anders ist im jesustreff: Der „Liturg“ heißt hier „Moderator“, die Lieder stammen eher aus den letzten 10 Jahren statt aus den letzten 1000 Jahren und die Leute, die kommen sind jünger als in Gottesdiensten, die in „normalen“ Kirchengebäuden stattfinden.

Aber der Reihe nach.

Der Gottesdienst war von seinem Aufbau her überraschend klassisch: Erst ein Part mit zum Ankommen mit Musik und Eingangsgebet, dann die Predigt und am Ende nochmal Musik, Fürbittengebet und Vaterunser und die Abkündigungen. Von daher hab ich mich ganz gut zurechtgefunden.

Die Lieder wurden von einer vierköpfigen Band mit solider Besetzung – Bass, E-Gitarre, Sänger mit Lead-Gitarre, Schlagzeug – begleitet, alle sahen sehr hipsterig aus. Und der Sänger war ein Bilderbuch-Singer-Songwriter, verstrubbelte Haare, verträumter Blick. Später erfuhr ich, dass sein Name Jonnes ist und dass man seine Songs auch bei Spotify anhören kann – kann man schon mal reinhören. Bei den Liedern wurden die gesungenen Strophen oft mehrmals wiederholt. War etwas ungewohnt, aber beim vierten Mal hab ich dann wenigstens mal drauf geachtet, was ich da so gesungen hab. Das war sehr erfrischend. Zwischen den Liedern hat der Sänger oft auch mal spontan gebetet. Bei so was kommt bei mir immer nicht so viel rum, aber ich hab eh meine Schwierigkeiten mit Gebet.

Der Moderator war ein freundlicher junger Mann, und auch er hat gebetet. Wir waren uns hinterher einig, dass er auch ruhig mal hätte vorher ausformulieren können, was er so beten will. Sonst fehlt irgendwie die Struktur und man weiß als Mitbetende*r gar nicht, wo das hinführen soll. Dass am Ende der Fürbitten das Vaterunser ganz klassisch gebetet wurde, hat mich aber dann doch versöhnt. Es war richtig schön, mit all diesen Menschen in der Konzerthalle zu stehen und diese Worte gemeinsam zu beten.

Und dann die Predigt: Zu Gast war Prälatin Gabriele Arnold. Eine Prälatin ist ein ziemlich hohes Tier in einer evangelischen Landeskirche, sie steht knapp unter dem Landesbischof. Vielleicht kommt Frank-Otfried ja auch mal zum jesustreff. Aber eigentlich kann man auch Frau Arnold gerne wieder einladen: Sie hat sehr erfrischend gepredigt, feministisch, klug – und am Ende hat sie den Text aus der Lutherbibel vorgelesen. Auch das hätte ich in einem Gottesdienst, der unter bunten Scheinwerfern stattfindet, gar nicht erwartet.

Der jesustreff in Verbindung mit dem Barcamp hat mir gezeigt, dass in der Kirche vieles möglich ist – wenn man den Menschen ihren Raum gibt, Neues auszuprobieren. Und das hat mich auf jeden Fall ermutigt. Der jesustreff sucht ab 2020 auch eine*n neue*n Pastor*in. In der Stellenbeschreibung steht, dass sie sich jemanden wünschen, der gnadenzentriert predigt: Das möchte ich mir als Vorsatz für mein eigenes Dasein als Pfarrer merken – egal ob in einer Gemeinde wie dem jesustreff oder woanders.

Niklas (@megadakka): Ändert die Digitalisierung unsere Vorstellung von Christentum. Reflexionen im Anschluss an das Barcamp Kirche.

Von Thomas Kuhn, dem Wissenschaftstheoretiker, gibt es den Begriff des Paradigmenwechsels. Im Bezug auf die Wissenschaftstheorie heißt das zunächst mal so viel wie, dass wissenschaftliche Konzepte auf Rahmenmodelle angewiesen sind. Nur innerhalb dieser funktionieren sie. Wenn sich das Rahmenmodell wechselt, dann spricht man eben von einem Paradigmenwechsel. Konzepte innerhalb des einen Rahmenmodells sind inkommensurabel, also in gewisser Weise unvereinbar, zum anderen.

Der Begriff des Paradigmenwechsels ist mittlerweile auch außerhalb der Wissenschaftstheorie zu finden und hat zum Beispiel seinen Ort im Nachdenken über Gesellschaft und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Spricht man da allerdings von einem Paradigmenwechsel, dann ist das deutlich niederschwelliger. Im Endeffekt bedeutet der Begriff im normalen Sprachgebrauch nicht viel mehr als: Da ändert sich was und ich muss nochmal stärker drüber nachdenken, was das soll.

Szenenwechsel: Mitte November fand in Stuttgart das Barcamp Kirche Süddeutschland statt. Dort trafen sich Menschen, die irgendwie den Kirchen verbunden (Pfarrer*innen, Vikar*innen, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Datenschützer*innen, aber auch Ehrenamtliche und Interessierte) und gleichzeitig am Phänomen der Digitalisierung interessiert sind. Kurz: Es war ein Treffen der sogenannten „Digitalen Kirche“.

Beim exzellent organsierten Treffen (leider habe in den Freitag verpasst und rede deshalb vor allem von den selbstorganisierten Workshops) ging es dann vornehmlich um Themen, die in der Digitalisierung ein Werkzeug, in den neuen Kommunikationsmitteln ein Medium sehen. Da waren sehr aufschlussreiche und interessante Dinge dabei, vom Einsatz von LaTeX im Pfarramt, über Konfi-Apps bis zur Frage nach der Bedeutung von Instagram im Pfarramt. Auch die Frage danach, inwieweit Digitale Kirche ein Ort sein kann, der an die analoge Kirche heranführt, wurde diskutiert. Kurzum: Es war deutlich und klar, dass die Digitalisierung Dinge ändert, neue Möglichkeiten bietet und diese diskutiert werden müssen.

Um es mit dem oben eingeführten nochmal zu beschreiben: Wenn von einem Paradigmenwechsel die Rede sein kann, dann wurde vor allem die alltagssprachliche Dimension debattiert: Irgendwas ändert sich und man muss drüber nachdenken, wie es in unser Verständnis des Christlichen zu integrieren ist. Doch hat der Begriff des Paradigmenwechsels eben auch eine zweite Ebene. Diese wurde in Stuttgart nur am Rande angeschnitten, wäre aber wahrscheinlich auf einem zukünftigen Barcamp nochmal intensiver zu beleuchten. Denn möglicherweise ändert die Digitalisierung nicht nur etwas an der Art und Weise der Kommunikation der Botschaft, sondern stellt grundsätzlichere Fragen. Fragen nach der passenden Übersetzung christlichen Glaubens ins 21. Jahrhundert oder auch Fragen danach, inwiefern die zentralen Inhalte überhaupt Geltung beanspruchen kann. Was bedeutet Gottes Vorsehung und Allwissenheit unter den Bedingungen präzise prognostizierender Algorithmen? Was heißt Rechtfertigung des Sünders im Hinblick auf die Selbstkonstruktion unterschiedlicher Persönlichkeiten in den sozialen Netzen? Wie kann es eine Gemeinschaft der Heiligen geben ohne analoge Zusammenkunft?

Diese Fragen sind nicht mehr auf der Ebene des zu suchen, auf der es um das Nachdenken über neue Formen der Vermittlung geht. Sie gehen tiefer: Es geht darum, dass Digitaliserung, wie vorher wahrscheinlich die Reformation und die Aufklärung eine „Umformungskrise“ des Christentums hervorrufen wird, der man sich stellen muss. Dies ist eine Aufgabe der akademischen Theologie, aber genauso auch eine der Personen, die sich in der Praxis mit den Fragen des Glaubens im Netz beschäftigen. Dafür ist hoffentlich im kommenden Barcamp Süd ein Ort, dann vielleicht auch in einem Slot von uns.

Nicht meine Freiheit

von Sabrina Hoppe

Denjenigen, die Angst vor der Freiheit haben, war die Sünde schon immer das liebste Thema. Vielleicht haben sie Angst vor der Grenzenlosigkeit der eigenen Gefühle und ihrer Konsequenzen. Vor der Unbestimmbarkeit der Zukunft und der Widersprüchlichkeit der Welt. Vor dem Blick aus fremden Augen.

Die Sünde war schon immer das liebste Thema all derer, die sich auf der anderen Seite der theologisch Liberalen wähnen. Sie bezeichnen sich selbst nicht konservativ, weil das ein politisch besetzter Begriff ist. Manchmal nennen sie sich fromm, weil sich dieser Begriff selbst bereits etabliert hat und fast schon rehabilitiert ist – oder sie nennen sich gerne lutherisch oder noch lieber „reformatorisch“. Dass sich jetzt eine Gruppe junger „reformatorischer“ TheologInnen gerade die „Große Freiheit“ zum Thema gemacht hat, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. „Frei und los“ heißt eine junge Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vergebung der Sünden, die durch Christi Tod in die Welt gekommen ist, als die befreiende Botschaft des Evangeliums neu zu verkünden. Höhepunkt der Arbeit des Vereins, der maßgeblich von der Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland[1] unterstützt wird, soll eine zentrale Konferenz im Mai 2020 in Hamburg sein. Ihr Titel: „Große Freiheit 2020“.

Um welche große Freiheit geht es also hier und warum brauchen wir sie angeblich „gerade heute“ so dringend? Auf ihrer Website schreiben die Veranstalter: „Denn es gibt genug, das uns wieder gefangen nimmt. Eine ganze Welt schleudert uns Maßstäbe entgegen, denen wir gerecht werden sollen: Schönheitsideale, Karrierepläne oder das perfekte Foto für Instagram. Doch Christus bringt uns Freiheit. Sie sieht oftmals anders aus, als wir es erwarten.“[2] Eine gewohnte, ja altmodische theologische Sprachformel: Wir sind gefangen in den Gesetzen der Welt, in den Erwartungen Anderer und ihrer Maßstäbe. Das, was uns Freiheit verspricht, knechtet uns eigentlich nur und macht uns damit unfrei. Wirkliche Freiheit finden wir nicht „im Außen“, sondern innerlich: Durch Christus, der uns von dem Druck befreit, immer genügen zu müssen. Soweit, so richtig, so vorhersehbar. Aber noch einmal nachgehakt: Das perfekte Foto für Instagram macht unfrei? Der sogenannte Gastgeber der Konferenz, Pastor Gunnar Engel, ist ein inzwischen durchaus prominenter You Tube Star, ja vielleicht sogar so etwas wie ein christlicher Influencer. Seine Fotos atmen den Geist skandinavischen Interior-Designs –  weiße Räume, ausgewähltes Mobiliar, auf einem Holztisch liegt eine Bibel (eine ganz besondere natürlich), als deren Lesezeichen ein Büschel Schafgarben dient. Sehr praktisch – Sie merken, lange kann ich meine Polemik nicht mehr für mich behalten. Engels Instagram-Posts bestechen durch ästhetische Perfektion. Die lutherischen „Soli“ schmücken in schwarz gerahmten Drucken den Flur seines Pastorats. Das Bild einer Aeropress, versehen u.a. mit den Hashtags #church #1517tribe #pastor #solideogloria #bibellesen #digitalekirche #jesuschrist #glauben #kirche #evangelium fehlt natürlich nicht. (Für alle Unwissenden: Es handelt sich um eine Kaffeemaschine.) All das wäre und ist nicht anstößig oder fragwürdig, aber es steht doch in einer gewissen Spannung zur erfolgten Herabwürdigung der modernen Welt mit ihrer äußeren Zwängen und ihrer Fixierung auf Äußerlichkeiten, wie sie als Bild für die Sünde, von der uns Christus befreit, auf der Website beschrieben wird. Und wie sieht es mit den anderen „Maßstäben“ aus, in die uns die heutige Welt hineinzwingt? Tatsächlich scheint es doch eher die Auflösung aller Wertmaßstäbe zu sein, die den Theologen Angst macht: Die Kirchliche Sammlung etwa unterstützt selbstverständlich nicht die Öffnung der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare und Gunnar Engel bekennt sich in seinen Videos offen gemeinsam mit seiner Frau dazu, dass es das Beste für sie war, erst verheiratet zusammen zu ziehen –  klare moralische Vorgaben also, die wenig Raum für eine individuelle Lebensführung lassen, wenn jemand sich nicht immer auf der Grenze zur Sünde bewegen will [3].

Doch die Redner der Konferenz sind nicht nur Pastoren, auch ein Dozent der Neueren Geschichte an der Universität Würzburg [in einer früheren Version war hier von Universität Münster die Rede;  Anm.d.Red.] beteiligt sich mit einem Vortrag. Der Theologe und Historiker Benjamin Hasselhorn kuratierte im Reformationsjahr 2017 die Ausstellung ‚ Luther?! 95 Schätze, 95 Menschen‘ und veröffentlichte daraufhin die sogenannte Streitschrift „Das Ende des Luthertums“, eine theologische Kritik an der Evangelischen Kirche in Deutschland und an ihrem Lutherjubiläum. Hasselhorn vermisst in der Evangelischen Kirche demnach besonders „religiöse Ernsthaftigkeit“. Er beklagt eine Verniedlichung des Gottesbildes, Gottesdienste, die nicht mehr von der Sünde und der Gnade reden, sondern stattdessen eine „Wohlfühltheologie“ verkündeten. Ein weiterer Kritikpunkt besteht für Hasselhorn in der „Politisierung“ der Kirche –  ein beliebtes Narrativ politisch konservativer Gläubiger, die damit zumeist einen „Linksruck“ der Kirche diagnostizieren. Über eine politisch nach rechts driftende Kirche wurde dieser Begriffsstab dagegen noch nie gebrochen.[4] Hasselhorn selbst äußert sich nicht zu seiner politischen Gesinnung, wird jedoch inzwischen von der AfD als Gewährsmann ihrer kirchenpolitischen Gesinnung eingespannt. In ihrem Positionspapier „Unheilige Allianz –  Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen“ verweist die rechtspopulistische Partei auf ein Fazit Hasselhorns, dass sich schon immer „weite Teile des deutschen Protestantismus jeweils dem herrschenden politischen Zeitgeist“[5] angeschlossen hätten. Dass der Zeitgeist, den die AfD kritisiert, in Deutschland insbesondere für eine offene Gesellschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden stehe, macht das Zitat Hasselhorn an dieser Stelle zum Brandstifter in einem sehr trockenen Geäst. Auch auf öffentliche Nachfragen, z.B. von der evangelischen Theologin und Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Wittenberg, Eva Harasta hin, hat sich Hasselhorn nicht von der Rhetorik der AfD distanziert bzw. seine Aussagen nicht ins Verhältnis gesetzt.[6] Für welche Freiheit spricht also Hasselhorn auf besagter frommer Konferenz? Sein Vortragstitel lautet „Die bessere Freiheit: Eine Einführung in Luthers Freiheitsschrift.“ Das könnte Thema eines jeden theologischen Proseminars sein und ist für mich dementsprechend also kein Anreiz zu weiterer Polemik. Es bleibt jedoch gerade deswegen die Frage: Warum muss ausgerechnet ein Theologe wie Hasselhorn zu diesem Thema referieren?

Frei und los –  dieser zugegebenermaßen verführerisch schöne Titel der Konferenz soll zu guter Letzt hier noch eingeordnet werden. Er stammt aus der lutherischen Beichtagende für die Einzelbeichte, die sich an den Großen Katechismus Luthers anlehnt und im Ganzen lautet: „Der auferstandene Jesus Christus sprach zu seinen Jüngern: Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben. In der Vollmacht, die Jesus Christus seiner Kirche gegeben hat, spreche ich dich frei, ledig und los: Dir sind deinen Sünden vergeben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Geh hin im Frieden des Herrn.“[7] Die Einzelbeichte ist heute im pastoralen Alltag selten geworden. Das spricht nicht gegen ihre große entlastende und reinigende Funktion, auch nicht gegen ihre theologische Legitimität. Aber es lässt wiederum fragen, warum gerade die Absolutionsformel das ist, was junge „reformatorische“ Theologen heute als Inbegriff evangelischer Freiheit formulieren. Um nochmal zu meiner Ausgangsfrage zurückzukehren: Von welcher großen Freiheit ist hier die Rede? Was vermissen die Menschen meiner Generation an Freiheit dementsprechend und wie konkretisiert es sich in meinem Leben, wenn ich diese „biblische Freiheit“ in Hamburg im Mai 2020 suche? Das Werbevideo verrät mir davon nichts. Dort sehe ich lediglich, wie die Absolutionsformel Buchstabe für Buchstabe mit schwarzer und roter Tinte geschrieben wird, untermalt mit dramatischer Musik und in der zuvor beschriebenen perfektionierten Hipster-Ästhetik. Die so wirkungsvoll in Szene gesetzten Worte haben ihren biblischen Ursprung übrigens im Jesaja-Buch. Dort heißt es: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!“  (Jes 58,6) Der Vers ist die Antwort auf die Frage danach, wie das „rechte Fasten“ nach Gottes Willen aussieht: Es ist das Ende der Unterdrückung. Die Befreiung der Gefangenen. Das Sattmachen derer, die Hunger haben. Es sind Worte von politischer, gesellschaftlicher und existenzieller Brisanz. Es sind Worte von einer großen Freiheit, die nicht in einer engstirnigen Moralität aufgeht. Worte, die keine Angst davor haben, den Wohlhabenden zu Leibe zu rücken. Für mich sind es Worte für eine Kirche, die keine Angst vor selber denkenden Menschen hat. Ich bin gespannt, wie die Referentin und die Referenten der Tagung im Mai diese Freiheit entfesseln. Und warte auf eine Antwort auf die Frage, warum wir gerade jetzt eine solche Freiheit brauchen. Bis dahin nehme ich mir einen pinken Filzstift und male Krönchen auf die schönen Instagram-Fotos in meinem Handy, lese in meiner blauen Schmetterlingsbibel, trinke Kaffee aus dem Vollautomaten und spende für das Schiff der EKD, das sich an den Zeitgeist anbiedert.

Dr. Sabrina Hoppe ist Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

[1] Auf ihrer Website beschreibt die Kirchliche Sammlung wie folgt, warum es sie geben muss: Die Grundlage unseres christlichen Glaubens sind die Bibel und die Lutherischen Bekenntnisschriften. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) ist jedoch in der Gefahr, sich davon zu entfernen und sogar elementare Glaubensinhalte dem Zeitgeist zu opfern und sich dem gegenwärtigen Meinungsstrom anzupassen. Das betrifft vor allem die zentrale Bedeutung von Jesus Christus und die verbindliche Autorität der Bibel als Wort Gottes, aber auch wichtige ethische Positionen. Säkularisierungsprozesse gefährden die Kirche von innen. Vgl. https://www.kirchliche-sammlung.de.

[2] https://www.freiundlos.de/grossefreiheit2020/

[4]                  Zur Frage „Ist die Kirche zu politisch?“ äußerte sich präzise und trotzdem umfassend der Kulturbeauftragte de EKD Claussen: https://zeitzeichen.net/node/7849

[5]                  https://afd-thl.de/wp-content/uploads/sites/20/2019/06/Kirchenpapier_Onlineversion.pdf, S.7, zitiert nach Benjamin Hasselhorn, Das Ende des Luthertums, Leipzig 2017, S.157.

[6] Vgl. dazu Eva Harasta auf Twitter: https://twitter.com/HarastaEva/status/1174322748530855936

[7]                  Zitiert nach Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, S.660.

[3]                    Anm.d.R.: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Gunnar Engel (und zwar hier) empfiehlt, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Er machte uns darauf aufmerksam, dass das so nicht gesagt wurde. Da er Recht hat, ist diese Stelle geändert worden.

Theologische Brandstiftung

Ein Kommentar zu Frischs Klimakrisenkritik

von Hermann Diebel-Fischer

Ralf Frisch kommentiert cum ira et studio für Zeitzeichen unter der Überschrift Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer die Klimakrise, die er als »Klimahysterie« bezeichnet.

Es ist ein Aufkleber mit der Aufschrift ›Fuck you Greta!‹ (sic!), der Frisch in seinen Bann zieht und ihn darüber sinnieren lässt, ob er als Theologe sich »theologisch angemessen« verhielte, klebte er diesen Aufkleber auf sein Fahrzeug. Dieses Nachdenken ordnet Frisch als Provokation ein, die er um des Wahrgenommen-werdens willen begeht, um gleich darauf nach weiteren Gründen zu suchen. Frisch sieht seinen Verzicht auf den »provokanten Protest« als Resultat einer theologischen Affektkontrolle, will aber dennoch ein Fünkchen Wahrheit in der nicht vollzogenen Protestaktion erkennen und meint, diese theologisch begründen zu können.

Frischs Kritik richtet sich nicht nur persönlich gegen Thunberg, die er als humorlose »Prophetin« des von ihm entdeckten »Klimagottes« beleidigt, sondern vornehmlich dagegen, dass seiner Ansicht nach der Klimawandel an die Stelle tritt, die durch die Säkularisierung freigeworden scheint – an etwas Großes zu glauben, mit allen Konsequenzen, die dies vermeintlich hat. Er sieht hier Konkurrenzverhältnis zwischen der Reaktion auf die von Thunberg – wissenschaftlich belegten und somit berechtigtermaßen – aufgezeigten Probleme und dem christlichen Glauben, der – so die Zahlen – sich gerade weniger eines konjunkturellen Aufschwungs erfreuen kann.

Ist es Trauer um das Verlorengehen einer volkskirchlichen Tradition, die hier zu einer theologisch verqueren Reaktion führt? Wenn die Sorge um den Klimawandel dem Protestantismus, zu dessen Kernidee die Unterscheidung von Gott und Welt gehört, tatsächlich als Konkurrenz erscheint – wie steht es dann um ihn? Wie Frisch vom »neuen Glauben« zu sprechen zeugt doch von einer durch Konkurrenzdenken generierten Vergessenheit darüber, was Glaube überhaupt bedeutet.

Die Gemengelage wird dort unübersichtlich, wo Frisch der evangelischen Kirche unterstellt, dass auch in ihren Reihen eine von ihm identifizierte, klimakrisenevozierte, demokratieverachtende Tendenz »schleichend an Plausibilität gewinnt«, denn »[…] es entsetzt [Frisch] geradezu, dass die Bereitschaft, einer Alles-oder-Nichts-Logik zu folgen und totalitär aufs Ganze zu gehen, gerade in der bundesdeutschen Gegenwart wieder fröhliche Urstände feiert.« Dass Forderungen einer gewissen Radikalität nicht entbehren dürfen, um überhaupt Gehör zu finden hat Frisch in seinem Text eingangs noch festgestellt – dann aber scheinbar unterwegs vergessen. Die unterstellte Protestantismuswidrigkeit einer nicht näher erklärten »Schuld-und-Sühne-Logik«, die im Zusammenhang mit Klimaschutzbestrebungen bestehe sowie der Vorwurf einer »schöpfungswidrig[en]« »Alles-oder-Nichts-Logik« sind tiefe Griffe in die theologische Werkzeugkiste – allerdings ohne Erfolg, denn mitnichten wollen sich die Menschen, deren Ziel es ist, die Klimakatastrophe irgendmöglich abzumildern, selbst zu Gott machen, noch haben sie zum Ziel, eine Religion zu etablieren.

Von Frisch als problematisch Wahrgenommenes wird von ihm zur Religion theologisiert und dann zur Häresie erklärt. Das ist eine perfide Abwehrstrategie, die man sich genauer ansehen muss. Sie dürfte politisch nicht neu sein und lässt protestantismustheoretisch alle Alarmglocken ob einer unbotmäßigen Inanspruchnahme theologischer Topoi schrillen. Frischs Parallelisierung alttestamentlicher Erzählungen über die menschliche Hybris wie Gott sein zu wollen mit der Klimaschutzbewegung ist exegetisch durchaus fragwürdig, wird aber richtig skurril, wenn er unter Verweis auf die Zwei-Regimente-Lehre eine theologisch legitimierte Kritik am Klimaschutzstreben zu konstruieren versucht.

Frischs Lamento, dass es keine dogmatischen Häresien, sondern nur noch ethische gebe, schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die Forderung nach einer Entpolitisierung des Protestantismus, die oft nur der Abwehr einer bestimmten politischen Position dient. Seine Kritik, dass der Streit um ethische Fragen den um dogmatische abgelöst hat, rückt die nicht alternde, fundamentaltheologische Debatte darum, wie Ethik und Dogmatik zueinander stehen in den Fokus. Frisch will einen »Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart« ausmachen, vergisst dabei aber, das sämtliche dieser Frage nie in einem dogmatischen Vakuum verhandelt werden, sondern immer mindestens implizite dogmatische Aushandlungen rückgebunden sind, die zweifellos auch jederzeit Gegenstand theologischer Aushandlungen werden können.

Aber schon der Vorwurf »ethischer Häresien« geht hier fehl, weil er das Bild eines Protestantismus zeichnet, in dem es nur die eine evangelische Handlungsoption gibt. Das ist schlicht falsch. Dass Frisch daraus dann die vermeintliche dogmatische Häresie eines menschgemachten Versuchs der Vorwegnahme eschatologischer Versprechen macht, wirkt nachgerade als Folgefehler. Frisch fordert sodann eine ›Ent-Eschatologisierung‹ zum Zwecke einer klareren Debatte: »Das eigentliche theologische Problem wäre dann also nicht die Frage, wie es um das Weltklima bestellt ist, sondern die Tatsache, dass ein neuer Glaube entstanden ist.« Hier schließt sich der Kreis. Die Forderung nach der Ent-Eschatologisierung kann überhaupt nur für denjenigen plausibel sein, der den Versuch einer Klimarettung als Akt menschlicher Anmaßung begreift. Die für Frisch offensichtlich unbequeme Klimaschutzbewegung, wird durch ihn zunächst religiös aufgeladen, damit er dann unter Zündung eines theologischen Tischfeuerwerks den Versuch einer Sprengung derselben vornehmen kann. Wer sich als Theologe in Zeiten einer zunehmenden Entchristlichung und einer Infragestellung des eigenen Lebensstils durch andere an zwei Fronten angegriffen wähnt, darf sich – gerne auch offensiv – verteidigen. Die Strategie dazu will aber gut überlegt sein. Wenn ich, wie im law of the instrument beschrieben, mein Problem erst zum Nagel machen muss, weil ich nur einen Hammer habe, dann sollte ich sie überdenken.

Beinahe vernachlässigbar erscheint in diesem Lichte, dass theologisch Fragwürdiges politisch angereichert wird: Frisch bedient sich eines Potpourris von Ressentiments, wenn er den Klimawandel als geologisches Phänomen mit einem sozialen Klimawandel in Verbindung bringt. »Ökodiktatur« und die Wünsche vermeintlich privilegierter Stadtbewohner_innen werden hier als Motoren einer Wähler_innenwanderung zu den Rechten dargestellt – weil diese sich politisch anders nicht nur nicht mehr repräsentiert, sondern auch diskreditiert fühlen würden.

Frischs Strategie der Einhegung, der Betonung des dünnen Eises und des schmalen Grates, auf dem er sich bewege und die fortwährende Rede von sich selbst in der dritten Person kann man als schamhafte Distanzierung vom eigenen Machwerk in doppelter Hinsicht interpretieren – als vorweggenommene Distanzierung von der Beleidigung Thunbergs und als Distanzierung vom Text, der eben diese einer Reflexion unterziehen soll.

Ralf Frisch wollte gerne den ›Fuck you Greta‹-Aufkleber an sein Auto kleben, hat es aber wegen seiner »theologische[n] Affektkontrolle« nicht getan. Sein – zu einem nach Ansicht der Herausgegebenden »streitbaren« Text geronnenen – theologischer Irrweg offenbart dabei weitaus mehr als es der Aufkleber, der ans Auto sollte, je gekonnt hätte.

 

Hermann Diebel-Fischer ist evangelischer Theologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Systematische Theologie der Universität Rostock (Projekt: „Netz-Stabil“).

 

(Quelle Titelbild: https://www.flickr.com/photos/schrift-architekt/10127383934, CC BY-SA 2.0)

 

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte (Teil II)

Im zweiten Teil des Beitrags unseres Gastautoren Jonathan Spanos zu den Angriffen der bayerischen AfD gegen die Kirchen geht es um antiklerikale Argumentationsmuster und deren Geschichte sowie eine Verortung in den jüngsten religionspolitischen Debatten der deutschen Parteien.

 Link zu Teil I

Antiklerikale und antichristliche Topoi

Drei Gruppen antikirchlicher Argumentationsmuster lassen sich im Umfeld der AfD und der neurechten Bewegungen identifizieren. Teilweise treten sie alleine auf, häufig aber auch in Mischformen.

Vorwurf der verdeckten Agenda

Hierunter fällt der Vorwurf von Ex-AfD-Landeschef Petr Bystron, die Kirchen würden „unter dem Deckmantel der Nächstenliebe“ ein Milliardengeschäft mit der Flüchtlingskrise machen wollen.[1] Seine Kritik enthielt zudem den Vorwurf, die Kirchen nützten Ehrenamtliche für ihre institutionelle Eigeninteressen aus. In diese Kategorie fällt auch die versuchte Stigmatisierung über den Begriff Lobbyismus. Die Klassifizierung als Lobbygruppe assoziiert Eigenschaften wie Profitgier, Heuchelei und Intransparenz. Zudem setzt dieser Vorwurf voraus, es gäbe eine Art Ideal von idealistischen NGOs, die keinerlei institutionelles Eigeninteresse verfolgen.

Vorwurf der Anpassung an den Zeitgeist

Dieser Topos ist im Kontext des rechten Antiklerikalismus besonders verbreitet. Zugleich ist er auch Bestandteil eines langwierigen inneren Aushandlungsprozesses innerhalb der Kirchen wie auch des konservativ-bürgerlichen Spektrums. Die Auseinandersetzung zwischen der CSU und den Kirchen über den Kreuzerlass und die Frage, wer die christliche Prägung Bayerns offensiver vertreten würde, hat das Thema ebenfalls berührt. Besonders dem deutschen Protestantismus wird seit den 1960er Jahren immer wieder vorgeworfen sich zu sehr an den Zeitgeist anzupassen und so seinen eigentlichen christlich-spirituellen Kern wahlweise zu vergessen oder zu verraten. Als Zeitgeistthemen gelten entweder Flüchtlinge (1980er Jahre bis heute), Umwelt (1970er Jahre bis heute), Gender (heute) oder der Verlust der Bezugnahme auf das „deutsche Volk“ (1960er bis 1980er Jahre). Schon nach der sogenannten Ostdenkschrift von 1965 war ein regelrechter brieflicher Shitstorm über die EKD losgebrochen, in dem sich Vertriebenenvertreter entsetzt darüber äußerten, wie die Kirche die Interessen des deutschen Volks verraten könne. Grob vereinfacht: Die verstärkte Internationalisierung der christlichen Kirchen und ihre Zuwendung zu neuen sozialethischen Themen sorgte in konservativen bis rechtsextremen Kreisen wiederholt für heftige Kritik und Widerstand. Schon in den 1980er Jahren, der Phase als in der Bundesrepublik angesichts steigender Asylbewerberzahlen zum ersten Mal umfangreich über die Flüchtlingspolitik diskutiert wurde, lassen sich Elemente des rechten Antiklerikalismus identifizieren. In Zuschriften an die EKD, die Landeskirchen und das Bundesinnenministerium beklagten die Zuschriften, die Kirchen würden der Regierung das Leben schwer machen und Verschärfungen der Ausländer- und Asylpolitik behindern. Geistliche, die sich für Asylbewerber einsetzen, wurden als „Moralisten“ und „Bußprediger“ diffamiert.[2]

Dieser Topos ist bis heute erhalten geblieben, wenngleich er sich bedingt durch die neue Relevanz des Themas Islam bisweilen in gewandelter Form zeigt. Besonders der Dialog der Religionen und die Zusammenarbeit mit islamischen Verbänden wird von rechter Seite oft als eine Anpassung an einen falschen Zeitgeist bezeichnet. Vor diesem Hintergrund inszenieren sich konservative Journalisten oder Politiker als Bewahrer „echter christlicher Werte“, die sich anders als die zu stark dem Zeitgeist verfallene Amtskirche noch gegen äußere Einflüsse zu Wehr setzen könnten. Gerne geht der „Zeitgeist“-Topos mit der Forderung einher, dass die Kirchen mehr über Glaubensfragen sprechen sollten. Einer der prominentesten Vertreter der Forderung nach einer stärkeren Fokussierung der Kirchen auf spirituelle Angelegenheiten ist der bayerische Ministerpräsident und Protestant Markus Söder.[3] Dabei ist zu beachten: Die getroffene Diagnose als solche muss nicht von vorneherein indiskutabel sein. Auch in der Forschung gibt es die These, dass sich Religionsgemeinschaften in säkularisierten Umfeldern an gesellschaftlich akzeptierte Überzeugungen anpassen, um ihre Stellung zu sichern. Zudem wäre es absurd anzunehmen, dass die Kirchen eine von gesellschaftlichen Einflüssen abgeschottete Position hätten und nicht von außerhalb beeinflusst würden. Entscheidend ist aber, ob eine solche Aussage zu dem Zweck getroffen wird, den Vorgang zu verstehen oder zu analysieren oder ihn zu delegitimieren und verächtlich zu machen.

Vorwurf der falschen Ideologie

Dieser Topos ist im rechten Antiklerikalismus aktuell seltener anzutreffen. Bisweilen findet er sich aber in den Kommentaren rechter Trolle im Internet. Er baut auf den Vorwurf auf, christliche Moral und Ethik wären schlecht und würden falsche Einstellungen, zum Beispiel Mitleid gegenüber Flüchtlingen fördern. Björn Höckes Äußerungen in der Forchheimer Rede, in den Kirchen würden „unsere Kinder zu Schafen gemacht“ lassen sich in diese Kategorie einordnen. Auch Diskreditierungen der Kirchen als „Bußprediger“ und „Moralisten“ fallen in diese Kategorie. Zur Verfügung stehen dabei verschiedene Argumente aus den breiten Traditionsbeständen der Religions- und Moralkritik. Anders als im neuen rechten Antiklerikalismus, der ja häufig für sich in Anspruch nimmt „christliche Werte“ vor den Amtskirchen in Schutz zu nehmen, werden religionspolitische Standpunkte im liberalen und linken Spektrum häufiger mit dem Verweis auf solche Argumente begründet. Dahinter steht zum einen die lange Tradition der sozialistischen Religionskritik. Zudem hat der sogenannte New Atheism seit den 2000er Jahren neue religionskritische Figuren in den Diskurs gespült. Ein Beispiel wäre die Bezeichnung „Hirtenmythologie“, die das Christentum diffamieren soll. Dieser Begriff hat mittlerweile den Weg aus dem Umfeld der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung in Anträge auf SPD-Parteitagen geschafft.[4]

Jüngste Entwicklungen in den religionspolitischen Debatten

Welche Folgen die verstärkten Angriffe aus dem rechten Umfeld für die politischen Debatten haben wird, lässt sich aktuell noch nicht absehen. Für die evangelische und katholische Kirche stellt sich spätestens seit dem Einzug der AfD im Bundestag die Frage nach dem Umgang mit den Vertretern und Anhängern der Partei im Alltag. Auf den ersten Blick kann die eindeutige Positionierung der kirchlichen Spitzengremien in der Flüchtlingspolitik im Kontrast zu den Polemiken aus dem AfD-Umfeld nur zu einer heftigen Konfrontation führen.

Werden die verschärften Angriffe von rechts möglicherweise den paradoxen Effekt erzielen, dass sich die Parteien des bürgerlichen und linken Spektrums stärker mit den Kirchen solidarisieren? Angesichts der Stärke der AfD-Fraktionen in einigen Landesparlamenten, besonders in Ostdeutschland, wäre es für deren Abgeordnete ein leichtes Unterfangen, die kirchenpolitischen Themen mit Anträgen und kleinen oder großen Anfragen auf die Tagesordnung zu setzen. Der kommende Landtagswahlkampf in Bayern wird vielleicht entsprechende Reaktionen zeigen. An dieser Stelle lohnt sich noch einmal der Blick auf die Debatten innerhalb anderer Parteien.

Auch die Linkspartei hatte vor der Aufstellung ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahl 2017 eine medienwerksame Auseinandersetzung um die politische Bewertung Staatskirchenverträge.[5] Anders als von der Parteiführung im Entwurf vorgesehen, wurde auf dem Parteitag nach einer Kampfabstimmung ein Passus angenommen, der die Kündigung aller Staatsverträge mit Religionsgemeinschaften forderte. Die Abstimmung geschah zur späteren Stunde, als bereits einige Delegierte auf dem Weg zum Hotel oder zur Bar waren. In der Nacht rauschte der Beschluss des Parteitags durch die Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen. Anschließend fiel immer mehr Vertretern der Linkspartei über Nacht auf, dass das Thema a) auch Verträge mit den jüdischen Gemeinden betrifft b) größtenteils Ländersache ist und man c) Staatsverträge meist nicht einseitig kündigen kann.[6] Führende Politiker der Linken befürchteten daraufhin Schwierigkeiten für den anstehenden Wahlkampf. Teilweise taten sie sich auch schwer damit, die offenkundig falschen Vorstellungen der Antragsteller so stehen zu lassen. Am Vormittag darauf wurde der Beschluss des Bundesparteitags nach einer erneuten, im Ton teils ausfallenden Debatte revidiert und die Forderung wieder aus dem Bundestagswahlprogramm gestrichen – ein auf Parteitagen seltener Vorgang. Die über Nacht entstandene Aufmerksamkeit für den Vorgang verpuffte so schnell wie sie gekommen war. Einzig atheistische Blogger witterten daraufhin einen „religiösen Kniefall der Linken“[7].

An dieser Stelle geht es nicht darum, die Debatte der Linkspartei pauschal mit der antiklerikalen Polemik der AfD gleichzusetzen. Dennoch ist die Posse um das Bundestagswahlprogramm ein eindrückliches Beispiel dafür, was passiert, wenn dieses juristisch und gesellschaftlich komplexe Thema mit weitestgehender historisch-politischer Ahnungslosigkeit und getrieben von Vorurteilen diskutiert wird. Den meisten der Delegierten war der Unterschied zwischen Staatsleistungen und Staatsverträgen nicht bewusst. Ins Bundestagswahlprogramm schaffte es der Passus trotzdem. Die Pointe des Vorgangs: Das flüchtlingspolitische Engagement der Kirchen sowie die besondere Schutzwürdigkeit der jüdischen Kultusgemeinden mussten in der Debatte auf dem Linken-Parteitag dafür herhalten, um die Staatskirchenverträge quasi vor dem Wahlprogramm zu retten. Interessant im Kontrast zu den Forderungen der bayerischen AfD ist daher das Landtagswahlprogramm des bayerischen Landesverbands der Linkspartei. Dieser enthält neben vielen kleineren Forderungen zur Kirchenpolitik sehr differenzierte Aussagen im Abschnitt „Religionsfreiheit“. Zwar wird dort auch der Abbau bestimmter Privilegien gefordert, ansonsten ist der Abschnitt für Linkspartei-Verhältnisse erstaunlich wohlwollend gegenüber den Religionsgemeinschaften. Unter anderem heißt es dort, historisch gewachsene Verhältnisse könnten nicht von heute auf morgen beseitigt werden, daneben wird ein Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden gefordert und das Engagement religiöser Menschen in der Zivilgesellschaft gelobt.[8]

Das gleiche Thema – und zweimal spielte die flüchtlingspolitische Position der Kirchen jeweils die konträre Rolle, um den Erhalt oder die Abschaffung der Staatsverträge (neben anderen Argumenten) zu begründen. Beide Fallbeispiele zeigen, dass es problematisch sein kann, die religionspolitische Position davon abhängig zu machen, ob Kirchen und Religionsgemeinschaften aus der Perspektive der eigenen Partei wünschenswerte Dinge vertreten. Der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers hat auf diese Inkonsequenz in einem lesenswerten Essay hingewiesen. Er bezeichnet die Begeisterung bürgerlicher Kreise über die flüchtlingspolitischen Positionen der Kirchen als „nicht hilfreich“. Wer, ohne die theologischen Gründe des Christentums zu teilen, die öffentliche Einmischung der Kirchen in diesem Falle begrüße, könne sie dann wohl kaum bei anderen, möglicherweise kontroverseren Themen als illegitime Einmischung der Religion in die Politik zurückweisen.[9] In der Tat ist es nur mit größter Mühe vorstellbar, dass Vertreter von Linkspartei oder Grünen die Position konservativer Katholiken in Fragen von Abtreibung und Eherecht lauthals begrüßen würden. Insofern ist die kirchliche Aktivität im Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch eine Anfrage an die Gesellschaft und die politischen Parteien. Deren Vorstellungen von der Rolle der Religionen in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft müssen sich an diesem Fallbeispiel auf ihre Konsistenz prüfen lassen.

Auch die Kirchen sollten es nicht zu einfach machen. Nur weil das Thema Antiklerikalismus mittlerweile nicht nur von Seiten säkularer Liberaler und Linker, sondern vermehrt aus der rechten Ecke gespielt wird, befreit das nicht vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen und Problemen. Die jüngsten Verwicklungen um das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD verdeutlichen dabei zwei für die religionspolitische Diskussion entscheidende Aspekte: Einerseits führen sie deutlich vor, dass dieses Thema ohne Kenntnis juristischer, gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge nicht sinnvoll diskutiert werden kann. Sonst enden religions- und kirchenpolitische Debatten allzu häufig im Austausch von persönlichen Ressentiments und Halbwissen. Und zum anderen führt der aggressive Tonfall der AfD gegen die Kirchen auch vor Augen, dass eine laizistische Position nicht zwingend progressiv-liberal sein muss, wie es die Rhetorik von Religions- und Kirchenkritikern gerne suggeriert. Dieser Standpunkt ist ebenso wenig wie das Kreuz auf der Pegida-Demonstration gegen die Inanspruchnahme und Instrumentalisierung durch den Rechtspopulismus gefeit.

 

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[2] Anonymes Schreiben an das Bundesministerium des Innern, o.D. [vermutlich 1983] (BArch B106/77602).

[3] https://www.zeit.de/2016/47/markus-soeder-kirche-glauben-engagement/komplettansicht

[4] https://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/landespolitik/-2000-jahre-alte-hirten-mythologie–jusos-laestern-ueber-jesus-29451982

[5] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/linkspartei-opposition-regierung-bundestagswahl; Die dazugehörige Erklärung der religionspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion: http://christinebuchholz.de/2017/07/17/ist-die-linke-jetzt-gegen-die-trennung-von-staat-und-kirche/

[6] Phoenix-Interview dazu mit Parteichef Bernd Riexinger auf dem Parteitag am 10.06.2017: https://www.youtube.com/watch?v=1gqOypHuf48&list=PLoeytWjTuSuoX19slBfsaftRwU4vWQ41r&index=18

[7] https://www.atheisten-info.at/infos/info3706.html

[8] Landtagswahlprogramm Die Linke Bayern 2018, S. 59-61: https://www.die-linke-bayern.de/fileadmin/Bayern/Wahlen/Landtag2018/Programm/Landtagswahlprogramm.pdf

[9] Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen). In: Merkur 71 (2017), H. 7, S. 5-16, hier: S. 11.

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte

Unser Gastautor Jonathan Spanos beschäftigt sich in einem zweiteiligen Beitrag mit den Angriffen der AfD auf die Kirchen im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl. Im ersten Teil werden die aktuellen Positionen der Partei politisch und historisch eingeordnet. Im Mittelpunkt stehen das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD sowie eine Wahlkampfrede des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke Anfang August 2018, bei der Höcke unter anderem den evangelischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm verbal attackierte.

Im zweiten Teil, der kommende Woche erscheint, geht es um die Konsequenzen für die aktuelle religionspolitische Debatte in Deutschland.

Jonathan Spanos ist Historiker mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“ an der LMU München.

Religionspolitik ist wieder aktuell.[1] Drei Monate vor der Wahl des Bayerischen Landtags hat der bayerische AfD-Landesverband mit nur wenigen Seiten Wahlprogramm für Aufsehen gesorgt. Die deutschsprachige Huffington Post versieht ihren Artikel zum Landtagswahlprogramm mit der martialischen Überschrift, die AfD erkläre „den Kirchen in Bayern den Krieg“[2]. Die Süddeutsche Zeitung titelt weniger reißerisch von einem Bruch der AfD mit den christlichen Kirchen.[3]

Durch den in der Presse überraschend ausführlich kommentierten kirchen- und religionspolitischen Abschnitt des Landtagswahlprogramms stehen Themen der Religionspolitik wieder im Scheinwerferlicht. Interessant ist, dass das Thema von rechter Seite wieder auf die Agenda gesetzt wird. In den letzten Jahren waren Diskussionen um Religionspolitik vor allem in Parteien des linken und liberalen Spektrums geführt worden. Auch die bayerische FDP macht in ihrem Landtagswahlprogramm zwar nicht das große inhaltliche Fass im Bereich Staatskirchenrecht auf, erhebt aber ebenfalls Forderungen im Feld der Religionspolitik, ohne dass es bisher größere mediale Reaktionen gegeben hätte. Die bayerischen Freidemokraten fordern mit Bezug auf ihre Parteitagsbeschlüsse zur Trennung von Staat und Kirche unter anderem die „Einführung eines gemeinsamen Religionskunde- und Ethikunterrichts“[4] ohne genauer auszuführen, ob damit eine Abschaffung des bisher im Freistaat üblichen konfessionellen Religionsunterrichts mitgemeint ist. Auch angesichts der Tatsache, dass die bayerische AfD im Wahlkampf bisher kaum mit landespolitischen Themen in den Vordergrund drängen konnte und von den Forderungen der FDP keine Zeitung Notiz nahm, ist der Aufruhr erklärungsbedürftig. Die Aufmerksamkeit für das Thema ist zwar auch der traditionell starken Stellung der Kirchen im Freistaat Bayern zu verdanken. Die Auseinandersetzung der AfD mit den beiden christlichen Kirchen hat aber eine längere Vorgeschichte, die sich jetzt im Wahlprogramm des bayerischen Landesverbandes manifestiert. Im Folgenden werden die tagespolitischen und historischen Hintergründe dieser Entwicklung beleuchtet. Einerseits soll es darum gehen, die Elemente der bisweilen bis zur Hetze reichenden Attacken aus der AfD und dem (neu-)rechten Spektrum gegen die christlichen Kirchen politisch und historisch einzuordnen, aber auch Schlussfolgerungen für die religionspolitische Diskussion in Bayern und Deutschland zu ziehen.

Die kirchenpolitischen Forderungen der bayerischen AfD

Der diskutierte Abschnitt des Wahlprogramms steht im ersten Kapitel des Wahlprogramms zum Thema „Demokratie und Staatsverständnis“. Die Forderungen nach einer „Trennung von Staat und Religion“ stehen neben Forderungen nach einer Abschaffung des Rundfunkbeitrags, der Möglichkeit zur Abwahl von AmtsträgerInnen, Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild und einer Halbierung der Landtagssitze.

Auf drei kleinformatigen Seiten ist unter anderem die Forderung nach einer Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen enthalten, die im bayerischen Fall weiterhin vergleichsweise umfangreich sind.[5] Wenngleich in der Textfassung des unzureichend lektorierten Wahlprogramms ein Tippfehler enthalten ist und fälschlicherweise auf Artikel 38 anstelle des Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung Bezug genommen wird, ist der Verweis auf die im Grundgesetz übernommene Vorschrift zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften korrekt.[6] Solche Forderungen sind spätestens seit dem Kirchenpapier der FDP von 1974 kein echter Grund zur Aufregung mehr. Immer wieder forderten Landesverbände der Linkspartei und der FDP in Parteitagsbeschlüssen vergleichbares, auch SPD und Grüne diskutieren in regelmäßigen Abständen darüber. Daneben beansprucht die bayerische AfD die Vertretung der Interessen Konfessionsloser. Die Konfessionslosen bzw. Konfessionsfreien werden dabei implizit als eine homogene Gruppe mit einem einheitlichen Interesse an der Abwehr kirchlichen Einflusses angesehen. Auch diese Position ist keineswegs neu. Die mit der religionskritisch bis religionsfeindlichen Giordano-Bruno-Stiftung personell verflochtene Kleinstpartei „Die Humanisten“ hat sich dieses Thema ebenfalls besonders auf die Agenda geschrieben und wirbt gezielt um kirchenkritische WählerInnen.[7]

Der Programmteil belässt es aber nicht dabei. Explizit auf die beiden christlichen Kirchen abzielende Forderungen (von anderen Religionsgemeinschaften, mit denen der Freistaat Bayern Staatsverträge geschlossen hat, ist nicht explizit die Rede)[8] werden direkt neben der Frage der Moscheefinanzierung durch Gelder aus Saudi-Arabien und der türkischen Religionsbehörde Dianet abgehandelt. Themen der Religionspolitik werden verstärkt auch als Themen des Islam verhandelt. Bereits bei der letzten großen Diskussion um das Kirchenasyl war diese Verschiebung zu beobachten, als Schlagzeilen wie „Kirchenasyl ist (keine) Scharia“ die Kommentare bestimmten.[9] Die bayerische AfD begründet ihre Forderungen im Wahlprogramm so:

„Eine Fortsetzung der finanziellen staatlichen Unterstützung an die Amtskirchen ist weder zeitgemäß noch sachgerecht, zumal es sich bei den Kirchen um eine besondere Lobbygruppe handelt, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass sie auf finanzielle staatliche Hilfe zurückgreifen kann. Diese staatliche Unterstützung ist dem deutschen und insbesondere bayerischen Steuerzahler nicht länger zumutbar.“[10]

Das Landtagswahlprogramm zielt darauf ab, die Kirchen mit dem Begriff Lobbygruppe zu stigmatisieren. Dem Text zufolge zeichnen sich die Kirchen besonders dadurch aus, dass sie dank ihrer privilegierten Stellung besonders umtriebiges Lobbying betreiben könnten. Nun könnte man versuchen, sachlich darüber zu sprechen, welchen politischen Einfluss die christlichen Kirchen in Deutschland auf die Politik ausüben. Dass der Lobbying-Begriff an dieser Stelle nicht analytisch-neutral, sondern diffamierend verwendet wird, erklärt sich von selbst. Wenngleich nicht im Text des Wahlprogramms erwähnt, ergibt sich aus dem Kontext, dass die AfD hier wohl vor allem Interessensvertretung im Bereich der Sozial- und der Migrationspolitik im Blick hat. Direkt im Anschluss geht es um die Gewährung von Kirchenasyl: Die Praxis der Gewährung von Kirchenasyl soll nach Willen der bayerischen Alternative für Deutschland beendet und nicht mehr vom Staat toleriert werden, zudem sollten Verantwortliche bei der Durchführung von Kirchenasyl strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Eine einzige Ausnahme im „Bruch mit den Kirchen“ kennt das Programm dann doch: Staatliche Zuwendungen für die Kirchen soll es nach dem Willen der AfD nur noch bei der Baudenkmalpflege sakraler Gebäude geben – eine Beschränkung, die gut zu einem Verständnis des Christentums als kulturellem Landschaftsmarker passt. Die Kostenübernahme für seelsorgerliche Leistungen soll ebenfalls verschwinden, zu diesem Zweck fordert die AfD sofortige Kündigung der Staatskirchenverträge zwischen der Bayerischen Staatsregierung und den beiden Kirchen.

Gänzlich unumstritten ist der angriffslustige Ton in der Partei nicht. In der SZ kommt unter anderem eine hochrangige niederbayrische Kandidatin zu Wort, die den Abschnitt im Wahlprogramm kritisiert. Ein vom Artikel nicht näher benannter Parteifunktionär sieht in der Positionierung der AfD die Antwort auf das Verhalten vieler Pfarrer vor Ort, die sich gegen die Partei wenden würden.[11] Interessant waren die Reaktionen der Partei auf die Pressemeldungen zu den kirchenpolitischen Forderungen: Erkennbar deutlich versuchte die bayerische AfD im Nachhinein, die Berichterstattung über das Wahlprogramm wieder in ein rechtes Licht zu rücken – man sei nur gegen die Staatsnähe der Kirchen und wolle ein starkes Christentum.[12] Ein Indiz dafür, dass die Parteispitze möglicherweise Verluste bei einem Teil ihres Wählerspektrums befürchtet oder zumindest Angriffsfläche für den politischen Gegner sieht. Als Kronzeugen für diese Haltung bietet die Pressemitteilung der bayerischen AfD gleich zwei Päpste, nämlich Benedikt und Franziskus auf.[13] Gerade die Inanspruchnahme des Letzteren kann angesichts der deutlichen flüchtlingspolitischen Positionierung der katholischen Kirche unter Franziskus eher als absurd gelten.

Björn Höckes Rede in Forchheim am 8. August 2018

Die lavierenden Positionen des AfD-Landesvorstandes wurden spätestens durch den Auftritt des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke bei einem Wahlkampfauftritt im oberfränkischen Forchheim als irrelevant entlarvt. Der Vertreter des völkisch-nationalen Flügels der AfD nutze seinen Auftritt bei einer Veranstaltung der oberfränkischen AfD zum Auftakt des Landtagswahlkampfes neben Angriffen gegen Flüchtlingshelfer, die etablierten Parteien und die Gegendemonstranten auch für verbale Attacken gegen die Kirchen sowie den bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Zuvor hatte Höcke in seiner Ansprache das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD ausführlich gelobt. Die entsprechende Passage, transkribiert aus dem YouTube-Mitschnitt der Rede, lautet:[14]

(ab Minute 24/12) „An diese Manipulationen wurde ich wieder erinnert durch die unsäglichen Äußerungen eines Herrn Heinrich Bedford-Strohm [Buhrufe der Zuhörer], seines Zeichens [Pfui-Rufe] EKD-Ratsvorsitzender, das war der, dieser Bedford-Strohm, der mit seinem katholischen Amtskollegen Kardinal Marx 2016 Jerusalem besuchte, eine Stätte die die Christen verehren, und das war der, der auf dem Tempelberg und an der Klagemauer, sein Kreuz niederlegte. Liebe Freunde, für mich ist das nichts anderes als das Zeichen der Unterwerfung. [Applaus]

(ab Minute 25/00) Das ist das eine. Aber was er neulich rausgelassen hat, das kann ich nur unter Böswilligkeit subsumieren, oder wenn ich ihm wohlgesonnen bin, unter Hitzeschaden. [Es folgen Anspielungen auf den Trauergottesdienst für Sophia L., eine beim Trampen ermordete Studentin, die bei den Jusos und in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Landesbischof Bedford-Strohm hat die Trauerpredigt gehalten. Die Trauerpredigt hat aufgrund einer Formulierung in rechten Kreisen im Internet für einen Shitstorm gesorgt[15]].

(ab Minute 26/12) „Der Tenor dieses Geistlichen lautet also: Es ist besser seine eigene Ermordung in Kauf zu nehmen, anstatt seine sozialromantische Naivität zu hinterfragen. Liebe Freunde, das ist nichts anderes, als der Missbrauch, das ist nichts anderes als die Pervertierung des christlichen Glaubens. [Zuhörer gröhlen: Widerstand, Widerstand] Liebe Freunde, ich schätze die Werte des Christentums, aber ich verurteile und habe es schön öfter gemacht und ich tue es auch hier und heute wieder: ich verurteile Kirchenfunktionäre, die statt die frohe Botschaft von der Kanzel zu verkünden, Hobbypolitiker spielen. Und ich fordere jeden Christen in diesem Lande auf, ich fordere euch auf, die ihr noch Mitglied der evangelischen und der katholischen Kirche seid, macht euren Funktionären Druck, und erklärt ihnen, dass sie einen geistlichen Dienst zu verrichten haben, dass sie es zu unterlassen haben dämliche Bemerkungen in der Öffentlichkeit kundzutun. Das schadet dem Ansehen der christlichen Kirche, egal ob es die evangelische oder die katholische in Deutschland ist. [Zurufe: Austreten!]“

(ab Minute 28/08) Ja es ist so. Unsere Kinder werden in den Schulen, in den Kirchen und in sonstigen linken Projekten zu Schafen gemacht, während man die Wölfe über die Grenzen lässt. [Applaus] Und diese letzte Bemerkung sei mir noch zu Heinrich Bedford-Strohm erlaubt. Das sind klare Worte, die ich jetzt artikuliere und wahrscheinlich werde ich dafür wieder angegriffen, aber wer austeilt, der muss auch einstecken können, Herr Bedford-Strohm, Herr Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für mich, lieber Herr Bedford-Strohm, lieber Herr sehr geehrter Herr Bedford-Strohm [sic!] sind sie wirklich in der Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung angekommen. [Applaus] Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung! [Applaus]“

Höke inszeniert sich bei diesem Auftritt als eigentlicher Verteidiger christlicher Werte gegen eine „linksversiffte“ Kirche. Mit dem angeblichen Skandal um die Abnahme der Kreuze auf dem Tempelberg und dem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat aus der Trauerpredigt für Sophia L. ist der bayerische Landesbischof für das rechte Spektrum zu einer Hassfigur stilisiert worden, die die angebliche Selbstverleugnung und den Linksrutsch der Kirchen personifiziert. Entsprechend konzentriert Höcke seine Angriffe auf ihn. Möglicherweise implizierte Folgen wie Kirchenaustritte und politisches Vorgehen gegen die Kirchen spricht er nicht direkt an, sie werden nur durch die Reaktionen seiner Zuhörerschaft vorweggenommen. Da dieser Auftritt erst den Wahlkampfauftakt darstellte, ist davon auszugehen, dass das Feindbild Kirchen im Rahmen bis zur Wahl des Bayerischen Landtags mehrfach wieder von Seiten der bayerischen AfD aktiviert wird.

Zur Vorgeschichte des Antiklerikalismus im AfD-Umfeld

Die antiklerikale Position der AfD ist hingegen kein neues Phänomen. Seit der Gründung der Partei vor fünf Jahren kam es wiederholt zu ähnlichen Äußerungen. Häufig spielte dabei auch die Positionierung der Kirchen in asylpolitischen Debatten eine Rolle. Besonders im Umfeld von Kirchen- und Katholikentagen, aber auch während Wahlkämpfen kochte das Thema Kirchenpolitik in der Partei hoch.

Bei der bayerischen AfD hat die antiklerikale Polemik eine besonders ausgeprägte Vorgeschichte. Der ehemalige Landesvorsitzende und jetzige Bundestagsabgeordnete Petr Bystron, einst für seine Sympathien für die rechtsextreme Identitäre Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet,[16] schaffte es bereits während den Auseinandersetzungen um die mögliche Einladung von AfD-Vertreten auf den Katholikentag in Leipzig im Jahr 2016 mit einer Attacke auf die Kirchen in die Medien. Bystron hatte den Kirchen vorgeworfen, mit ihrem flüchtlingspolitischen Einsatz in erster Linie öffentliche Gelder für Caritas und Diakonie abzukassieren.[17] Der aktuelle Landesvorsitzende Martin Sichert, ebenfalls Mitglied der AfD-Bundestagsfraktion, nutzte seinen Auftritt im BR-Politikmagazin Kontrovers zu Jahresbeginn für entsprechende Statements. Gefragt nach den Aufrufen zum Kirchenaustritt durch seine Partei antwortete Sichert, die Kirchen würden keine echten „christlichen Werte“ mehr vertreten.[18] Vergleichbare Auseinandersetzungen gab es bereits zwischen den Kirchen und der zahlenmäßig starken AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt.[19]

Auch auf der Bundesebene zeichnete sich diese Tendenz bereits länger ab. Im Vorfeld der Bundestagswahl im September 2017 hatten sich antiklerikale Tendenzen mehrfach abgezeichnet. Das niedersächsische Bundesvorstandsmitglied Armin Hampel hatte unter großem Beifall der AfD-Delegierten auf dem Bundesparteitag zum Kirchenaustritt aufgerufen. Zuvor hatten sich andere AfD-Spitzenpolitiker über kirchliche Beteiligung an Anti-AfD-Kundgebungen empört.[20] Während dem Evangelischen Kirchentag in Berlin veröffentlichten Accounts von AfD-Gliederungen antiklerikale Inhalte in den sozialen Medien. Die Beiträge griffen sich dabei besonders Äußerungen zu den Themen Dialog der Religionen, Christenverfolgung, Homosexualität und Gender-Mainstreaming heraus. Der Twitter-Account der AfD-Jugendorganisation postete ein Banner mit Zitaten von KirchentagsrednerInnen, versehen mit dem Spruch „Dumm, dümmer, EKD“. Als die sonst von AfD-Mitgliedern verabscheute heute-show einen kritischen Beitrag über die Finanzierungsstruktur des Kirchentags veröffentlichte, teilte die Düsseldorfer AfD ausnahmsweise den entsprechenden Inhalt der ZDF-Satiresendung und verlinkte zustimmend auf das Video.[21] Den vermeintlichen Höhepunkt setzte die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, als sie kurz vor Weihnachten 2017 in einem in den sozialen Medien verbreiteten Statement die aktuelle gesellschaftliche Rolle der Kirchen mit dem Staat-Kirche-Verhältnis im Nationalsozialismus gleichsetzte. Weidel beklagte in ihrem Posting eine Politisierung der beiden christlichen Großkirchen und die fehlende Trennung von Staat und Kirche in Deutschland. Wie während der Zeit des Dritten Reichs, so Weidel, hätten sich die Kirchen heute wieder mit den Herrschenden arrangiert.[22]

Erweitert man die Perspektive auf das rechte Spektrum wie die islamfeindliche Pegida-Bewegung in Dresden, fällt deutlich auf, dass dieser Vorwurf in rechten Kontexten auch jenseits der Partei AfD verbreitet ist. Tatjana Festerling, lange Zeit neben Lutz Bachmann Frontfrau bei den Dresdner Kundgebungen, hatte sich bei einem viel von den Medien diskutierten Auftritt im Januar 2016 ebenfalls über die Kirchen geäußert:

„Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“[23]

Die Kirchen wurden hier in eine Reihe neben andere von Pegida verabscheute Institutionen wie Medienhäusern und Parlamenten gestellt. Festerlings Hetzrede verdeutlicht, dass die Amtskirchen in rechten Weltbildern fest zum verhassten Establishment der Bundesrepublik gehören.

Dennoch gibt es auch in diesem Kontext Grauzonen. Das Fallbeispiel Pegida zeigt auch Ambivalenzen, denn von rechter Seite wird auch positiv auf christliche Wertvorstellungen oder Symbole Bezug genommen werden. Das Foto eines schwarz-rot-goldenen Kreuzes auf der Dresdner Pegida-Demonstration ist mittlerweile ikonisch für die Inanspruchnahme des Christentums als kulturchauvinistischer Marker geworden.[24] Auch in einem mehrheitlich von Konfessionslosen bestimmten Umfeld wie der Pegida-Bewegung wird das Christentum insbesondere in der Abgrenzung zu einer imaginierten Bedrohung durch den Islam in Anspruch genommen.[25] Und auch im konservativ-christlichen Milieu existieren Vernetzungen und Anknüpfungsmöglichkeiten. Der humanistische Pressedienst hat zurecht angemerkt, dass im Falle von Pegida der Anteil protestantischer Teilnehmer neben den Konfessionslosen nicht unter den Tisch fallen sollte.[26] Die Publizistin Liane Bednarz hat in ihrem Buch „Die Angstprediger“ umfassend dargestellt, dass die AfD insbesondere für streng konservative christliche Gruppierungen mit monothematischer Fixierung auf Themen wie Abtreibung oder Geschlechter- und Familienbilder attraktiv ist.[27] Beispielsweise ist AfD-Fraktionsvize Beatrix von Storch sehr eng in der Szene der Abtreibungsgegner vernetzt.

 

 

[1] Im Herder-Verlag erschien vor Kurzem ein umfangreicher Band zum Thema „Religionspolitik heute“, in der APuZ-Reihe der Bundeszentrale für politische Bildung zudem ein sehr lesenswertes Heft zu aktuellen Fragen der Religionspolitik in Deutschland: https://www.bpb.de/apuz/272095/religionspolitik

[2] https://www.huffingtonpost.de/entry/weil-pfarrer-zu-kritisch-sind-afd-erklart-kirchen-in-bayern-den-krieg_de_5b4def40e4b0fd5c73bf2304?utm_hp_ref=de-homepage

[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/wahlkampf-in-bayern-die-afd-will-mit-den-kirchen-brechen-1.4056494

[4] Landtagswahlprogramm FDP Bayern 2018, S. 18: https://fdp-bayern.de/wp-content/uploads/2018/06/180621-LTW-Programm.pdf

[5] Der Abschnitt „Trennung von Staat und Religion“ findet sich im Landtagswahlprogramm auf den Seiten 12–14. https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[6] Art. 138 Weimarer Reichsverfassung: http://www.verfassungen.ch/de/de19-33/verf19-i.htm

[7] https://www.deutschlandfunk.de/partei-der-humanisten-politiker-stellen-sich-gerne-neben.886.de.html?dram:article_id=380293; Homepage der Partei: https://diehumanisten.de/

[8] Ein Beispiel wäre der „Vertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern“: http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayIsraelKultVertrag

[9] Vorhergegangen war eine Äußerung des evangelischen CDU-Bundesinnenministers Thomas de Maizière: https://www.welt.de/politik/deutschland/article137373663/Union-kritisiert-de-Maiziere-fuer-Scharia-Vergleich.html.

[10] https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[11] Ebd.

[12] https://www.afdbayern.de/afd-bayern-sieht-im-wahlprogramm-keine-attacke-auf-die-kirchen/

[13] Ebd.

[14] https://www.youtube.com/watch?v=cjS-Dy0c9xo.

[15] https://www.cicero.de/kultur/heinrich-bedford-strohm-sophia-l-trauerrede

[16] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/petr-bystron-afd-bayern-verfassungsschutz-identitaere-bewegung

[17] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[18] Ab Minute 46: https://www.br.de/mediathek/video/bayerntrend-2018-die-kontrovers-umfrage-zur-politischen-stimmung-im-landtagswahljahr-av:5a16bc41a7c4c200186bfc06

[19] http://www.fr.de/politik/sachsen-anhalt-afd-fehde-mit-den-kirchen-a-1479332

[20] https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2017-04-25/aufruf-zu-kirchenaustritt-auf-afd-parteitag-sorgt-fuer-kritik

[21] Der Verfasser verfügt über Screenshots der Postings.

[22] https://www.sz-online.de/nachrichten/weidel-provoziert-kirchen-mit-vergleich-zur-nazi-zeit-3844710.html

[23] Rede Tatjana Festerlings bei der Pegida-Kundgebung im Januar 2016, zitiert nach: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/pegida-aktivistin-festerling-radikaler-geht-s-nicht-14021313.html

[24] Zu sehen ist das dpa-Foto unter anderem in diesem Bericht des Berliner Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/pegida-in-dresden-kirchenvertreter-nennen-pegida-unchristlich/11185530.html

[25] https://www.tagesspiegel.de/politik/studie-ueber-anhaenger-der-pegida-gut-ausgebildet-konfessionslos-unzufrieden/11229064.html

[26] https://hpd.de/artikel/12688

[27] https://www.deutschlandfunkkultur.de/liane-bednarz-ueber-ihr-buch-die-angstprediger-wie-christen.1270.de.html?dram:article_id=415018

#digitaleKirche

Ein Kommentar

von Michael Greder

Unter dem Hashtag #digitaleKirche hat sich ausgehend von einem kleinen Artikel Hannes Leitleins in einer Ausgabe der Christ&Welt eine Diskussion um die Zukunft der Kirche entwickelt. Ich finde das großartig. Bisher habe ich mich aus dieser Debatte herausgehalten und mich auf den Zaun gesetzt, um zu beobachten, wie sich die Angelegenheit formiert. Obwohl schon einiges geschrieben wurde und der Hashtag weiterhin fleißig auf Twitter Beiträge kennzeichnet, lässt er mich etwas ratlos zurück.

Der Blogger Sascha Lobo meinte einmal, dass die produktive Kraft von Twitterdebatten darin bestehe, auf Grund der gebotenen Kürze den Kern selbiger unnachgiebig freizulegen. Diese These kann ich von meinem Zaunpfahl aus in Bezug auf #digitaleKirche kaum bestätigen. Aus diesem Grund möchte ich einen sicherlich völlig unvollständigen Vorschlag machen, die Terminologie der Debatte zu ordnen und damit hoffentlich den Blick zu schärfen. Mir geht es dabei nicht in allen Punkten um eine Zustimmung zu dem Dargestellten. Für mich ist die Diskussion noch völlig offen und ich habe selbst noch keine starke Meinung dazu.

Bisher erkenne ich fünf Bereiche in denen #digitaleKirche eine Rolle spielt: Die persuasive Kommunikation (Mission), die Kommunikation als Selbszweck (allgemeines Priestertum), die damit verbundene Repräsentanz des Christentums in der Öffentlichkeit (Relevanz), die theologische Bearbeitung des digitalen Wandels und die Verwaltung. Auf die ersten beiden Dimensionen möchte ich im Folgenden eingehen und vorher noch auf zwei grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Debattenbeiträge eingehen

Zwei Gemeinsamkeiten

Die oberflächliche Gemeinsamkeit der Debattenbeiträge besteht in der banalen Feststellung, dass digitale Kirche (noch) irgendetwas mit Bildschirmen zu tun hat. Nicht mehr und nicht weniger. Dieser Umstand führt dazu, dass sehr unterschiedliche Anliegen unter dem Schlagwort verhandelt werden. Die Reichweite erstreckt sich von Twitterandachten über Spendenverwaltungssoftware bis hin zu dienstrechtlichen Fragen wie z.B. nach einer Onlinepflicht für Pfarrerinnen. Für eine grobe Einsortierung taugt diese Beobachtung. Geht es ins Detail, kann sie aber für Verwirrung sorgen. Im schlimmsten Fall wird #digitaleKirche dann zu einem Gefälligkeitsbegriff, der coole und super angesagte Flyer, Plakate und Broschüren schmücken darf, weil er glattgeschliffen genug ist, dass sich niemand mehr an seinem kritischen Potenzial stoßen kann.

Darüber hinaus verbirgt sich hinter dem Hashtag die These, dass der gegenwärtige Zustand der Kirche mindestens suboptimal ist: Immer mehr Menschen treten aus, oder schlimmer noch: sie sterben, ohne dass genug junge Menschen nachkommen. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz. Nicht nur im politischen Geschehen, sondern auch im Alltag. Wer glaubt, muss sich erklären. Die Rechtfertigung allein aus Gnaden wird zu einer Dauerrechtfertigung vor der Familie, Freunden, Bekannten und nicht selten auch vor Fremden, sofern man sich als Christ zu erkennen gibt. Das nervt. Christen schweigen vermehrt in der Öffentlichkeit über Glaubensfragen. Religion gehört mehr und mehr zum Peinlichkeits- und Schamrepertoire der Privatsphäre. Die verfasste Kirche tut dabei nicht nur zu wenig, sondern sogar das Falsche. Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

#digitaleMission

Damit landen wir auch schon bei der ersten Dimension mit der ich #digitaleKirche differenzieren will:

Ein zentrales Anliegen besteht in der digitalen Mission. Die #digitaleMission unterteilt sich wiederum in eine innere und eine äußere Mission.

Im Inneren geht es um das, was man inzwischen klassischerweise als Mitgliederbindung oder institutionstheoretisch als Pflege des „staying in“ bezeichnen könnte. Vor allem junge Menschen, die irgendwie im entferntesten noch etwas mit der Kirche am Hut haben, sollen erreicht werden. Sie sollen sich einerseits wohlbehalten fühlen und müssen dafür andererseits mit den Kommunikationsmitteln ihrer Generation angesprochen werden.

Bei der äußeren Mission geht es darum, Menschen zu erreichen, die mit der Kirche und vielleicht auch mit Glaube und Religion in ihrem persönlichen Alltag nichts mehr zu tun haben.

In beiden Bereichen fungiert Kommunikation als Mittel zum Zweck. Die Sprache der Mission verfolgt das Ziel, Menschen von der eigenen Haltung zu überzeugen und aus Sicht der verfassten Kirche auch an sich zu binden. Sie ist hochgradig persuasiv. Das wird in unseren Gefilden oft geleugnetIch möchte das an dieser Stelle nicht bewerten, aber komme nicht umhin anzufügen, dass man sich dies bewusstmachen sollte.

#PriestertumallerProsumenten[1]

Eine zweite Dimension spricht die theologische Auseinandersetzung direkter an. Sie handelt von der Kommunikation als Selbstzweck: Das allgemeine Priestertum. Leitlein hat diesen Aspekt als protestantischen Leitgedanken im Umgang mit den neuen Medien der Debatte eingeschrieben. Die Formel lautet Buchdruck+Reformation+Internet=Erneuerung. #digitaleKirche zeigt sich hierbei als eine typisch protestantische Bewegung: „Ad fontes“ lautet das Mantra und die Granden der Kirche werden an dem Fundament gepackt, dessen Bewahrung sie eigentlich versprechen.

Das allgemeine Priestertum als ultimativer Grund für Forderungen und zum Teil auch Grausamkeiten aller Art, hat in der Reformation schon für Irritation gesorgt. Nun möchte ich keinesfalls unterstellen, dass eine Gruppe von Digitalistinnen und Digitalisiten mit gezücktem Smartphone in der Hand und Daumen im Anschlag gen Münster zieht, um der sittlichen Verwirklichung des Reich Gottes in einem letzten großen Shitstorm nachzuhelfen. Ich möchte auf die einseitige Verwendung des allgemeinen Priestertums aufmerksam machen. In erster Linie handelt das allgemeine Priestertum nicht von der Kommunikation der Gläubigen untereinander und auch nur vermittelt von kirchlichen Organisationsformen, sondern von der persönlichen Beziehung zu Gott. Die Funktion des Priesters als Mittler zwischen Gott und der Welt kann von jeder und jedem selbst ausgelebt werden. Das betrifft neben der persönlichen Gottesbeziehung auch die theologische Urteilsbildung.

Im #PriestertumallerProsumenten mag man nun, wie Leitlein, das technische Potenzial einer absoluten weltlichen Verwirklichung des darin liegenden Gleichheitsanspruchs erblicken.

Das Anliegen in der digitalen Kirche die Verwirklichung eines urprotestantischen Versprechens zu erkennen, hat einiges für sich. So fordert auch Philipp Greifenstein in einem Blogpost von der Kirche: „Sie muss die Passwörter für die Kirchenaccounts demokratisieren.“ Damit würden Machtstrukturen gebrochen. Ein so gelebtes #PriestertumallerProsumenten ermögliche „[o]ffene Diskussionen“ und „freie Teilhabe“.

Die bloße Behauptung von absoluter Gleichheit und damit verbundener freier Teilhabe entspricht aber keinesfalls ihrer praktischen Verwirklichung. Der Ruf nach absoluter Gleichheit und Freiheit sorgte in der Geschichte schon häufig genug dafür, dass die Vorredner am Ende wieder gleicher waren als die Allgemeinheit. Denn die Behauptung besserer Gleichheit verdeckt neu entstehende Strukturen.

Im modernen Kampf um Anerkennung und der Aufmerksamkeitsökonomie kuratierter Identitäten ist es nicht nur Zufall, wer in der neuen Kommunikationslandschaft Gehör findet und wer nicht.

(By the way: Wie Leitlein, Wikipedia als Paradebeispiel für die Gleichheit der Kommunikation im Internet heranzuziehen halte ich für sehr sportlich.)

#digitaleKirche verliert ihr kritisches Potenzial, wenn es ihr nicht gelingt die eigenen Strukturen der Einflussnahme und die neuen Hierarchien des Netzes offenzulegen. Das Leugnen von Macht stärkt die Mächtigen. Wir können im innerkirchlichen Bereich doch nicht wieder einmal hinter die Diskussionen und Erkenntnisse der letzten Jahre zurückfallen und später behaupten wir wären die Erfinderinnen des Rads.

 

Michael Greder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“

 

Das Beitragsbild zeigt den Supercomputer „MareNostrum“, der in einer ehemaligen Kapelle untergebracht ist. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/MareNostrum)

[1]Anmerkung der Redaktion: Prosument (engl. Prosumer) ist ein Kunstwort und bezeichnet (v.a. im Digitalen) Personen, die gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sind. Zu denken ist dabei zunächst (aber eben nicht nur) an soziale Netzwerke.

Über religiöse Menschen. An die vermeintlich Gebildeten unter ihren Spöttern

 

Ein Kommentar von Claudia Kühner-Graßmann

 

Als christlich-religiöser Mensch hat man es zur Zeit wahrlich nicht leicht: vom alljährlichen Angriff an Karfreitag, ausgelöst durch das sog. Tanzverbot, über das Urteil des EuGH zum kirchlichen Arbeitsrecht bis zur bayerischen Kreuzaffäre. Neben viel berechtigter Kritik und richtig gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat kommt es dabei immer auch zu einer Abrechnung mit der Religion, vornehmlich mit der christlichen (konfessionsindifferent). In maßloser Überheblichkeit wird die intellektuelle Unterlegenheit von Religion und damit ineins die eigene Überlegenheit herausgekehrt. Man selbst habe ja keine Vorurteile – im Gegensatz zu den Religionen; wie blöd müsse man sein, um einen Menschen zu betrauern, der vor 2000 Jahren gekreuzigt wurde und der behauptet, Gottes Sohn zu sein; wie uncool sei man bitte, wenn man in diese Kirche geht.

Ich nehme diese Polemik vor allem aus eher gebildeten Kreisen wahr, so wird etwa auch die Wissenschaftlichkeit der eigenen areligiösen Position besonders hervorgehoben. Wenn gegen Kirche, Religion und immer wieder auch Geistliche gewettert wird, scheint es um Stellvertreterkämpfe zu gehen, denn das, was die Damen und Herren beschreiben, hat mit meiner Wahrnehmung religiöser Menschen wenig zu tun. Gut, ich bin ja auch mittendrin und sogar Theologin! Deutlich wird, dass es oft in irgendeiner Form mehr oder weniger schlimme, vielleicht eher lächerliche Erfahrungen mit Kirche und religiösen Verwandten gegeben hat. Das tut mir Leid, aber die Verallgemeinerung und das Projizieren eigener Erfahrungen auf alle lebende Christinnen und Christen zeugt nicht gerade von differenziertem Reflexionsvermögen – was ja gerade in Anspruch genommen wird. Zudem gibt es immer diffuse Ausnahmen, weil der ein oder die andere Religiöse dann doch eigentlich ganz ok ist. Ich könnte so weiter machen, aber mein Punkt dürfte deutlich geworden sein.

Ich nehme zudem wahr, dass das, was die Kritiker an unterstufiger Religiosität der Gegenseite unterstellen, nicht über die Ebene eines „Kinderglaubens“ hinausgekommen ist. Hierbei kann und vermutlich muss man Versagen beim kirchlichen Katechumenat, v.a. in seiner Form als Religions- und Konfirmandenunterricht konstatieren. Aber, und darauf kommt es mir wiederum an, das hat halt mit dem, was in vielen Gottesdiensten (jaja, es gibt auch da andere!) verbreitet wird und was viele Erwachsene glauben, doch überraschend wenig zu tun. Glaube wird irgendwie auch erwachsen.

Es zeugt also nicht gerade von Intellekt, wenn auf dieser undifferenzierten Grundlage eine ganze Gruppe von Menschen angegangen wird. Es ist mühselig, auf dieser Grundlage das Gespräch zu suchen und zu führen. Man bleibt halt doch in einer Verteidigungshaltung gefangen. Aber warum? Gerade wir Theologinnen und Theologen brauchen uns eigentlich nicht zu verstecken!  Unser Studium ist so breit angelegt, dass wir – nicht ohne Stolz – von uns behaupten können, Generalisten zu sein. Wir lernen zudem eine wichtige Sache: die Reflexion auf unsere eigenen Voraussetzungen. Im besten Fall sind wir dazu fähig, über unseren Glauben einigermaßen allgemeinverständlich Auskunft geben zu können. Pfarrerinnen und Pfarrer sollten diesen katechetischen Aspekt auch in ihren Predigten bedenken, um der Gemeinde Hilfe zur eigenen Sprachfähigkeit zu geben.

Ich, und das ist meine persönliche Meinung, halte viele Spielarten des Atheismus und Humanismus für deutlich unterstufiger, weil diese Reflexion über die eigenen Voraussetzungen und Grundlagen ausbleibt. Die eigenen Ansichten werden als so evident betrachtet, dass Kritik und Prüfung ausbleiben können (das ist übrigens auch ein Grund, warum ich den Laizismus für einen Trugschluss halte: wir alle leben im Horizont solcher Voraussetzungen, die auch thematisiert werden müssen). Häufig sind dazu Ersatz-Glaubenshandlungen zu beobachten, wenn etwa das Schicksal oder Murphy’s Law für das Wetter, das kaputte Auto o.ä. verantwortlich gemacht werden – immer ironisch gemeint, versteht sich…

Liebe Spötter: mir ist es im Grunde egal, ob ihr glaubt oder nicht glaubt. Wirklich. Aus meiner christlichen Sicht mag das bedauerlich sein, aber ich weiß ja auch, dass der Geist weht wie und wo er will. Aber unterlasst doch bitte diese unterstufige Kritik an allen religiösen Menschen. Ihr fühlt euch intellektuell überlegen? Dann zeigt das doch bitte auch. Reflektiert Eure Motive und Eure eigenen weltanschaulichen Grundlagen.

Liebe Theologinnen und Theologen, liebe Christinnen und Christen: bitte seid nicht immer so apologetisch. Versucht nicht immer zu zeigen, dass Ihr cooler und klüger seid als „die“ Kirche, da springt Ihr doch nur auf diesen Zug auf (abgesehen davon, dass ihr ebenfalls „die“ Kirche seid). Konzentrieren wir uns doch darauf, unseren Glauben reflektiert darzustellen und uns selbstbewusst des Evangeliums nicht zu schämen!

Denn, ich zitiere einen Tweet von @hrmnn01:

https://twitter.com/hrmnn01/status/803343103176409090

 

Wie wir die Digitalisierung angehen!

Genau nach dem Plan, den ich dir von der Wohnung

und ihrem ganzen Gerät zeige, sollt ihr’s machen.“

(Ex 25,9)

Ein Beitrag zu #DigitaleKirche von Tobias Graßmann (@luthvind).

Letzte Woche hat Hannes Leitlein einen viel beachteten Text geschrieben, in dem er die evangelischen Kirchen an ihre reformatorischen Wurzeln erinnert. Ausgehend davon wirft er den Kirchen mangelnde Offenheit für die Chancen von Digitalisierung und sozialen Medien vor. Niklas Schleicher hat an diesem Ort bereits einige theologische Anfragen an diesen Text geäußert. Dieser Weg soll hier nicht weiter beschritten werden.

Ich bin der Meinung: Das Problem ist jetzt doch auf dem Tisch. Wir haben genug Appelle gehört. Die Ermunterungen, neben der Realität doch auch die digitale Welt und ihre mysteriösen Bewohner der kirchlichen Verkündigungstätigkeit zu unterwerfen. Die kritischen Einwände, bitte endlich die leidige Unterscheidung von „realer“ und „digitaler“ Welt aufzugeben – und, ach, letztere bitte nicht nur als Missionsgebiet zu beackern, sondern als Raum für echte Begegnungen wahr- und ernstzunehmen. Der Weg von der Absichtserklärung hin zu konkreten Maßnahmen wurde, während ich noch an diesem Text sitze, schon von den Jugenddelegierten der EKD beschritten.

Um das Ganze noch ein Stück weiter zu treiben, nun ein kleines Gedankenexperiment:

Nehmen wir einmal an, bei mir klingelt das Telefon. „Herr Graßmann? Hier spricht Frau Sowienoch aus dem Landeskirchenamt. Der Landesbischof möchte mit Ihnen sprechen. Er hat da letztens diesen Text von einem Zeit-Journalisten gelesen und war tief erschüttert. Er meint, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern muss das mit der Digitalisierung jetzt echt einmal konsequent angehen! Wir brauchen wen, der für den Landeskirchenrat eine passende Strategie für digitale Entwicklung ausarbeitet. Und da sind wir beim googeln halt irgendwie auf Sie gekommen… (Gedankenexperiment!)“ Und, wie ich halt so bin, sage ich: „Natürlich, ich könnte gleich morgen in der Katharina-von-Bora-Straße vorbeikommen. Ich hab da zufällig schon was auf der Festplatte.“

Wie sähe der Plan aus, mit dem ich in den ICE steige?

1. Einrichtung einer „Abteilung G: Internet“ im Landeskirchenamt

Als erstes richten wir eine neue Abteilung im Landeskirchenamt ein! (Natürlich ohne Oberkirchenrat an der Spitze, um das Gleichgewicht von Kirchenkreisen und Abteilungen innerhalb des Landeskirchenrats nicht zu gefährden…)

Diese Abteilung G: Internet hat den Auftrag, die Präsenz der Landeskirche im Internet neu zu konzipieren und konsequent weiterzuentwickeln, zu administrieren, zu moderieren und mit theologisch gehaltvollem Content zu füllen. Konkret wäre zunächst an informative und katechetische Angebote zu denken, eine Berichterstattung über Kirchen- und Religionspolitik, regelmäßige Updates für die Kirchenleitung bezüglich relevanter Diskurse in den sozialen Medien sowie eine niederschwellige Ansprechbarkeit durch gut gepflegte Accounts. Die Liste lässt sich natürlich erweitern. Was definitiv nicht zu den Aufgaben dieser Abteilung gehören wird, sind Fortbildungen und die Betreuung der Gemeinden in technischen Fragen – dafür sind eigene Stellen zu schaffen oder externe Spezialisten hinzuzuziehen.

Dazu erhält die Abteilung eine passende Personalausstattung, ich denke an zunächst einmal elf volle Stellen. Fünf davon sollten mit theologisch oder religionspädagogisch ausgebildeten Amtsträgern besetzt sein, fünf mit Informatikern1, Webdesignern oder Spezialisten aus anderen einschlägigen Berufen. Die letzte Stelle wird besetzt von einem Juristen mit besonderer Qualifikation in Urheberrechts- und Datenschutzfragen. Zwei dieser Stellen könnten auch erst einmal Praktikumsplätze sein. Die Stellen sind (wie bei Entsendungen in Partnerkirchen) auf maximal sechs Jahre, besser drei Jahre mit Möglichkeit einer Verlängerung um drei Jahre beschränkt. Gerade in diesem Feld wäre es fatal, wenn eine in der Kirche oft beobachtete Entwicklung einsetzt: Leute richten sich auf ihren Stellen ein und verweigern die nötigen Lernprozesse, um mit den Entwicklungen des Feldes Schritt zu halten.

An die Spitze der Abteilung stellen wir gleichberechtigt einen der Theologen, einen der Informatiker sowie den Juristen. Was die Entscheidungsfindung betrifft, schwanke ich, ob Grundsatzentscheidungen im Konsens gefasst werden müssen oder man lediglich ein Vetorecht bei schweren Bedenken einräumen sollte. Das können wir ja noch diskutieren!

Die nötigen Stellen könnten an anderer Stelle der Landeskirche problemlos eingespart werden. Ich hätte da unmittelbar einige Vorschläge – die ich an dieser Stelle freilich (noch) nicht äußere, damit die Debatte nicht in die falsche Richtung abdriftet. Die Personalkosten wären also neutral. Ich bin kein Spezialist, aber meine: Für die technische Ausstattung sollte zunächst der Preis einer mittelgroßen Orgel ausreichen. Räume stellt das Landeskirchenamt in München zur Verfügung. Man könnte diese Abteilung – das ist ja das Tolle an der Digitalisierung – zwar problemlos auch in Rummelsberg oder Neuendettelsau oder sonst wo ansiedeln. Aber eigentlich mag ich den Gedanken, dass die Informatiker und Webdesignerinnen durch das Landeskirchenamt schlurfen und über Techie-Kram reden…

2. Verpflichtende Fortbildung für alle Pfarrerinnen und Pfarrer

Für die zukünftigen Pfarrergenerationen wird das Thema Internet und Digitalisierung fest in die Ausbildung im Predigerseminar integriert, wobei das Thema eher kontinuierlich mitlaufen sollte, als in einer eigenen Kurswoche behandelt zu werden.

Zusätzlich werden alle derzeitigen Amtsträger der ELKB für eine fünftägige verpflichtende Fortbildung einberufen. Das bisherige Format der Aufklärung hat sich nämlich nicht bewährt: Man lädt sich als Gemeinde oder Pfarrkapitel aus aktuellem Anlass einen mit der Internetarbeit betrauten Spezialisten ein. Der hält einem dann in eineinhalb Stunden einen launigen Vortrag, argumentiert nach Kräften gegen die sogleich geäußerten Bedenken an, preist die Vorzüge des Internets, all das angereichert mit vielen Screenshots, Cliparts und anglophonen Nerdjokes. Der bleibende Eindruck bei großen Teilen der Pfarrerschaft: „Krass, dieses Internet! Da lass ich besser die Finger von!“ Aufklärung braucht Zeit und das Internet will erkundet werden.

(Trotzdem gilt natürlich: Daumen hoch für Christoph Breit und all die anderen Männer und Frauen auf dem verlorenen Posten!)

Am ersten Tag steht aber erst einmal Entmythologisierung an: Es ist mitnichten so, dass mit Einrichtung eines Twitteraccounts die NSA automatisch Zugriff auf meine Mikrowelle erhält. Es ist kaum zu befürchten, dass einem auf Facebook unvermittelt Drogen, Kindersklaven und Kriegswaffen angeboten werden. All der Seemannsgarn von Datenkraken und Darknet eben, der besonders von Leuten gesponnen wird, die es für unsittlich halten, ein anderes Betriebssystem als Windows XP zu nutzen. Wir sind im Internet nicht irgendwelchen finsteren Algorithmen ausgeliefert, sondern primär als kritische Individuen gefragt.

Der Tag zwei dreht sich dann um Netiquette. Eigentlich sollte es reichen, folgende Faustregel einzubläuen: Im Internet sind neben mehr oder weniger witzigen Spambots vor allem Menschen unterwegs. Deshalb ist im Internet all das nicht ok, was auch ansonsten im Umgang mit Menschen tabu ist. Hetzen, Stalken, Mobben, krumme Geschäfte oder das Herumzeigen von Penisbildern würde man im Umgang miteinander gewöhnlich nicht dulden. Also auch im Internet: Lasst es bleiben! Nicht, dass ich diesbezüglich in der Pfarrerschaft ein großes Problem vermute, aber sicher ist sicher. Mit dieser Faustregel kann man Pfarrerinnen und Pfarrer getrost auf die Netzwelt loslassen. Und ja, das Mäßigungsgebot bezüglich politischer Äußerungen gilt auch im Internet.

Der Tag drei dient dazu, grundlegende Internetanwendungen (Internettelefonie, Kalender), nützliche Apps (nicht nur die Bahn-App), die wichtigsten sozialen Netzwerke (Facebook, Twitter) und nicht zuletzt kirchliche Angebote im Netz vorzustellen und gemeinsam zu erkunden.

Am vierten Tag bekommt jede und jeder die Aufgabe, zumindest ein Projekt im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu planen, umzusetzen und einen Monat weiterzubetreiben. Man könnte eine Page zusammenbasteln, einen Blog einrichten, Predigten streamen, Links zu einem Thema zusammentreiben, eine Gruppe in einem sozialen Netzwerk gründen usw. Danach gibt man sich wechselseitig Feedback, wertschätzend und bestärkend natürlich! Wir wollen ja keine Trolle ausbilden.

Am letzten Tag, wenn ein Großteil der unfreiwilligen Teilnehmer dann wider Willen ein bisschen Blut geleckt hat, kann man noch einmal ein paar rechtliche Details zu Datenschutz und Urheberrecht erläutern. Dann geht es wieder zurück in die Gemeinden. Der Erfolg wird nicht ausbleiben!

3. Änderung im Pfarrerdienstrecht: Internetpräsenzpflicht

In einem dritten Schritt fügen wir an geeigneter Stelle die folgenden Paragraphen ins Pfarrerdienstrecht ein:

(1) Pfarrerinnen und Pfarrer sind grundsätzlich verpflichtet, eine Präsenz in den sozialen Medien zu unterhalten und diese angemessen zu pflegen.

(2) Sie sind gehalten, in den sozialen Medien als Amtsträger erkennbar und für Fragen des christlichen Glaubens ansprechbar zu sein.

Dabei geht es natürlich nicht darum, diese „Pflicht“ zu kontrollieren und streng durchzusetzen. Der Kenner sieht auch gleich die faktische Einschränkung zu einer Soll-Bestimmung.

Das Ziel ist vielmehr, die Begründungslast umzukehren: Ich muss als guter Pfarrer vor niemandem rechtfertigen, dass ich mir einen Account in einem sozialen Netzwerk einrichte. Vielmehr muss ich vor meiner Gemeinde und meinen Vorgesetzten begründen, wenn ich mich prinzipiell aus dem Internet fern halte.

In der Logik des Pfarrerdienstrechts ist dies einfach die konsequente Fortführung der Residenzpflicht. Denn – unabhängig von der leidigen Pfarrhausthematik – hinter dieser verbirgt sich ja nicht einfach der Wille zur Schikane, sondern die tiefere Absicht, den Pfarrer zum lebensweltlichen Miteinander mit seinen Gemeindegliedern zu zwingen. Diese Pflicht muss heute selbstverständlich auch auf das Internet ausgedehnt werden, da dieses schließlich ebenso selbstverständlich zum Leben vieler Menschen gehört wie der Gang zum Friseur oder zum Bäcker an der Ecke.

Zu erwarten ist natürlich, dass sich die Pfarrerschaft über die zusätzliche Pflicht beklagt. Aber mal unter uns: Dann sollen die Kollegen sich halt an anderer Stelle eine Entlastung gönnen, eine ihrer angestammten Aufgaben abgeben oder zumindest herunterfahren! Welche das sein könnte, sollten sie selbst am Besten entscheiden können. Schließlich sind wir alle erwachsene, selbstverantwortliche Menschen …

Ein Wort noch zu der Ausgestaltung dieser Dienstpflicht: Die Landeskirche muss unbedingt Abstand von der aktuell empfohlenen Praxis der Dienstprofile nehmen. Das Resultat solcher „Vikarin Soundso“ und „Pfarrer Sowienoch“-Accounts ist, dass die sozialen Medien mit unspannenden Zombies bevölkert werden, denen selbst Kirchenvorstände nur widerwillig folgen. Wieso auch, wenn nur der Inhalt des (analogen) Gemeindebriefs und hin und wieder ein Blumenfoto aus dem Pfarrgarten gepostet wird? Was die Menschen interessiert, sind Personen mit Klarnamen und aus Fleisch und Blut, die auf ihren Glauben und ihre Kirchenzugehörigkeit ansprechbar sind, aber sich auch mal in anderen Debatten und banalen Alltagsfragen äußern, vielleicht sogar mit ihrer Meinung angreifbar machen.

Das soll natürlich nicht heißen, dass ein Zweitaccount nicht in manchen Fällen legitim wäre. Wer als Pfarrer weiterhin freizügige Fotos posten oder irgendwelchen bizarren Hobbies nachgehen will, ist mit einem Pseudonym gut bedient. Nur sollte eben der Pfarrdienst integriert in das allgemeine Leben sein, nicht das bizarre Hobby unter Gleichgesinnten, für das man sich einen Spezialaccount gönnt. Verstehen Sie meinen Punkt?

4. Langzeitziele

Tobias Jammerthal hat mich zu Recht darauf hingewiesen, dass die hier vorgeschlagenen Maßnahmen konsequenterweise in einem nächsten Schritt auch auf andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgedehnt werden sollten. Dem stimme ich zu. Diese Vorschläge sind daher auch nur als erste Schritte hin zu einer umfassenden Vision von Kirche im Netz zu betrachten.

Wie sieht diese Vision aus? Es ist die einer Kirche, die sich im Internet ansprechend, professionell und ihrer Botschaft gemäß präsentiert. Eine Kirche, die einerseits als Institution über vielfältige qualitativ hochwertige Angebote verfügt, die aber andererseits von vielen Einzelpersonen – Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen, Sympathisanten – getragen wird, die ihre jeweiligen Gaben einbringen und so ihren Glauben an Jesus Christus im Netz bezeugen.

Beides ist vielfältig vernetzt: So teilen Interessierte vielleicht eine kirchenoffizielle Bekanntmachung, welche dann in Onlinemedien und Blogartikeln kommentiert wird. Daraufhin entspinnt sich eine Diskussion, die neue Perspektiven, theologische Argumente sowie konkrete Verbesserungsvorschläge zu Tage fördert. Die Ergebnisse dieser Diskussion finden dann über die Internetabteilungen der Landeskirchen ihren Weg zurück in die kirchlichen Leitungsgremien.

Wer weiß, vielleicht wirkt sich dieses Feedback dann sogar auf die Entscheidungen der Kirchenleitung aus? Vielleicht erspart die Digitalisierung ja einmal Denkanstößen den Weg durch die Telefone und Vorzimmer, macht so manche ICE-Fahrt durch die halbe Republik unnötig?

Klingt, bei Lichte besehen, gar nicht so visionär…

Also los, an die Umsetzung! Wir schaffen das!


1 Da es sich hier um eine Skizze handelt und es bei den vielen Berufsbezeichnungen wirklich mühsam zu lesen wäre, verzichte ich auf geschlechtergerechte Sprache. Das bedeutet nicht, dass bei der Besetzung nicht unbedingt auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu achten wäre!