Vom Fetisch der fleischlichen Begegnung

Ein Plädoyer für mehr Engagement von #digitaleKirche in der Verwaltung

von Michael Greder (@HerrVikarin)

Seid ihr schon einmal in ein Pfarramtsbüro hineingestolpert und habt bei einem verstohlenen Blick am vergilbten Kastenmonitor vorbei in der Ecke einen kleinen Arbeitsplatz erblickt, auf dem ein sperriges, graues Kästchen stand? Oder musstet ihr schon einmal Formulare für die kirchliche Verwaltung ausfüllen – z.B. die Anmeldung zur Konfirmation? Wer diesem Unterfangen bereits seine Lebenszeit widmen durfte, tat dies sehr wahrscheinlich unter seelischen Schmerzen. „Der Taufspruch des Paten! Für was genau wollen die das jetzt Wissen? Und wie zum Teufel soll meine E-Mailadresse in das zwei Millimeter kleine Kästchen passen?“

Weil man teilweise irgendwie doch nicht auf ein „modernes“ Verwaltungsangebot verzichten möchte, hat sich das Hase-Igel-Verfahren etabliert. Ein PDF kann heruntergeladen, mit dem Stift ausgefüllt, eingescannt und wieder zurückgemailt werden – das Original muss natürlich unterschrieben nur noch eingetütet, frankiert und zur Post gebracht werden.

Wer sich in Bayern für den Vorbereitungsdienst beworben hat, saß vermutlich examenskrank über einem lebenswegentscheidenden Papierbogen, hat mit aller Mühe spätnachts wichtige Entscheidungen eigetragen und sich auf den verdienten Feierabend gefreut. „Aber Moment! Wofür sind die anderen beiden Formulare? Die sehen ja identisch aus! Ich muss alles dreimal handschriftlich ausfüllen? Auch meine persönlichen Daten, die die Landeskirche schon seit Jahr und Tag von mir hat?“ Ja, das muss ich.

Die unleidliche Liste unattraktiver Verwaltungsakte – und deren Anbahnung – ließe sich unschwer fortsetzen. Das Murren und Knurren über Berührungspunkte mit der kirchlichen Verwaltung ist vermutlich so alt wie der Einzug des sprichwörtlichen Preußentums ins bayerische Kirchenwesen. Am Ende des Tages sind wir alle aber doch unendlich dankbar dafür, dass Menschen in der landeskirchlichen Verwaltung und im Pfarramt daran arbeiten, den Laden am Laufen zu halten. Diese meist unsichtbare Arbeit kann gar nicht hochgenug geschätzt werden. Man muss sich nicht gleich Max Webers Überlegungen zur Bürokratie unter das Kopfkissen legen, um einzusehen, dass eine ordentliche Verwaltung Signum landeskirchlicher Praxis ist, die letztlich viele Vorteile bietet. Dies gilt, obgleich die Verwaltung für die Allgemeinheit meist im Verborgenen stattfindet. Wenn die Verwaltung funktioniert, entschwindet sie dem Bewusstsein, sowie der Brief, der im Postkasten landet. Wenn aber ein Problem auftritt, brennt sich dieses umso fester ein. Das ist das Los der Administration.

Im Gegensatz zu Forderungen nach experimentierfreudiger und professioneller Kommunikation der Kirche im Netz, kommt das Thema der Verwaltung äußerst schnöde daher. Allein schon das begleitende Framing mit Worten wie Effizienz legt in kirchlichen Kreisen einen verruchten Mantel über den unbeliebten Komplex.

Ich habe mich in diesem Blog bereits zum Thema #digitaleKirche geäußert und bei meinen Überlegungen die Dimension der Verwaltung bisher ausgespart. Dies lag vor allem an meinem fehlenden Wissen um die pfarramtliche Verwaltungspraxis. Mein gesichertes Wissen ist in den letzten Monaten kaum anstiegen, allerdings konnte ich aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit und vieler Gespräche einige durchwachsene Eindrücke gewinnen. In mir hat sich die Überzeugung verfestigt, dass die #digitaleKirche das Problem an der Wurzel nicht tief genug anpackt. Die Geisteshaltung gegenüber der Digitalisierung wird zuvorderst in der Organisation und Ausstattung der Verwaltung offenbar – nicht in ihrem Umgang mit den Sozialen Medien.

Allzu häufig fordert die #digitaleKirche von Pfarrer:innen mindestens implizit ein Engagement, das dem physischen und psychischen Workload einige Schippen oben draufpackt. Wo soll da die Muße für einen Geisteswandel entstehen, der die digitale Welt als Raum von Möglichkeiten erschließt? Wo soll hier der Platz für das sein, was Pfarrer:innen als „das Eigentliche“ ihrer Arbeit beschreiben und zugeschrieben bekommen. Stattdessen werden sie mit immer weiteren Anforderungen und Erwartungshaltungen konfrontiert, die im Wochenplan einfach keinen Platz finden.

Dabei bietet gerade die #digitaleKirche das Potenzial, für eine effizientere Verwaltung einzutreten und damit Platz für das Eigentliche zu schaffen. An dieser Stelle kann digitalen Abstinenzler:innen die neue Welt in geeigneterer Weise schmackhaft gemacht werden als durch die immer wieder neueingekleideten Diskussionen um die Geist- und Heilswirkung von Telegottesdiensten und Fernsakramenten.

Im Zuge der zahlreichen Beiträge zur pastoralen Verfasstheit der Kirche während der Coronasituation mahnte der Systematiker Lukas Ohly mit Blick ins Netz eine Katholisierung der Glaubenspraxis an.

So gerne ich das von Ohly geschliffene Kantholz in den letzten Wochen im Privaten meinen Gesprächspartner*innen in die Speichen geworfen habe, ist diese Perspektive doch symptomatisch für einen zu engen Blickwinkel auf das unmittelbar Sichtbare. Es geht um Reichweite, Likes und Views, einen zeitlichen Return on Investment und vor allem um die Frage, wie viel von der reformatorischen Lehre dem Fortschritt anheimfällt.

Nicht unbedingt bei Ohly, aber bei vielen anderen Gelegenheiten hat sich im kirchlichen Diskursraum ein Fetisch der fleischlichen Begegnung herausgebildet. Körperliche Nähe wird gleichgesetzt mit Unmittelbarkeit, Authentizität und emotionaler Nähe. Alles Handeln muss sich daran messen wie „nah am Menschen“ Kirche ist – wobei „nah“ hier sehr eng gefasst wird. Die fleischliche Begegnung gilt als Archetyp der kirchlichen Kommunikation und umso weiter (durchaus im geografischen Sinne) sich die Pfarrperson entfernt, desto weniger Qualität wird einer Beziehung beigemessen. Technisch vermittelte Kommunikation kann zur völligen Entfremdung des Menschen gereichen. Handlungen, die sich nicht in vermeintlich unmittelbaren, fleischlichen Begegnung, vollziehen lassen, gelten als unvollständig oder Notlösungen. Man könnte meinen, die fleischliche Begegnung sei alleine sich selbst genüge.

Berüchtigte Zitate von Kirchenvertreter:innen aus den letzten Jahren, die den Geist dieses Fetisch der fleischlichen Begegnung atmeten, riefen jeweils erwartbar heftige Reaktionen der #digitalenKirche hervor. Das digitale Wir wartet nur auf die nächste Gelegenheit, „denen da oben“ wieder Bescheid geben zu können. Das gehört zur Identität von #digitaleKirche, wie das Confiteor zum lutherischen Gottesdienst. Die in diesem Ritus gefeierte Kritik ist verständlich. Greift doch der Fetisch der fleischlichen Begegnung die eigene religiöse Identität an.

Meist haben diese Auseinandersetzungen vermutlich nur zum Ergebnis, dass sich jeder seiner Sache ideologisch noch sicherer ist. Dies ist umso mehr der Fall, wenn die Debatten rein theoretischer Natur sind und die Konsequenzen für die kirchliche Praxis kaum Beachtung finden. Dabei zeitigt die Skepsis am Fortschritt und die ideologisierende Kritik an dieser Skepsis durchaus handfeste Probleme. Der Fetisch der fleischlichen Begegnung führt zum vergilbten Röhrenmonitor im Pfarramt. Die überschwängliche Einverleibung alles Neuen überrollt praktische Notwendigkeiten.

Es ist meiner Meinung nach an der Zeit, konstruktiver mit der Institution und ihren Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Die Bürokratie als ein Arbeitsfeld der Kirchen scheint mir aus den genannten Gründen ein geeigneter Ausgangspunkt dafür zu sein.

Jeder Verwaltungsakt für sich genommen stellt aus Sicht der Antragstellerin letztlich keine große Herausforderung dar. Es muss nun mal gemacht werden, was gemacht werden muss. Die Pfarrämter stehen allerdings inmitten der Gesamtheit der Verwaltungstätigkeiten. Zwischen Erwartungen der Gemeindemitglieder, Regelungen des Dekanats und Ansprüchen der Landeskirche.

Der Fetisch der fleischlichen Begegnung verführt zu falschen Prioritäten, ebenso wie der Drang einer Digitalisierung der Kirche, das Digitale nachgerade als Selbstzweck erscheinen lässt. Das Eigentliche fällt in beiden hinten runter oder geht im Rauschen des organisierenden Geschäfts unter. Das sperrige graue Kästchen – die Schreibmaschine im Pfarramt, deren Farbband noch nicht ausgetrocknet ist, steht mahnend im Raum: War sie einst ein Indiz für den Fortschritt, der mit einem Effizienzversprechen Einzug gehalten hat, steht sie nun als Objekt gewordener Anachronismus dem Eigentlichen im Weg wie es einst die Feder im Tintenfass tat. Den Verkündigungsauftrag ernst zu nehmen, bedeutet nicht nur, auf dem Pfad des Bekenntnisses zu wandeln. Den Verkündigungsauftrag nimmt man vor allem dadurch ernst, dass ihm Zeit eingeräumt wird. Ein kleiner Baustein dabei ist, Taufurkunden nicht mehr an der Schreibmaschine ausfüllen zu müssen.  Eine moderne, effiziente Verwaltung auf allen Ebenen ist dazu ein wichtiger, wenngleich auch nicht so sichtbarer Schritt. Die damit einhergehenden Entlastungen schaffen neuen Raum fürs Eigentliche, wobei die Frage nach online oder doch fleischlich dann sekundär wird.

[Titelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2010-07-27_IBM_Selectric_Kugelkopfschreibmaschine.JPG, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)

Rezension zu: Kristin Merle, „Religion in der Öffentlichkeit“

von Claudia Kühner-Graßmann

Merle, Kristin: Religion in der Öffentlichkeit. Digitalisierung als Herausforderung für kirchliche Kommunikationskulturen (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, Bd. 22), Berlin/Boston 2019.

Der Titel des Buches ist verheißungsvoll. Endlich beschäftigt sich mal jemand praktisch-theologisch so ausführlich mit der Digitalisierung! Und das mit dem selbstbewussten Anspruch, „einen theologischen Beitrag zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten über Mediatisierung und einen neuerlichen ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ zu leisten“ (24).

Die Habilitationsschrift der Hamburger Praktischen Theologin, die in Tübingen entstanden ist, will dabei zugleich „einen Beitrag zur Integration von Methoden der Online-Forschung […] in das Methodenensemble theologisch-empirischer Religionsforschung“ (24) leisten. Dem kommt die Studie auch nach.

Ausgangspunkt ist die These, dass Religion kommunikativ verfasst und Kirche auf Öffentlichkeit bezogen ist. Hier zeigt sich schon ein erstes Ensemble an Anfragen, denn diese These ist zwar nicht falsch, aber sie wird letztlich gesetzt. Auch der Überschritt von Religion zu Kirche wird nicht näher ausgeführt. Obgleich Merle mit Kirche in der Regel „die empirische Kirche als sozial verfasste Größe“ (2, Anm. 4) meint, schillert der Kirchenbegriff in der Studie leider zwischen normativer Abgrenzungsfolie und einer empirischen Verwendungsweise. Deutlich wird, dass der Kirchenbegriff eingebettet ist in ein Religionsverständnis, das insbesondere in Kapitel 3 dargelegt wird.

Doch davor skizziert Merle in Kapitel 2 einen neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit unter dem Mantel der Digitalisierung. Dass sie dabei Habermas’ bekannte Thesen zugrunde legt, bringt gewisse – von der Autorin freilich bemerkte – Schwierigkeiten mit sich, da die eigentlich empirische Studie damit das Vorverständnis einer ideengeschichtlich-soziologischen Analyse übernimmt. Dieses Kapitel ist dennoch so dicht wie informativ und absolut lesenswert! Merle erläutert hier nicht nur ihre These vom neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit, sondern unterzieht diesen Begriff einer umfassenden Analyse. Es läuft darauf hinaus, in der partizipativen, netzartigen und interaktiven Kommunikation, die das Internet ermöglicht, sowohl einen Strukturwandel der Öffentlichkeit als auch einen subjektiven Bedeutungswandel von Partizipation festzuhalten. Das Internet vereine verschiedene Öffentlichkeitsebenen, deren Grenzen dabei zugleich durchlässiger werden. Öffentlichkeit wird dabei als intermediäre Struktur mit Netzwerkcharakter gesehen, als „gesellschaftlicher Aushandlungsprozess“ (26). Dem Anspruch nach bewegt sich Merle dabei auf der Ebene der empirischen Darstellung von Öffentlichkeit. Normative Aspekte des Begriffs sollen weniger beachtet werden, wobei die Frage offen bleiben muss., ob sie nicht doch unter der Hand mitgeführt werden.

Kapitel 3 legt den Fokus auf den Zusammenhang von religiöser Kommunikation und Digitalisierung. In einem ersten Teil beschreibt Merle die Struktur digitaler Kommunikation näher. Für die flüchtige Weise der Kommunikation im Internet entwickelt sie den Begriff der „passageren Kommunikation“ (vgl. 145), der von da an als ein zentrales Schlagwort fungiert. Für den Fortgang der Argumentation ist wichtig, dass von der Entwicklung hin zu einer „Kultur der Digitalität“ ausgegangen wird, in der wiederum – wie beim Öffentlichkeitsbegriff – Aushandlungsprozessen eine wichtige Rolle zukommt.

Der zweite Abschnitt des Kapitels befasst sich mit „Transformationen von Religiosität in der Gegenwart“. Stichworte dieser Transformation des Religiösen sind Individualisierung, Pluralisierung und Synkretisierung, Popularisierung und Spiritualisierung, Eventisierung. Dieser Abschnitt ist eher überraschungsarm, ist man mit den Thesen des Kreises um Wilhelm Gräb und Birgit Weyel bereits vertraut. Zudem referiert Merle religionssoziologische Thesen, die in der Debatte ebenfalls nicht ganz unbekannt sind (Luckmann, Knoblauch). Wie vor diesem Hintergrund zu erwarten ist, läuft die Entwicklung auf eine Krise der Institutionen hinaus, weil die Verbindlichkeit von Religiosität abnimmt, weil es eine Konkurrenzsituation im Bereich der Religion gibt etc. Für den weiteren Verlauf sind hier wiederum vor allem zwei Aspekte von Interesse: zunächst die Grundbewegung des Transzendierens, die mit Luckmann und Knoblauch erläutert wird. Hier etabliert Merle das Konzept einer „transzendierungsoffenen Kommunikation“, unter der sie Kommunikation versteht, „die mittels des Gebrauchs von Zeichen und Symbolen als eine solche erkennbar wird, in der der Eine eine Bereitschaft signalisiert, durch die Kommunikation mit dem Anderen in einen kommunikativen Austausch involviert zu werden, der gegebebenfalls den eigenen Standpunkt beziehungsweise die die eigene Perspektive auf etwas verändert. Anders ausgedrückt: Die Auseinandersetzung mit dem Anderen, die mich selbst involviert, führt in eine Bewegung des Transzendierens hinein, deren Ausgang noch offen ist“ (184). Wichtig ist, dass Transzendenzerfahrungen vom Alltag ausgehen. Zweitens erläutert Merle den Aspekt der Mediatisierung von Religion und Religiosität, denn die Entgrenzung der Kommunikation führe zu einer Sichtbarkeit der Religion, die wiederum in vielen Fällen auch „Entprivatisierung“ bedeute (203). „Religion ist öffentliche Religion geworden“ (ebd.) – allerdings auf nicht-institutioneller Ebene, so die These. Die Grundperspektive bleibt dabei gebunden an die individuelle Religiosität des Einzelnen, und von da aus wird – als unpersönlich-allgemeines Gegenüber – die in der Kirche institutionalisierte Religion betrachtet und bewertet.

Kapitel 3 endet mit einem Abschnitt zur Resonanz. Merle nimmt dabei die Theorie Hartmut Rosas auf und ergänzt sie mit Martin Altmeyer, der der digitalen Kommunikation, anders als Rosa, eine positive Funktion zugesteht. Neben der Resonanzaffinität religiöser Kommunikation ist Merle wichtig hervorzuheben, dass digitale Kommunikation selbst wiederum transzendierungsoffen und resonanzaffin sei. Ihr Stichwort ist die „resonanzsensible Kommunikation“ (216). Merle geht dabei nicht vom Inhalt der Kommunikation, sondern von der Form aus, in der sich eine „religiöse Grundhaltung“ ausdrücke, „als mit der transformatorischen Kraft eines antwortenden Gegenübers gerechnet wird“ (217, H.i.O.). Diese Grundhaltung wiederum sei eine Voraussetzung für Erfahrungen der Resonanz.

Das geht am Ende fast schon zu gut auf. Nach der Lektüre dieses Kapitels bleiben bei der Rezensentin viele Fragen offen, die vor allem die Validität und Belastbarkeit der verwendeten Theorien betrifft.

Kapitel 4 bildet schließlich den empirischen Hauptteil der Arbeit. Merle untersucht hier gesteuerte Onlinekonversationen, um diese nach ihrem religiösen Gehalt – vor dem Hintergrund des in Kapitel 3 entwickelten formalen Religionsbegriffs – zu befragen. Sie hat sich dabei für die Kommentare unter Artikel zur Sterbehilfe entschieden. Das praktisch-theologische Interesse liegt darin, Konsequenzen für kirchliche Kommunikationskulturen aufzuzeigen und zugleich auch Methoden der Online-Forschung in die praktische Theologie zu integrieren. Ihre Methode beschreibt sie als qualitative Inhaltsanalyse der Erhebung und Auswertung. So ausführlich und aufschlussreich die Analyse ist, zu der Merle auch noch christliche Blogs zum Thema Sterbehilfe hinzuzieht – eine Vorannahme mag der Rezensentin nicht einleuchten: Der individuellen Religiosität wird „die“ Kirche gegenübergestellt. Kirche fungiert quasi als Gegenbegriff zu freier Religiosität. Wobei hier eine genauere Klärung, was darunter zu verstehen ist, sehr hilfreich gewesen wäre. Der Verdacht liegt nahe: Die Suche nach „kirchlichen“ Argumentationsmustern in den Onlinekommentaren muss schon deswegen erfolglos sein, weil Merle darunter primär die kirchenleitenden Positionierungen in Form von Denkschriften oder Äußerungen des EKD-Ratsvorsitzenden versteht. Polemisch-überspitzt gefragt: Hat sie wirklich erwartet, dass sich diese Positionen direkt als Argument und Autorität in den untersuchten Onlinekommentaren finden? Umfasst Kirche nicht mehr Akteure als die Kirchenleitung? Unter diesen Voraussetzungen wundert es fast kaum, dass die Untersuchung ergibt, dass „kirchliche“ Argumentationsmuster keine Rolle spielen (vgl. 304). Interessant ist zwar, dass es auch keinen Bezug in abgrenzender Funktion auf diese kirchlichen Positionen gibt. Allerdings bleibt weiter die Frage offen, inwiefern diese von Merle zugrunde gelegten Positionen überhaupt rezipiert werden, welchen Stellenwert diese Schriften und Äußerungen überhaupt haben? Welcher Stellenwert dagegen könnte der Kirche und ihren Institutionen als Diskursraum zukommen, der zur Bildung von Positionen beiträgt, ohne die Teilnehmer zugleich auf normierende Äußerungen der Kirchenleitung zu verpflichten? Merle ist zuzugestehen, dass sich hier gravierende methodische Schwierigkeiten anmelden und die Einschränkung auf explizit-kirchliche Stellungnahmen nahe liegt, doch bleibt die Erkenntnis so eben begrenzt.

Das Kapitel endet mit der Feststellung: „Die gesellschaftliche wie kirchliche Herausforderung besteht darin, Räume für Deliberationsprozesse zu öffnen, die unterschiedliche Meinungen (und Frömmigkeiten) in einen produktiven Austausch miteinander bringen“ (378, H.i.O.). Dem ist gerade hinsichtlich der genannten Anfragen voll zuzustimmen.

Kapitel 5 „Kirche und Öffentlichkeit: die medialen Transformationsprozesse und die Kommunikationskulturen der Kirche“ schließt an die bisherigen Thesen an und beginnt mit einer Zusammenschau der bisherigen Ergebnisse. Diese verweisen so auf die Frage, worin die Effekte der Digitalisierung für die kirchliche Kommunikation besteht. Merle legt einen dynamischen Begriff von Öffentlichkeit zugrunde und konstatiert: Kirche „kommuniziert auf Öffentlichkeit hin, vernetzt sich mit konkreten Öffentlichkeiten und schafft durch ihr kommunikativen [sic!] Handeln selbst Öffentlichkeiten“ (382). Der erste Abschnitt führt auf eine Untersuchung der Public Relations hin als Beziehungsgestaltung zwischen Organisation und Netzwerköffentlichkeit. Dies führt sich im zweiten Abschnitt zu einer Aufzählung von Anforderungen an (Volks)Kirche und christlicher Publizistik. Übergreifend kann man sagen, dass Kirche sich Netzstrukturen anverwandeln soll. Aber außer dem Hinweis, dass diese Kommunikation als spontane und persönliche, unkontrolliert und dezentral stattfinden soll, finden sich wenige konkrete Ausführungen (Stichworte wie Community-Building und Community-Management, Online-Monitoring, Crowdsourcing und Audience Engagement, Datenschutz und Datensouveränität fallen). Es bleibt für die Rezensentin die Frage, wie sich diese Anforderungen am Besten mit der Eigenlogik der Kirche und ihrer Kommunikation, die es ja durchaus gibt, vereinbaren lassen. Aber das wären wohl Überlegungen, die über die vorliegende Studie hinausgehen.

In einem zweiten Abschnitt geht Merle auf die Pluralität der Volkskirche und ihre Öffentlichkeitsrelevanz ein. Dabei arbeitet sie mit Pohl-Patalongs und Hauschildts Bild der Kirche als Hybrid. Die sicherlich richtigen Anliegen, Kirche auch jenseits von Institution und Organisation zu begreifen sowie die individuelle religiöse Erfahrung ernst zu nehmen, werden durch eine unterschwellige Polemik gegen „die“ Kirche untermauert. Hierbei ist aber erneut zu fragen, was eigentlich unter Kirche verstanden wird. Gegen was wird sich konkret abgegrenzt? Wessen pfarrherrlicher Kirchenbegriff steht denn im Hintergrund der Kritik? Die Idee, Volkskirche als „Konzeptbegriff in praktisch-ekklesiologischer Perspektive“ (413) zu entfalten, die durchaus interessant ist, steht ohne eine theologische Klärung ebenfalls etwas unvermittelt im Raum. Auch das Konzept intermediärer Konzeptionen wird eher angedeutet. Was schade ist, denn die Punkte, die Merle nennt, sind durchaus verheißungsvoll: Kirche selbst sollte intermediär werden, womit sie dann dem Partizipationsbedürfnis der Menschen entspräche. Diese Aspekte sind interessant, werden aber rein als empirische Anforderungen mit normativen Implikationen für die Kirche kommuniziert. Interessant wäre eine Auseinandersetzung mit theologischen Aspekten, die aus der Eigenlogik des protestantischen Kirchenverständnisses selbst erwachsen.

Zum Schluss von Kapitel 5 beschäftig sich Merle dann noch mit der Strömung der Gegenwartstheologie, die sich unter dem Begriff der sog. Öffentlichen Theologie sammelt. Nach einer Darstellung stellt sie drei Anfragen an die Öffentliche Theologie: Wer ist das Subjekt dieser Theologie? Wie könnte Öffentliche Theologie unter einem gesteigerten Pluralismus und einer religiös-weltanschaulichen Selbstbestimmung der Subjekte zu fassen sein? Und wie kann auf das Problem der Bedingung öffentlicher Artikulation von Positionen im weiteren Sinne rekurriert werden? Hier sind sicher zentrale Anfragen formuliert.

Das Buch endet mit einem Kurzen Epilog (Kapitel 6), in dem Merle den Bogen der Studie nochmals erläutert. Dieser ist eindrucksvoll – doch bleibt bei der Rezensentin am Ende die Frage, in welchem Verhältnis die ausführliche sozialwissenschaftliche Analyse zur dezidiert theologischen Reflexion steht. Ist eine solche überhaupt noch vorgesehen? Ja, hier wird ein Punkt berührt, der über dieses Buch hinausgeht: inwieweit ist Praktische Theologie Theologie? Allein durch die Arbeit an einem gewissen Gegenstand, etwa christlich-religiöser Kommunikation? Oder auch durch ihre Methode? Und ist Praktische Theologie am Ende die Anwältin einer von ihr erhobenen Empirie gegenüber Theologie und Kirche? Wünschenswert wäre doch ein Gespräch zwischen dem, was empirisch erhoben wird und dem, was dazu theologisch zu sagen ist. Die vorliegende Studie neigt dazu, sich an einem polemisch verzeichneten Kirchenbegriff abzuarbeiten, der wohl nicht völlig falsch ist, aber doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Anspruch einer solchen empirischen Untersuchung steht.

Nichtsdestotrotz bietet die Studie viele interessante Aspekte dar, die zum Nachdenken anregen. Und das wäre zu hoffen: dass die Ergebnisse zum kirchlichen Diskurs über die Öffentlichkeitspräsenz unter den Bedingungen der Digitalisierung beitragen, Und dass dieser Diskurs sich auch durch wissenschaftliche, nicht zuletzt empirisch und soziologisch fundierte Sichtweisen irritieren lässt. Wünschenswert wären auf Grundlage dieser Studie weitere theologische Beiträge zu diesem Thema, die das Verhältnis von Kirche und digitaler Öffentlichkeit noch einmal von der anderen Seite aus in den Blick nehmen. Anknüpfungspunkte gibt es, das zeigt Merles Buch, ja genügend.

Unsere Eindrücke vom #bckirche Süd

Koordiniert und zusammengestellt von @andy_h_krumm(Felix Weise).
Mit Beiträgen von: @leiseleben, @FunforTimo, @mein_kla4 und @megadakka

Felix (@andy_h_krumm): Zuerst einmal: Was ist eigentlich ein barcamp?

Wer das schon weiß, kann diesen Abschnitt ja einfach mal überspringen. Ein barcamp ist eine Art Konferenz, die maßgeblich von den Teilnehmenden mitbestimmt wird. In diesem Fall hatten die Landeskirchen in Baden, Bayern und Würrttemberg eingeladen und weder Kosten und Mühen gescheut, um eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Die Anmeldung war kostenfrei, nur um eine Übernachtung musste man sich selbst kümmern. Daneben wurde man hervorragend verpflegt. Kaffee und Brezeln, Bier, Saft, Limonade rund um die Uhr, sowie Mahlzeiten. Und die Räume! Das ganze fand nämlich im wizemann space statt. An der Kleinschreibung erkennt man schon: ein ganz schön hipper Ort. Aber in dem Fall: irgendwie auch ein Ort mit einer tollen Atmosphäre. In diesem Rahmen war es allen Teilnehmenden freigestellt, über das Wochenende irgendwas um die 100 Leute (keine Gewähr für die Zahlen), sessions anzubieten. Eine session kann ganz unterschiedlich sein: Ein vorbereiteter Vortrag, die Vorstellung einer App oder eines Instagram-Konzepts oder einfach das Angebot in einer kleinen Runde eine bestimmte Fragestellung zu diskutieren. Am Anfang des barcamps wird gesammelt, wer welche session anbieten möchte, erhoben, wie viele Leute noch an so einer session interessiert sind und dann ein  Zeitplan erstellt, wann wo welche session stattfindet.

Dann ging es also los. Die Auswahl an Veranstaltungen war fast größer als das Vorlesungsverzeichnis einer guten theologischen Fakultät. Es gab unglaublich viele versierte Menschen, die etwas zum Thema Kirche und Internet zu sagen hatten. Ein paar Blitzlicher findet ihr hier.

Alina (@leiseleben): Hatespeech macht uns nicht mehr sprachlos!

Schätzungsweise 30 Teilnehmende tauschen sich in der Session „Hatespeech macht mich sprachlos“ über Hasskommentare aus. Meist handelt es sich bei Hatespeech um sexistische, rassistische oder antisemitische Nachrichten oder Aufrufe zur Gewalt. Diese richten sich oft gegen einzelne Menschen oder Menschengruppen. In der Session, die von @CBoruttau initiiert und durchgeführt worden ist, wird der Umgang mit Hasskommentaren thematisiert.

Viele Teilnehmende haben die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass das Melden von Hasskommentaren bei Social Media Plattformen meist folgenlos bleibt. Auf der Suche nach Reaktionsmöglichkeiten kamen die Teilnehmenden zu folgenden Ergebnissen:

Ein Weg, gegen massive Hatespeech vorzugehen, ist eine Anzeige bei der Polizei. Hatespeech kann ein Straftatbestand sein (Volksverhetzung § 130 StGB, Bedrohung § 241 StGB oder Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 111 StGB) und Hater*innen können juristisch belangt werden. @ChBreit rät, am besten Screenshots von den Hasskommentaren zu machen, da diese vor Gericht als Beweismittel verwendet werden können.

Die meisten Teilnehmenden befürworten die Faustregel „Don’t feed the troll!“. Sinngemäß bedeutet das: Diskutiere nicht mit Trollen*. Es kostet Kraft, mit Trollen* und Hater*innen zu diskutieren und: Es ist sinnlos, da die Personen hinter den Hasskommentaren meist ohnehin kein Interesse an konstruktivem Austausch haben. @pfarr_mensch empfiehlt, auf einen Hasskommentar zum Beispiel mit Bildern von süßen Kätzchen zu antworten. Alternativ ginge auch das Jesus-liebt-Hater-GIF.

Ein außergewöhnlicher Tipp kommt von @ChBreit. Wenn man bestimmte Schriftzeichen schreibt, „verlängert“ sich der eigene Kommentar so, dass er die darunter stehende Nachricht überlagert und man jene nicht mehr lesen kann. So könne man Hasskommentare gewissermaßen durch Überschreiben unsichtbar machen.

Insgesamt war die Session für mich sehr lehrreich. Ich habe praktische Tipps mitgenommen – und den Vorsatz, auf Hasskommentare in Zukunft entsprechend zu reagieren.

Felix (@andy_h_krumm): Apps und Nerds

Gleich mehrere sessions gab es zu Apps, die für den Kirchenkontext entwickelt werden oder wurden. Die Stadtjugend in Ludwigshafen arbeitet gerade z.B. an einer App, über die die Jugendarbeit organisiert werden soll. Die App bündelt Terminkalender der Ludwigshafener Jugend, bietet einen eigenen Messenger und beinhaltet ein Spielearchiv. Die Gestaltung ist recht konservativ, dafür so konzipiert, dass sie von anderen Jugendwerken mit wenig großem Aufwand übernommen werden könnte. Aber, und die Frage stellte sich wohl bei jeder von der Kirche entwickelten Platform, wer nutzt das? Ist es realistisch, dass Konfis sich auf einen Messenger, der weit hinter WhatsApp zurücksteht, einlassen und hierüber Kommunikation untereinander und mit dem Jugendwerk entsteht? Im Fall der Evangelischen Jugend Ludwigshafen, so Stadtjugendpfarrerin Florentine Zimmermann (Instagram: @blueten_segen), kam der Wunsch nach Kommunikation und Terminplanung über eine eigene App von den Jugendmitarbeitenden. Und bei der Anzahl der Apps, die man installiert und später wieder löscht, ist zumindest die Hürde, eine EJL-App zu installieren, wohl eher gering. Es fragt sich nur, wie lange sie auf dem Handy bleibt. Im Verlauf des Gesprächs wurde neben der Rückfrage zum Umgang mit Pushnachrichten (werden sie weggelassen, um als Kirche nicht Suchtfaktoren zu unterstützen?), auch nachgefragt, inwiefern ein Nebeneinander von recht ähnlichen Angeboten nicht ressourcenraubend ist. Könnte nicht eine viel stärker aufgestellte App entwickelt werden, wenn sich Projekte wie die EJL-App, communi und KonApp zusammen tun.

Die Apps unterscheiden sich alle ein wenig in ihrem genauen Anwendungsfeld und auch im Funkionsumfang, dennoch bleibt die Frage, warum nicht mehr Kooperation und Bündelung der Kräfte möglich ist. Fallen wir Protestant*innen in der digitalen Welt unserer Freiheitsliebe und dem evangelischen Pluralismus zum Opfer?

Die Frage ist vermutlich noch grundsätzlicher zu stellen. Momentan versuchen viele Projekte noch, an vielen Punkten erfolgreiche Apps zu kopieren und eine kirchliche, sichere Version anzubieten. Die Budgets sind, wenn vorhanden, nicht besonders hoch, das Problem liegt aber eben viel grundlegender: Dort wo die Kirche versucht nachzumachen, was es schon gibt, kann sie meines Erachtens nur verlieren. Darum stechen für mich Projekte wie cantico (keine Ahnung wie erfolgreich die App ist) positiv heraus, weil hier kreativ eine eigene Idee entwickelt wurde. Cantico bietet ein Liederverzeichnis mit Audiodateien zu verschiedensten Gesangbüchern, so dass man auch als wenig musikalisch-praktischer veranlagter Mensch Handwerkszeug hat, um neue Lieder mit Hörproben schnell zu erlernen. Hier wurde nicht einfach eine App mit sehr viel niedrigeren Mitteln als die Großkonzerne zur Verfügung haben, versucht nachzumachen. Mehr Zusammenarbeit, mehr Innovation, und: Krass, wieviel es auch schon gibt, das waren die Eindrücke die vom Barcamp in Bezugs auf Kirchen-Apps mitnahm.

Ein Beispiel, wie man vorhandene Ressourcen im digitalen Bereich für die Kirche nutzbar machen kann bot Steffen Banhardt. Er stellte ein Skript im Textsatzprogramm LaTeX vor, mit der er quasi alle liturgischen Anlässe bestreitet. Seine Skript war für LaTeX-Anfänger wie mich: eine kleine Offenbarung. Es beinhaltete Funktionen wie das automatische Einsetzen von Wochenspruch und Predigttext oder das Einbinden von Liedern in die Gottesdienstvorlage über eine riesige Liederdatenbank. Ade, stundenlanges Formatieren von Liedblättern, weil man das Lied nicht richtig eingebunden bekommt, oder die Überschrift des Gottesdienstabschnitts einfach nicht über den Zeilenumbruch hinaus springen will. Das macht alles LaTeX. Mit Steffens Skript ist jeder Gottesdienstablauf eine Augenweide und er meinte, dass man nach einer etwas zeitintensiveren Einarbeitung, diese Zeit gut wieder reinholt. Diese LaTeX-Lösung ist vermutlich trotzdem ein Bereich der digitalen Kirche, der nur für wenige Menschen fruchtbar sein wird. Trotzdem hat es mir gezeigt, dass Kirche gerade im Bereich von Open-Source-Projekten, wo selbst mitentwickelt werden kann, großes Potential hat. Ein Teilnehmer formulierte: Die Kirche muss endlich aufhören, alles selbst machen zu wollen. Warum investiert sich nicht viel Geld in Open-Source-Projekte, die für die kirchliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Hier könnte wirklich Innovation entstehen und die Kirche als ressourcenreicher Player ein wichtiger Akteur werden. Die Partizipativität und Transparenz von Open-Source-Projekten ist darüberhinaus im höchsten Maße anschlussfähig für die Kirche und die christliche Botschaft. Priestertum aller Getauften. Programmierertum aller User.

Timo (@FunforTimo): Pfarrer*innen auf Instagram

Die letzte Session des BC 2019 in Stuttgart behandelte die Frage was Pfarrer*innen in sozialen Netzwerken machen. Die Instagram-Influencer Jörg Niesner (@wasistdermensch) und Nicolai Opifanti (@pfarrerausplastik) stellten ihre Arbeit vor.

Opifanti verwies auf die milieuspezifische Nutzung der sozialen Netzwerke. Name und Gestaltung des Accounts habe Einfluss darauf, wer sich für einen Account interessiert.

Mit dem Account pfarrerausplastik präsentiert und kokettiert er mit seinem Pfarrberuf. Dabei achte er jedoch darauf, sich in natürlichen Alltagssituationen zu präsentieren. Denn so wird er als lebenszugewandter Experte in Sachen Glaubensfragen verstanden. Die Nutzer*innen wenden sich mit ihren Fragen zu Glaubensthemen deshalb an ihn.

Mit der Thematisierung von Social-Media-Pfarrer*innen im kirchlichen Raum besuchen aber zunehmend klassische Kirchenmenschen den Account. Dadurch verändert sich der Charakter der Unterhaltungen, denn die gestellten Fragen werden zunehmend in Kirchensprech gestellt. Das kann nichtkirchlich sozialisierte Menschen abschrecken. Für Opifanti bleibt es jedoch gerade das Ziel über den digitalen Raum mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sonst keinen Zugang zu Kirche finden.

Niesner versteht seinen Account als digitales Pfarrhaus. D.h. dass er auf der Plattform einen Ort bereitstellen möchte, an dem Menschen Fragen zu ihrem Glauben stellen können. Zudem gibt er persönliche Einblicke in seinen Alltag. Die Einblicke sind also persönlich, haben aber nicht den Anspruch, das private Leben gläsern darzustellen. Vielmehr bilden sie einen ausgewählten Ausschnitt ab. Das Amt an sich weckt laut Niesner nicht das Interesse der Besucher*innen. Vielmehr entsteht Neugierde durch die dargestellte und gelebte Verbindung von Person und Amt. Vielleicht ist es die Pragmatik und Anwendbarkeit des Glaubens die für die Nutzer*innen entscheidend ist?

Seelsorgeangebote finden über die Plattform nicht statt, aber nicht weil kein Bedarf wäre, sondern weil im Gegenteil die Anfragen dafür einfach zu zahlreich sind. Allerdings verweist Niesner immer wieder auf die Plattform Tellonym. Hier gibt es die Möglichkeit Fragen zu stellen, die, sobald diese beantwortet werden, für alle öffentlich einsehbar sind. Damit entsteht online ein Ort, an dem lebenspraktische Glaubensfragen eine Antwort finden können.

Zudem stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und ablehnenden Kommentaren im Netz: Die beiden Influencer beobachten, dass sie mit deutlich weniger Ablehnung im Netz zu kämpfen haben, als ihre weiblichen Influencerkolleginnen. Als Ursachen wurde zum einen die unterschiedlichen Themensetzung genannt. Zum anderen scheint es leider noch immer so zu sein, dass Frauen im Pfarramt polarisieren und teilweise abgelehnt werden.

Abschließend wurde deutlich, dass auch die kirchlichen Strukturen für die Herausforderungen im digitalen Raum weiterentwickelt werden müssen. Denn viele Fragen die die Arbeit der Pfarrer*innen online betroffen sind noch zu klären: Wieviel Zeit steht im Arbeitsalltag für Onlineangebote zur Verfügung? Soll es so etwas wie Onlinepfarrer*innen geben? Müssen die Betreiber*Innen von kirchlichen Kanälen ordiniert sein?

Jacob (@mein_kla4): Jesus treffen auf dem Barcamp

Zu meinen persönlichen Highlights auf dem Barcamp Kirche Online gehörte der Gottesdienst im jesustreff am Sonntagmorgen. Der jesustreff ist eine Gemeinde in Stuttgart, die zur Evangelischen Landeskirche gehört. Die Gottesdienste finden in einer Konzerthalle statt, mit entsprechender Licht- und Tontechnik. Das macht schon erst mal ordentlich Eindruck, wenn man reinkommt. Aber die Leute, die da sind, sind auch richtig nett. Weil wir zum ersten Mal da waren, haben wir sogar ein Päckchen Gummibärchen und ein paar Informationsbroschüren bekommen. Bekommt man anderswo ja auch nicht immer, und so weiß man gleich mal, was los ist. Was sonst noch anders ist im jesustreff: Der „Liturg“ heißt hier „Moderator“, die Lieder stammen eher aus den letzten 10 Jahren statt aus den letzten 1000 Jahren und die Leute, die kommen sind jünger als in Gottesdiensten, die in „normalen“ Kirchengebäuden stattfinden.

Aber der Reihe nach.

Der Gottesdienst war von seinem Aufbau her überraschend klassisch: Erst ein Part mit zum Ankommen mit Musik und Eingangsgebet, dann die Predigt und am Ende nochmal Musik, Fürbittengebet und Vaterunser und die Abkündigungen. Von daher hab ich mich ganz gut zurechtgefunden.

Die Lieder wurden von einer vierköpfigen Band mit solider Besetzung – Bass, E-Gitarre, Sänger mit Lead-Gitarre, Schlagzeug – begleitet, alle sahen sehr hipsterig aus. Und der Sänger war ein Bilderbuch-Singer-Songwriter, verstrubbelte Haare, verträumter Blick. Später erfuhr ich, dass sein Name Jonnes ist und dass man seine Songs auch bei Spotify anhören kann – kann man schon mal reinhören. Bei den Liedern wurden die gesungenen Strophen oft mehrmals wiederholt. War etwas ungewohnt, aber beim vierten Mal hab ich dann wenigstens mal drauf geachtet, was ich da so gesungen hab. Das war sehr erfrischend. Zwischen den Liedern hat der Sänger oft auch mal spontan gebetet. Bei so was kommt bei mir immer nicht so viel rum, aber ich hab eh meine Schwierigkeiten mit Gebet.

Der Moderator war ein freundlicher junger Mann, und auch er hat gebetet. Wir waren uns hinterher einig, dass er auch ruhig mal hätte vorher ausformulieren können, was er so beten will. Sonst fehlt irgendwie die Struktur und man weiß als Mitbetende*r gar nicht, wo das hinführen soll. Dass am Ende der Fürbitten das Vaterunser ganz klassisch gebetet wurde, hat mich aber dann doch versöhnt. Es war richtig schön, mit all diesen Menschen in der Konzerthalle zu stehen und diese Worte gemeinsam zu beten.

Und dann die Predigt: Zu Gast war Prälatin Gabriele Arnold. Eine Prälatin ist ein ziemlich hohes Tier in einer evangelischen Landeskirche, sie steht knapp unter dem Landesbischof. Vielleicht kommt Frank-Otfried ja auch mal zum jesustreff. Aber eigentlich kann man auch Frau Arnold gerne wieder einladen: Sie hat sehr erfrischend gepredigt, feministisch, klug – und am Ende hat sie den Text aus der Lutherbibel vorgelesen. Auch das hätte ich in einem Gottesdienst, der unter bunten Scheinwerfern stattfindet, gar nicht erwartet.

Der jesustreff in Verbindung mit dem Barcamp hat mir gezeigt, dass in der Kirche vieles möglich ist – wenn man den Menschen ihren Raum gibt, Neues auszuprobieren. Und das hat mich auf jeden Fall ermutigt. Der jesustreff sucht ab 2020 auch eine*n neue*n Pastor*in. In der Stellenbeschreibung steht, dass sie sich jemanden wünschen, der gnadenzentriert predigt: Das möchte ich mir als Vorsatz für mein eigenes Dasein als Pfarrer merken – egal ob in einer Gemeinde wie dem jesustreff oder woanders.

Niklas (@megadakka): Ändert die Digitalisierung unsere Vorstellung von Christentum. Reflexionen im Anschluss an das Barcamp Kirche.

Von Thomas Kuhn, dem Wissenschaftstheoretiker, gibt es den Begriff des Paradigmenwechsels. Im Bezug auf die Wissenschaftstheorie heißt das zunächst mal so viel wie, dass wissenschaftliche Konzepte auf Rahmenmodelle angewiesen sind. Nur innerhalb dieser funktionieren sie. Wenn sich das Rahmenmodell wechselt, dann spricht man eben von einem Paradigmenwechsel. Konzepte innerhalb des einen Rahmenmodells sind inkommensurabel, also in gewisser Weise unvereinbar, zum anderen.

Der Begriff des Paradigmenwechsels ist mittlerweile auch außerhalb der Wissenschaftstheorie zu finden und hat zum Beispiel seinen Ort im Nachdenken über Gesellschaft und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Spricht man da allerdings von einem Paradigmenwechsel, dann ist das deutlich niederschwelliger. Im Endeffekt bedeutet der Begriff im normalen Sprachgebrauch nicht viel mehr als: Da ändert sich was und ich muss nochmal stärker drüber nachdenken, was das soll.

Szenenwechsel: Mitte November fand in Stuttgart das Barcamp Kirche Süddeutschland statt. Dort trafen sich Menschen, die irgendwie den Kirchen verbunden (Pfarrer*innen, Vikar*innen, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Datenschützer*innen, aber auch Ehrenamtliche und Interessierte) und gleichzeitig am Phänomen der Digitalisierung interessiert sind. Kurz: Es war ein Treffen der sogenannten „Digitalen Kirche“.

Beim exzellent organsierten Treffen (leider habe in den Freitag verpasst und rede deshalb vor allem von den selbstorganisierten Workshops) ging es dann vornehmlich um Themen, die in der Digitalisierung ein Werkzeug, in den neuen Kommunikationsmitteln ein Medium sehen. Da waren sehr aufschlussreiche und interessante Dinge dabei, vom Einsatz von LaTeX im Pfarramt, über Konfi-Apps bis zur Frage nach der Bedeutung von Instagram im Pfarramt. Auch die Frage danach, inwieweit Digitale Kirche ein Ort sein kann, der an die analoge Kirche heranführt, wurde diskutiert. Kurzum: Es war deutlich und klar, dass die Digitalisierung Dinge ändert, neue Möglichkeiten bietet und diese diskutiert werden müssen.

Um es mit dem oben eingeführten nochmal zu beschreiben: Wenn von einem Paradigmenwechsel die Rede sein kann, dann wurde vor allem die alltagssprachliche Dimension debattiert: Irgendwas ändert sich und man muss drüber nachdenken, wie es in unser Verständnis des Christlichen zu integrieren ist. Doch hat der Begriff des Paradigmenwechsels eben auch eine zweite Ebene. Diese wurde in Stuttgart nur am Rande angeschnitten, wäre aber wahrscheinlich auf einem zukünftigen Barcamp nochmal intensiver zu beleuchten. Denn möglicherweise ändert die Digitalisierung nicht nur etwas an der Art und Weise der Kommunikation der Botschaft, sondern stellt grundsätzlichere Fragen. Fragen nach der passenden Übersetzung christlichen Glaubens ins 21. Jahrhundert oder auch Fragen danach, inwiefern die zentralen Inhalte überhaupt Geltung beanspruchen kann. Was bedeutet Gottes Vorsehung und Allwissenheit unter den Bedingungen präzise prognostizierender Algorithmen? Was heißt Rechtfertigung des Sünders im Hinblick auf die Selbstkonstruktion unterschiedlicher Persönlichkeiten in den sozialen Netzen? Wie kann es eine Gemeinschaft der Heiligen geben ohne analoge Zusammenkunft?

Diese Fragen sind nicht mehr auf der Ebene des zu suchen, auf der es um das Nachdenken über neue Formen der Vermittlung geht. Sie gehen tiefer: Es geht darum, dass Digitaliserung, wie vorher wahrscheinlich die Reformation und die Aufklärung eine „Umformungskrise“ des Christentums hervorrufen wird, der man sich stellen muss. Dies ist eine Aufgabe der akademischen Theologie, aber genauso auch eine der Personen, die sich in der Praxis mit den Fragen des Glaubens im Netz beschäftigen. Dafür ist hoffentlich im kommenden Barcamp Süd ein Ort, dann vielleicht auch in einem Slot von uns.

#digitaleKirche

Ein Kommentar

von Michael Greder

Unter dem Hashtag #digitaleKirche hat sich ausgehend von einem kleinen Artikel Hannes Leitleins in einer Ausgabe der Christ&Welt eine Diskussion um die Zukunft der Kirche entwickelt. Ich finde das großartig. Bisher habe ich mich aus dieser Debatte herausgehalten und mich auf den Zaun gesetzt, um zu beobachten, wie sich die Angelegenheit formiert. Obwohl schon einiges geschrieben wurde und der Hashtag weiterhin fleißig auf Twitter Beiträge kennzeichnet, lässt er mich etwas ratlos zurück.

Der Blogger Sascha Lobo meinte einmal, dass die produktive Kraft von Twitterdebatten darin bestehe, auf Grund der gebotenen Kürze den Kern selbiger unnachgiebig freizulegen. Diese These kann ich von meinem Zaunpfahl aus in Bezug auf #digitaleKirche kaum bestätigen. Aus diesem Grund möchte ich einen sicherlich völlig unvollständigen Vorschlag machen, die Terminologie der Debatte zu ordnen und damit hoffentlich den Blick zu schärfen. Mir geht es dabei nicht in allen Punkten um eine Zustimmung zu dem Dargestellten. Für mich ist die Diskussion noch völlig offen und ich habe selbst noch keine starke Meinung dazu.

Bisher erkenne ich fünf Bereiche in denen #digitaleKirche eine Rolle spielt: Die persuasive Kommunikation (Mission), die Kommunikation als Selbszweck (allgemeines Priestertum), die damit verbundene Repräsentanz des Christentums in der Öffentlichkeit (Relevanz), die theologische Bearbeitung des digitalen Wandels und die Verwaltung. Auf die ersten beiden Dimensionen möchte ich im Folgenden eingehen und vorher noch auf zwei grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Debattenbeiträge eingehen

Zwei Gemeinsamkeiten

Die oberflächliche Gemeinsamkeit der Debattenbeiträge besteht in der banalen Feststellung, dass digitale Kirche (noch) irgendetwas mit Bildschirmen zu tun hat. Nicht mehr und nicht weniger. Dieser Umstand führt dazu, dass sehr unterschiedliche Anliegen unter dem Schlagwort verhandelt werden. Die Reichweite erstreckt sich von Twitterandachten über Spendenverwaltungssoftware bis hin zu dienstrechtlichen Fragen wie z.B. nach einer Onlinepflicht für Pfarrerinnen. Für eine grobe Einsortierung taugt diese Beobachtung. Geht es ins Detail, kann sie aber für Verwirrung sorgen. Im schlimmsten Fall wird #digitaleKirche dann zu einem Gefälligkeitsbegriff, der coole und super angesagte Flyer, Plakate und Broschüren schmücken darf, weil er glattgeschliffen genug ist, dass sich niemand mehr an seinem kritischen Potenzial stoßen kann.

Darüber hinaus verbirgt sich hinter dem Hashtag die These, dass der gegenwärtige Zustand der Kirche mindestens suboptimal ist: Immer mehr Menschen treten aus, oder schlimmer noch: sie sterben, ohne dass genug junge Menschen nachkommen. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz. Nicht nur im politischen Geschehen, sondern auch im Alltag. Wer glaubt, muss sich erklären. Die Rechtfertigung allein aus Gnaden wird zu einer Dauerrechtfertigung vor der Familie, Freunden, Bekannten und nicht selten auch vor Fremden, sofern man sich als Christ zu erkennen gibt. Das nervt. Christen schweigen vermehrt in der Öffentlichkeit über Glaubensfragen. Religion gehört mehr und mehr zum Peinlichkeits- und Schamrepertoire der Privatsphäre. Die verfasste Kirche tut dabei nicht nur zu wenig, sondern sogar das Falsche. Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

#digitaleMission

Damit landen wir auch schon bei der ersten Dimension mit der ich #digitaleKirche differenzieren will:

Ein zentrales Anliegen besteht in der digitalen Mission. Die #digitaleMission unterteilt sich wiederum in eine innere und eine äußere Mission.

Im Inneren geht es um das, was man inzwischen klassischerweise als Mitgliederbindung oder institutionstheoretisch als Pflege des „staying in“ bezeichnen könnte. Vor allem junge Menschen, die irgendwie im entferntesten noch etwas mit der Kirche am Hut haben, sollen erreicht werden. Sie sollen sich einerseits wohlbehalten fühlen und müssen dafür andererseits mit den Kommunikationsmitteln ihrer Generation angesprochen werden.

Bei der äußeren Mission geht es darum, Menschen zu erreichen, die mit der Kirche und vielleicht auch mit Glaube und Religion in ihrem persönlichen Alltag nichts mehr zu tun haben.

In beiden Bereichen fungiert Kommunikation als Mittel zum Zweck. Die Sprache der Mission verfolgt das Ziel, Menschen von der eigenen Haltung zu überzeugen und aus Sicht der verfassten Kirche auch an sich zu binden. Sie ist hochgradig persuasiv. Das wird in unseren Gefilden oft geleugnetIch möchte das an dieser Stelle nicht bewerten, aber komme nicht umhin anzufügen, dass man sich dies bewusstmachen sollte.

#PriestertumallerProsumenten[1]

Eine zweite Dimension spricht die theologische Auseinandersetzung direkter an. Sie handelt von der Kommunikation als Selbstzweck: Das allgemeine Priestertum. Leitlein hat diesen Aspekt als protestantischen Leitgedanken im Umgang mit den neuen Medien der Debatte eingeschrieben. Die Formel lautet Buchdruck+Reformation+Internet=Erneuerung. #digitaleKirche zeigt sich hierbei als eine typisch protestantische Bewegung: „Ad fontes“ lautet das Mantra und die Granden der Kirche werden an dem Fundament gepackt, dessen Bewahrung sie eigentlich versprechen.

Das allgemeine Priestertum als ultimativer Grund für Forderungen und zum Teil auch Grausamkeiten aller Art, hat in der Reformation schon für Irritation gesorgt. Nun möchte ich keinesfalls unterstellen, dass eine Gruppe von Digitalistinnen und Digitalisiten mit gezücktem Smartphone in der Hand und Daumen im Anschlag gen Münster zieht, um der sittlichen Verwirklichung des Reich Gottes in einem letzten großen Shitstorm nachzuhelfen. Ich möchte auf die einseitige Verwendung des allgemeinen Priestertums aufmerksam machen. In erster Linie handelt das allgemeine Priestertum nicht von der Kommunikation der Gläubigen untereinander und auch nur vermittelt von kirchlichen Organisationsformen, sondern von der persönlichen Beziehung zu Gott. Die Funktion des Priesters als Mittler zwischen Gott und der Welt kann von jeder und jedem selbst ausgelebt werden. Das betrifft neben der persönlichen Gottesbeziehung auch die theologische Urteilsbildung.

Im #PriestertumallerProsumenten mag man nun, wie Leitlein, das technische Potenzial einer absoluten weltlichen Verwirklichung des darin liegenden Gleichheitsanspruchs erblicken.

Das Anliegen in der digitalen Kirche die Verwirklichung eines urprotestantischen Versprechens zu erkennen, hat einiges für sich. So fordert auch Philipp Greifenstein in einem Blogpost von der Kirche: „Sie muss die Passwörter für die Kirchenaccounts demokratisieren.“ Damit würden Machtstrukturen gebrochen. Ein so gelebtes #PriestertumallerProsumenten ermögliche „[o]ffene Diskussionen“ und „freie Teilhabe“.

Die bloße Behauptung von absoluter Gleichheit und damit verbundener freier Teilhabe entspricht aber keinesfalls ihrer praktischen Verwirklichung. Der Ruf nach absoluter Gleichheit und Freiheit sorgte in der Geschichte schon häufig genug dafür, dass die Vorredner am Ende wieder gleicher waren als die Allgemeinheit. Denn die Behauptung besserer Gleichheit verdeckt neu entstehende Strukturen.

Im modernen Kampf um Anerkennung und der Aufmerksamkeitsökonomie kuratierter Identitäten ist es nicht nur Zufall, wer in der neuen Kommunikationslandschaft Gehör findet und wer nicht.

(By the way: Wie Leitlein, Wikipedia als Paradebeispiel für die Gleichheit der Kommunikation im Internet heranzuziehen halte ich für sehr sportlich.)

#digitaleKirche verliert ihr kritisches Potenzial, wenn es ihr nicht gelingt die eigenen Strukturen der Einflussnahme und die neuen Hierarchien des Netzes offenzulegen. Das Leugnen von Macht stärkt die Mächtigen. Wir können im innerkirchlichen Bereich doch nicht wieder einmal hinter die Diskussionen und Erkenntnisse der letzten Jahre zurückfallen und später behaupten wir wären die Erfinderinnen des Rads.

 

Michael Greder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“

 

Das Beitragsbild zeigt den Supercomputer „MareNostrum“, der in einer ehemaligen Kapelle untergebracht ist. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/MareNostrum)

[1]Anmerkung der Redaktion: Prosument (engl. Prosumer) ist ein Kunstwort und bezeichnet (v.a. im Digitalen) Personen, die gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sind. Zu denken ist dabei zunächst (aber eben nicht nur) an soziale Netzwerke.

Wie wir die Digitalisierung angehen!

Genau nach dem Plan, den ich dir von der Wohnung

und ihrem ganzen Gerät zeige, sollt ihr’s machen.“

(Ex 25,9)

Ein Beitrag zu #DigitaleKirche von Tobias Graßmann (@luthvind).

Letzte Woche hat Hannes Leitlein einen viel beachteten Text geschrieben, in dem er die evangelischen Kirchen an ihre reformatorischen Wurzeln erinnert. Ausgehend davon wirft er den Kirchen mangelnde Offenheit für die Chancen von Digitalisierung und sozialen Medien vor. Niklas Schleicher hat an diesem Ort bereits einige theologische Anfragen an diesen Text geäußert. Dieser Weg soll hier nicht weiter beschritten werden.

Ich bin der Meinung: Das Problem ist jetzt doch auf dem Tisch. Wir haben genug Appelle gehört. Die Ermunterungen, neben der Realität doch auch die digitale Welt und ihre mysteriösen Bewohner der kirchlichen Verkündigungstätigkeit zu unterwerfen. Die kritischen Einwände, bitte endlich die leidige Unterscheidung von „realer“ und „digitaler“ Welt aufzugeben – und, ach, letztere bitte nicht nur als Missionsgebiet zu beackern, sondern als Raum für echte Begegnungen wahr- und ernstzunehmen. Der Weg von der Absichtserklärung hin zu konkreten Maßnahmen wurde, während ich noch an diesem Text sitze, schon von den Jugenddelegierten der EKD beschritten.

Um das Ganze noch ein Stück weiter zu treiben, nun ein kleines Gedankenexperiment:

Nehmen wir einmal an, bei mir klingelt das Telefon. „Herr Graßmann? Hier spricht Frau Sowienoch aus dem Landeskirchenamt. Der Landesbischof möchte mit Ihnen sprechen. Er hat da letztens diesen Text von einem Zeit-Journalisten gelesen und war tief erschüttert. Er meint, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Bayern muss das mit der Digitalisierung jetzt echt einmal konsequent angehen! Wir brauchen wen, der für den Landeskirchenrat eine passende Strategie für digitale Entwicklung ausarbeitet. Und da sind wir beim googeln halt irgendwie auf Sie gekommen… (Gedankenexperiment!)“ Und, wie ich halt so bin, sage ich: „Natürlich, ich könnte gleich morgen in der Katharina-von-Bora-Straße vorbeikommen. Ich hab da zufällig schon was auf der Festplatte.“

Wie sähe der Plan aus, mit dem ich in den ICE steige?

1. Einrichtung einer „Abteilung G: Internet“ im Landeskirchenamt

Als erstes richten wir eine neue Abteilung im Landeskirchenamt ein! (Natürlich ohne Oberkirchenrat an der Spitze, um das Gleichgewicht von Kirchenkreisen und Abteilungen innerhalb des Landeskirchenrats nicht zu gefährden…)

Diese Abteilung G: Internet hat den Auftrag, die Präsenz der Landeskirche im Internet neu zu konzipieren und konsequent weiterzuentwickeln, zu administrieren, zu moderieren und mit theologisch gehaltvollem Content zu füllen. Konkret wäre zunächst an informative und katechetische Angebote zu denken, eine Berichterstattung über Kirchen- und Religionspolitik, regelmäßige Updates für die Kirchenleitung bezüglich relevanter Diskurse in den sozialen Medien sowie eine niederschwellige Ansprechbarkeit durch gut gepflegte Accounts. Die Liste lässt sich natürlich erweitern. Was definitiv nicht zu den Aufgaben dieser Abteilung gehören wird, sind Fortbildungen und die Betreuung der Gemeinden in technischen Fragen – dafür sind eigene Stellen zu schaffen oder externe Spezialisten hinzuzuziehen.

Dazu erhält die Abteilung eine passende Personalausstattung, ich denke an zunächst einmal elf volle Stellen. Fünf davon sollten mit theologisch oder religionspädagogisch ausgebildeten Amtsträgern besetzt sein, fünf mit Informatikern1, Webdesignern oder Spezialisten aus anderen einschlägigen Berufen. Die letzte Stelle wird besetzt von einem Juristen mit besonderer Qualifikation in Urheberrechts- und Datenschutzfragen. Zwei dieser Stellen könnten auch erst einmal Praktikumsplätze sein. Die Stellen sind (wie bei Entsendungen in Partnerkirchen) auf maximal sechs Jahre, besser drei Jahre mit Möglichkeit einer Verlängerung um drei Jahre beschränkt. Gerade in diesem Feld wäre es fatal, wenn eine in der Kirche oft beobachtete Entwicklung einsetzt: Leute richten sich auf ihren Stellen ein und verweigern die nötigen Lernprozesse, um mit den Entwicklungen des Feldes Schritt zu halten.

An die Spitze der Abteilung stellen wir gleichberechtigt einen der Theologen, einen der Informatiker sowie den Juristen. Was die Entscheidungsfindung betrifft, schwanke ich, ob Grundsatzentscheidungen im Konsens gefasst werden müssen oder man lediglich ein Vetorecht bei schweren Bedenken einräumen sollte. Das können wir ja noch diskutieren!

Die nötigen Stellen könnten an anderer Stelle der Landeskirche problemlos eingespart werden. Ich hätte da unmittelbar einige Vorschläge – die ich an dieser Stelle freilich (noch) nicht äußere, damit die Debatte nicht in die falsche Richtung abdriftet. Die Personalkosten wären also neutral. Ich bin kein Spezialist, aber meine: Für die technische Ausstattung sollte zunächst der Preis einer mittelgroßen Orgel ausreichen. Räume stellt das Landeskirchenamt in München zur Verfügung. Man könnte diese Abteilung – das ist ja das Tolle an der Digitalisierung – zwar problemlos auch in Rummelsberg oder Neuendettelsau oder sonst wo ansiedeln. Aber eigentlich mag ich den Gedanken, dass die Informatiker und Webdesignerinnen durch das Landeskirchenamt schlurfen und über Techie-Kram reden…

2. Verpflichtende Fortbildung für alle Pfarrerinnen und Pfarrer

Für die zukünftigen Pfarrergenerationen wird das Thema Internet und Digitalisierung fest in die Ausbildung im Predigerseminar integriert, wobei das Thema eher kontinuierlich mitlaufen sollte, als in einer eigenen Kurswoche behandelt zu werden.

Zusätzlich werden alle derzeitigen Amtsträger der ELKB für eine fünftägige verpflichtende Fortbildung einberufen. Das bisherige Format der Aufklärung hat sich nämlich nicht bewährt: Man lädt sich als Gemeinde oder Pfarrkapitel aus aktuellem Anlass einen mit der Internetarbeit betrauten Spezialisten ein. Der hält einem dann in eineinhalb Stunden einen launigen Vortrag, argumentiert nach Kräften gegen die sogleich geäußerten Bedenken an, preist die Vorzüge des Internets, all das angereichert mit vielen Screenshots, Cliparts und anglophonen Nerdjokes. Der bleibende Eindruck bei großen Teilen der Pfarrerschaft: „Krass, dieses Internet! Da lass ich besser die Finger von!“ Aufklärung braucht Zeit und das Internet will erkundet werden.

(Trotzdem gilt natürlich: Daumen hoch für Christoph Breit und all die anderen Männer und Frauen auf dem verlorenen Posten!)

Am ersten Tag steht aber erst einmal Entmythologisierung an: Es ist mitnichten so, dass mit Einrichtung eines Twitteraccounts die NSA automatisch Zugriff auf meine Mikrowelle erhält. Es ist kaum zu befürchten, dass einem auf Facebook unvermittelt Drogen, Kindersklaven und Kriegswaffen angeboten werden. All der Seemannsgarn von Datenkraken und Darknet eben, der besonders von Leuten gesponnen wird, die es für unsittlich halten, ein anderes Betriebssystem als Windows XP zu nutzen. Wir sind im Internet nicht irgendwelchen finsteren Algorithmen ausgeliefert, sondern primär als kritische Individuen gefragt.

Der Tag zwei dreht sich dann um Netiquette. Eigentlich sollte es reichen, folgende Faustregel einzubläuen: Im Internet sind neben mehr oder weniger witzigen Spambots vor allem Menschen unterwegs. Deshalb ist im Internet all das nicht ok, was auch ansonsten im Umgang mit Menschen tabu ist. Hetzen, Stalken, Mobben, krumme Geschäfte oder das Herumzeigen von Penisbildern würde man im Umgang miteinander gewöhnlich nicht dulden. Also auch im Internet: Lasst es bleiben! Nicht, dass ich diesbezüglich in der Pfarrerschaft ein großes Problem vermute, aber sicher ist sicher. Mit dieser Faustregel kann man Pfarrerinnen und Pfarrer getrost auf die Netzwelt loslassen. Und ja, das Mäßigungsgebot bezüglich politischer Äußerungen gilt auch im Internet.

Der Tag drei dient dazu, grundlegende Internetanwendungen (Internettelefonie, Kalender), nützliche Apps (nicht nur die Bahn-App), die wichtigsten sozialen Netzwerke (Facebook, Twitter) und nicht zuletzt kirchliche Angebote im Netz vorzustellen und gemeinsam zu erkunden.

Am vierten Tag bekommt jede und jeder die Aufgabe, zumindest ein Projekt im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu planen, umzusetzen und einen Monat weiterzubetreiben. Man könnte eine Page zusammenbasteln, einen Blog einrichten, Predigten streamen, Links zu einem Thema zusammentreiben, eine Gruppe in einem sozialen Netzwerk gründen usw. Danach gibt man sich wechselseitig Feedback, wertschätzend und bestärkend natürlich! Wir wollen ja keine Trolle ausbilden.

Am letzten Tag, wenn ein Großteil der unfreiwilligen Teilnehmer dann wider Willen ein bisschen Blut geleckt hat, kann man noch einmal ein paar rechtliche Details zu Datenschutz und Urheberrecht erläutern. Dann geht es wieder zurück in die Gemeinden. Der Erfolg wird nicht ausbleiben!

3. Änderung im Pfarrerdienstrecht: Internetpräsenzpflicht

In einem dritten Schritt fügen wir an geeigneter Stelle die folgenden Paragraphen ins Pfarrerdienstrecht ein:

(1) Pfarrerinnen und Pfarrer sind grundsätzlich verpflichtet, eine Präsenz in den sozialen Medien zu unterhalten und diese angemessen zu pflegen.

(2) Sie sind gehalten, in den sozialen Medien als Amtsträger erkennbar und für Fragen des christlichen Glaubens ansprechbar zu sein.

Dabei geht es natürlich nicht darum, diese „Pflicht“ zu kontrollieren und streng durchzusetzen. Der Kenner sieht auch gleich die faktische Einschränkung zu einer Soll-Bestimmung.

Das Ziel ist vielmehr, die Begründungslast umzukehren: Ich muss als guter Pfarrer vor niemandem rechtfertigen, dass ich mir einen Account in einem sozialen Netzwerk einrichte. Vielmehr muss ich vor meiner Gemeinde und meinen Vorgesetzten begründen, wenn ich mich prinzipiell aus dem Internet fern halte.

In der Logik des Pfarrerdienstrechts ist dies einfach die konsequente Fortführung der Residenzpflicht. Denn – unabhängig von der leidigen Pfarrhausthematik – hinter dieser verbirgt sich ja nicht einfach der Wille zur Schikane, sondern die tiefere Absicht, den Pfarrer zum lebensweltlichen Miteinander mit seinen Gemeindegliedern zu zwingen. Diese Pflicht muss heute selbstverständlich auch auf das Internet ausgedehnt werden, da dieses schließlich ebenso selbstverständlich zum Leben vieler Menschen gehört wie der Gang zum Friseur oder zum Bäcker an der Ecke.

Zu erwarten ist natürlich, dass sich die Pfarrerschaft über die zusätzliche Pflicht beklagt. Aber mal unter uns: Dann sollen die Kollegen sich halt an anderer Stelle eine Entlastung gönnen, eine ihrer angestammten Aufgaben abgeben oder zumindest herunterfahren! Welche das sein könnte, sollten sie selbst am Besten entscheiden können. Schließlich sind wir alle erwachsene, selbstverantwortliche Menschen …

Ein Wort noch zu der Ausgestaltung dieser Dienstpflicht: Die Landeskirche muss unbedingt Abstand von der aktuell empfohlenen Praxis der Dienstprofile nehmen. Das Resultat solcher „Vikarin Soundso“ und „Pfarrer Sowienoch“-Accounts ist, dass die sozialen Medien mit unspannenden Zombies bevölkert werden, denen selbst Kirchenvorstände nur widerwillig folgen. Wieso auch, wenn nur der Inhalt des (analogen) Gemeindebriefs und hin und wieder ein Blumenfoto aus dem Pfarrgarten gepostet wird? Was die Menschen interessiert, sind Personen mit Klarnamen und aus Fleisch und Blut, die auf ihren Glauben und ihre Kirchenzugehörigkeit ansprechbar sind, aber sich auch mal in anderen Debatten und banalen Alltagsfragen äußern, vielleicht sogar mit ihrer Meinung angreifbar machen.

Das soll natürlich nicht heißen, dass ein Zweitaccount nicht in manchen Fällen legitim wäre. Wer als Pfarrer weiterhin freizügige Fotos posten oder irgendwelchen bizarren Hobbies nachgehen will, ist mit einem Pseudonym gut bedient. Nur sollte eben der Pfarrdienst integriert in das allgemeine Leben sein, nicht das bizarre Hobby unter Gleichgesinnten, für das man sich einen Spezialaccount gönnt. Verstehen Sie meinen Punkt?

4. Langzeitziele

Tobias Jammerthal hat mich zu Recht darauf hingewiesen, dass die hier vorgeschlagenen Maßnahmen konsequenterweise in einem nächsten Schritt auch auf andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgedehnt werden sollten. Dem stimme ich zu. Diese Vorschläge sind daher auch nur als erste Schritte hin zu einer umfassenden Vision von Kirche im Netz zu betrachten.

Wie sieht diese Vision aus? Es ist die einer Kirche, die sich im Internet ansprechend, professionell und ihrer Botschaft gemäß präsentiert. Eine Kirche, die einerseits als Institution über vielfältige qualitativ hochwertige Angebote verfügt, die aber andererseits von vielen Einzelpersonen – Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen, Sympathisanten – getragen wird, die ihre jeweiligen Gaben einbringen und so ihren Glauben an Jesus Christus im Netz bezeugen.

Beides ist vielfältig vernetzt: So teilen Interessierte vielleicht eine kirchenoffizielle Bekanntmachung, welche dann in Onlinemedien und Blogartikeln kommentiert wird. Daraufhin entspinnt sich eine Diskussion, die neue Perspektiven, theologische Argumente sowie konkrete Verbesserungsvorschläge zu Tage fördert. Die Ergebnisse dieser Diskussion finden dann über die Internetabteilungen der Landeskirchen ihren Weg zurück in die kirchlichen Leitungsgremien.

Wer weiß, vielleicht wirkt sich dieses Feedback dann sogar auf die Entscheidungen der Kirchenleitung aus? Vielleicht erspart die Digitalisierung ja einmal Denkanstößen den Weg durch die Telefone und Vorzimmer, macht so manche ICE-Fahrt durch die halbe Republik unnötig?

Klingt, bei Lichte besehen, gar nicht so visionär…

Also los, an die Umsetzung! Wir schaffen das!


1 Da es sich hier um eine Skizze handelt und es bei den vielen Berufsbezeichnungen wirklich mühsam zu lesen wäre, verzichte ich auf geschlechtergerechte Sprache. Das bedeutet nicht, dass bei der Besetzung nicht unbedingt auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu achten wäre!

Wandern ohne Stecken und Stab?

Notwendige Anmerkungen zu „Und wie wir wandern im finstern Digital“

von Niklas Schleicher

Ich sitze gerade vor meinem Laptop, und tippe diesen Text. Auf dem zweiten Bildschirm läuft nebenher eine gestreamte Serie. Ich schreibe hier eine Antwort auf einen Text von Hannes Leitlein, der online bei zeit.de (http://www.zeit.de/2017/13/digitalisierung-medien-martin-luther-kirchen-reformation-netz) erschienen ist. Erfahren habe ich von diesem Text per Twitter und mich dann kurz per Telegram mit einem Freund ausgetauscht, ob wir auf nthk.de darauf reagieren sollen. Also auf dem Blog, den ich mitbetreibe. Lange Rede, kurzer Sinn: Auch ich bin mir dem bewusst, dass die digitale Welt bestimmend für unsere Diskurse ist, dass das Internet ein Raum für Kommunikation mit bisher ungekannten Möglichkeiten ist.

Von daher müsste ich Leitlein für diesen Text, der sich wie ein flammendes Plädoyer liest, dass die EKD sich endlich positiv mit der Digitalisierung auseinandersetzt, danken. Ja, möchte man sagen, ja, recht hat er. Der Kommentar von Margot Käßmann bezüglich Facebook und Seelsorge ist wirklich ziemlich peinlich. Und Äußerungen von technologiekritischen Theologen wie z.B. Werner Thiede sind oft auch nicht auf der Höhe der Zeit. Und er trifft auch weitere Punkte, die durchaus richtig sind, die für eine Kirche, die auch in der Gegenwart relevant bleiben will, zu bedenken sind.

Aber, um es etwas pathetisch mit Karl Barth zu formulieren: Nein! So kann das mit der Digitalisierung in der Gesellschaft, aber dann eben auch in Theologie und Kirche nun auch wieder nicht sein.

Der Gedankengang Leitleins ist, soweit ich das richtig interpretiere, folgender: Die digitale Revolution ist analog zu sehen zum Buchdruck und stellt einen tiefgreifenden Wandel unseres Kommunikationsverhaltens dar. Luther hat damals den Buchdruck für seine Reformation nutzen können und wurde erst durch diesen bekannt. Die evangelische Kirche, die sich in seiner Nachfolge sieht, sollte deshalb auch die Digitalisierung würdigen und mit ihr gehen, zumal die Kommunikation im Internet eine Form darstellt, die Ureigenes des Protestantismus zur Geltung bringt. Sie ist nämlich eine Form von Kommunikation, die das Dialogische, das Gespräch miteinander in den Fokus stellt. So entspricht sie dem Priestertum aller1. Von daher lösen sich im Digitalen dann auch Dinge wie geistiges Eigentum und so weiter auf und „Vielfalt, Beziehungen, Netzwerke, Interaktionen und Solidaritäten“ stehen im Vordergrund2. Kritisiert wird dann auch die Art der Internetkommunikation, wie sie z.B. der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm betreibt, da diese noch ganz im Analogen verhaftet bleibt, in dem Sinne, dass Bedford-Strohm zwar viel auf Facebook postet, aber auf Kommentare nicht antwortet3. Die digitale Welt jedenfalls ist etwas, das theologisch gedeutet werden will, über das und mit dem die Kirche gesprächsfähig werden muss. Es gibt freilich schwierige Seiten, z.B. Datenschutz und Barrieren des Zugangs4, aber im Großen und Ganzen eröffnet das Internet eine große Chance für den Menschen. Diese besteht nicht zuletzt darin, die institutionellen Schranken der verfassten Kirche durch eine fluide christliche Community zu ersetzen.

Soweit in aller Kürze das Narrativ, dass ich aus verschiedenen Gründen nicht teile. Ich will nur drei Punkte nennen, an denen zumindest weiterzudenken wäre.

Zum ersten muss man sich nochmal die Interpretation des Priestertums aller Gläubigen näher anschauen, das hier (nicht ganz zu Unrecht) als Kernstück der Reformation bezeichnet wird und das sich anscheinend in der digitalen Welt erst vollends verwirklichen soll. Nun meint das Priestertum aller Gläubigen zunächst folgendes: Es gibt für die Würdigkeit des Christen in Bezug auf sein Gottesverhältnis keinen Unterschied zwischen Priestern, Bischöfen und Mönchen und den Laien. Jeder getaufte Christ hat direkten Zugang zu Gott, kann sich Gott im Gebet nähern und braucht keine Vermittlung durch Geweihte, Priester oder Heilige5. Aber: Für die öffentliche Verkündigung des Evangeliums, also dafür, dass Leute auch die Christusbotschaft hören können, die bei Menschen den Glauben wecken kann, bestimmt die Kirche Ämter. Diese Ämter beinhalten keinen Unterschied in der Würdigkeit, sondern beschreiben Funktionen. Die Amtsträger verkünden das Evangelium öffentlich. Dies sieht Luther übrigens schon recht früh, als Lektüre sei hier z.B. die Adelschrift empfohlen. Aus dem Priestertum aller Gläubigen zu schließen, dass im Internet jeder Christ gleichermaßen zur öffentlichen Verkündigung berufen ist, wäre genauso falsch, wie zu folgern, dass es im Priestertum aller Gläubigen um die Beziehung der Menschen zueinander geht. Dass Leitlein in dieser ganzen Passage zur Reformation ohne irgendeine Idee zum Gottesbezug auskommt, ist wenigstens als sportlich zu bezeichnen.

Zum zweiten wird hier etwas übersehen, dass meine Generation immer wieder gerne übersieht. Das Leben im Digitalen ist für viele selbstverständlich geworden, macht aber auch einigen Menschen Angst und überfordert andere. Die Kirche besteht eben nicht nur aus den jungen 15-40 jährigen, die fordern, dass endlich wieder alles neu werden soll. Einen großen Teil der wirklich Treuen machen eben diejenigen aus, für die das Abrufen einer Mail oder ein Skypekontakt mit dem Enkel schon das Höchste der Gefühle ist. Es ist irritierend, dass diese Menschen in Leitleins Vision von Kirche gar keine Rolle mehr spielen und offensichtlich längst abgeschrieben sind. Hinzu kommt: Nicht nur Menschen dieser Generation bevorzugen eben im Sonntagsgottesdienst eine Predigt, die von der Kanzel vorgetragen wird, und kein digitales Happening in der Twitter-Sphäre. Die digitale Avantgarde überschätzt notorisch ihr eigenes zahlenmäßiges Gewicht, Stichwort: Filterbubble. Gerade die Gottesdienste an Lebensübergängen werden noch immer gerne in Anspruch genommen. Hier ist nun aber die Ritualkompetenz und Verkündigungserfahrung von Spezialisten gefragt. Denn bei aller Liebe: Meine Hochzeit hätte ich nicht gerne im freien Gespräch mit der Gemeinde im Internet gestaltet. Da gehört die gelehrte und emphatische Auslegung des Trauspruches genauso dazu wie der Segen und der Ringetausch vor der im Analogen versammelten Gemeinde. Noch deutlicher wird das Ganze bei Beerdigungen. Bei aller Möglichkeit von Online-Kondolenz-Büchern ist doch hier das analoge Ritual m.M.n. kaum zu ersetzen6.

Und drittens: Wenn wir die digitale Welt theologisch deuten wollen, dann bitte ordentlich. Dann muss man notwendigerweise die Unterscheidung zwischen Schöpfung und Fall machen und darauf hinweisen, dass auch die Person, die digital unterwegs ist, immer simul iustus et peccator bleibt. Die digitale Welt bleibt genauso wie die analoge zwiespältig, es wird dort gute Dinge geben, aber es gibt dort auch schlechte. Mit Bonhoeffer gesprochen: Auch die neue, digitale Welt bleibt im Vorletzten, die digitale Welt der neuen Kirche bleibt immer noch die sichtbare Kirche und wird nicht plötzlich als Ganzes zu derjenigen, die die Dogmatik als unsichtbare Kirche, mithin als Reich Gottes bezeichnet. Es wird also auch in der digitalen Kirche Strukturen geben müssen, die ein gewisses Maß an Ordnung und Verlässlichkeit sichern. Man muss das dann nicht Hierarchie oder Lehramt nennen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass in der digitalen Welt nicht viele Probleme analoger Kirche wiederkehren, meinetwegen in gewandelter Form.

Nochmal zurück zu Luther: Freilich nutzte er die neuen Medien, den Buchdruck für die Verbreitung seiner Reformation. Aber er hatte auch andere Äußerlichkeiten auf seiner Seite: Die politischen Verhältnisse im Reich und gewisse aufstrebende Schichten. Und trotz dieser Äußerlichkeiten brauchte es eben dennoch so jemanden wie Luther (oder Zwingli oder Bucer) der die treibenden Ideen hatte. Auch im Internet entstehen Ideen nicht qua Offenbarung ins Nichts. Und welche Kirche genau „Luther verdient“ hat, entscheidet zum Glück kein Redakteur der Zeit.

Die Digitalisierung ist von Seiten der Kirche als Faktum anzunehmen, kreativ mitzugestalten und keinesfalls kulturpessimistisch zu verteufeln. Aber ob wir die Digitalisierung für die Möglichkeit feiern wollen, die verfasste Kirche mit ihren spezialisierten Ämtern abzuräumen und durch eine Cloud fluider Cybersekten zu ersetzen?

Mit Luthers Bibelübersetzung gesprochen: Das sei ferne!

1Das bei Leitlein nicht vom Priestertum aller Gläubigen bzw. aller Getaufen die Rede ist, könnte ein Flüchtigkeitsfehler sein. Bestimmt meint er „aller Gläubigen“. Oder?

2Hier bin ich persönlich recht angefressen. Freilich kann jemand die Abschaffung geistigen Eigentums als Gewinn bezeichnen, der Geld für seinen Journalismus bekommt. Wissenschaftliche Theologen, die sich mit ihren Veröffentlichungen und entsprechend auch mit ihrer geistigen Arbeit später eventuell auf Stellen bewerben also solche Leute wie ich, sollte ich einmal nicht den Weg ins Pfarramt einschlagen , sind schon ein bisschen drauf angewiesen, dass mit den von ihnen produzierten Texten nicht einfach als beliebiges Allgemeingut umgegangen wird. Oder aber: Wenn wir schon den Kommunismus fordern, dann bitte richtig!

3Nun muss man allerdings auch zugestehen: Wer sich mal die Kommentare unter manchen Posts von Bedford-Strohm angeschaut hat, kommt vielleicht zu dem Ergebnis dass darauf sachlich zu antworten mehr gute Nerven erfordert, als ein Mensch haben kann.

4Das Barrieren übrigens nicht nur Sehbehinderungen betrifft, sondern auch die Tatsache, dass viele Leute sich Internet bzw. die notwendigen Endgeräte immer noch nicht leisten können, nun, dass kann man schon mal übersehen.

5Kann aber, um diese einfache Gegenüberstellung etwas einzuordnen, auch nicht mehr auf die Fürsprache von Heiligen vor Gott bauen. Jede Person ist vor Gott unvertretbar.

6Mich hat bis jetzt noch kein online-basiertes Ritual oder noch keine Form des Online-GDs auch nur halbwegs überzeugt. Mit Blick auf die absoluten Zahlen dürfte sich die Gruppe derer, die solche Angebote regelmäßig in Anspruch nehmen, als recht begrenzt herausstellen. Und es ist kaum zu erwarten, dass sich das in näherer Zukunft kategorial ändert.

Grundrechte und Digitalisierung – Kritische Anmerkungen zur „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“

von Niklas Schleicher

Ich bin ja nun kein ausgemachter Experte für die digitale Welt und die dazugehörenden ethischen und juristischen Debatten. Das sind aber bei weitem auch nicht alle „Bürger [und Bürgerinnen]“[1], die für die sogenannte „Charta der Digitalen Grundrechte“[2] verantwortlich zeichnen. Freilich: Mit Sascha Lobo und v.a. Frank Rieger gibt es gewichtige Ausnahmen, aber weder Martin Schulz noch Nikolaus Schneider, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind auf diesem Gebiet schon mit wichtigen Schriften oder Statements hervorgetreten.

Und da diese Charta diskutiert werden soll und diskutiert werden kann, versuche ich im Folgenden einige Punkte aufzuzeigen, die für meine Vermutung sprechen, dass diese Charta relativ wenig taugt. Vielleicht muss man auch grundsätzlich die Frage stellen, zu welchem Zweck solch ein Text eigentlich verfasst wird. Mir sind die Notwendigkeit und der Zweck, einen Rechtstext zu verfassen nämlich intuitiv gar nicht so klar, wie es die Verfasser im Vorwort suggerieren.

Die Charta hat den Anspruch, digitale Grundrechte für den Raum der EU zu formulieren. Auch wenn der Text freilich zunächst als Diskussionsgrundlage gedacht ist, ist die Formulierung schon ausgesprochen „fertig“ und steigt damit ein, dass die Union die Grundsätze anerkenne. In 23 Artikeln werden dann Grundrechte formuliert, bzw. bereits geltende Grundrechtsartikel an die neue Situation angepasst,[3] beginnend mit Ausführungen über „Würde“, „Freiheit“ und „Gleichheit“, um von dort aus in Einzelfragen zu gehen. Auch wenn man die Idee gut findet, oder wenigstens, wie ich, der Überzeugung ist, dass Digitalisierung zum ethischen, juristischen oder politischen Diskurs herausfordert: Diese Charta jedenfalls kann allemal ein Anstoß sein und sollte in dieser Form keine Verbindlichkeit erlangen.

Denn: ihre Intention ist fortschrittsfeindlich, ihre Ausführungen schon jetzt veraltet, ihre Stoßrichtung individualistisch, elitär und –im schlechten Sinne – staatstragend, ihre Begrifflichkeiten verwirrend und undeutlich.

Man kann mir z.B. nicht vorwerfen, keine tiefen Sympathien für die Stellung und den Wert des Individuums zu haben[4]. Es ist so auch wichtig, dass die Charta den einzelnen Bürger im digitalen Raum würdigt. Leider vergisst die Charta, dass es, und gerade das zeigt uns doch der digitale Raum deutlich, eben nicht immer die Trias „Einzelner“ – „Unternehmen“ – „Staat“ ist, die Wirkung entfaltet (diese Trias ist übrigens im gesamten Text leitend, von daher sei sie bereits hier genannt). Vielmehr sind es doch gerade auch Kooperationen, also mit irgendeiner Zielvorstellung ausgestatteten Zusammenschlüsse Mehrerer, die in der digitalen Sphäre wirken, und zwar im Guten wie auch im Schlechten. Als Beispiel: Es ist eben nicht der einzelne Twitter-User, der im sogenannten „arabischen Frühling“ relevant war, sondern die teilweise auch im Anonymen bleibende Gruppe von Usern. Das Gleiche lässt sich auch für „Anonymus“ konstatieren. Die Vorstellung, dass eine einzelne, nicht-anonyme Person als Angesprochener dienen kann, verfehlt im Digitalen ihren Sinn. Hier müsste es einen Weg geben, Gruppen noch stärker als Rechtsubjekte zu würdigen. Dass dies schwierig ist, sei unumwunden zugegeben.  Dies verweist aber nur auf ein grundlegenderes Problem.

Dieser Einzelne wiederum ist sehr privilegiert gedacht. Interessant ist ja, dass Gerechtigkeit keine (oder nur eine geringe) Rolle spielt. Es wird zwar eingeräumt, dass Jeder Zugang zur digitalen Welt haben soll (Art 3) und dass Bildung in der digitalen Welt wichtig ist (Art 20), aber dass sich vielleicht mit der Digitalisierung grundsätzlicher Gerechtigkeitsfragen, v.a. bezüglich der Teilhabegerechtigkeit, angeschnitten werden, wird kaum gesehen. Anders formuliert: Der Status quo wird einfach auf die digitale Welt übertragen.

Dies sieht man auch daran, dass in der Trias Staat – Unternehmen – Einzelner dem Staat das Meiste zugemutet werden soll. Der Staat sorgt für den Schutz der Daten des Einzelnen bei Unternehmen, der Staat ist die Garantieinstanz gegen Andere. Ohne falsche historische Vergleiche zu ziehen, bin ich sehr unsicher, ob gerade Staaten immer besonders kompetent oder auch vertrauenswürdig – gerade für Aufgaben des Datenschutzes – zu sein scheinen.

Einige Einzelthemen, die in höchstem Maße fragwürdig erscheinen, sollen noch benannt werden:

Eine gewisse antiliberale Stoßrichtung des Dokuments lässt sich daran ablesen, dass Mobbing direkt unter dem Artikel der Meinungsfreiheit behandelt wird, und zwar in einer höchst interessanten Dialektik (Art.5):

  • Jeder hat das Recht, in der digitalen Welt seine Meinung frei zu äußern. Eine Zensur findet nicht statt.

  • Digitale Hetze, Mobbing sowie Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden, sind zu verhindern.

Fraglich ist hierbei mindestens Zweierlei: Hat der Begriff des Mobbings in einem Grundrechtekatalog überhaupt etwas zu suchen, oder ist seine Intention nicht vielmehr schon unter dem Artikel von der Menschenwürde abgedeckt? Und: Wer bestimmt die Kriterien für Mobbing und wer wendet sie an? Man kommt nicht umhin, an die ganzen Initiativen zu „hate-speech“ zu denken, die eines gemeinsam haben: Sie schießen mit ziemlicher Sicherheit immer meilenweit über ihr Ziel hinaus. Mobbing und digitale Hetze ist, bei allem Verständnis für das dahinterliegende Anliegen, in der letzten Zeit doch meist so definiert worden, dass alles darunterfällt, was dem Konsens des Sagbaren einer gebildeten Mehrheit widerspricht. Da ist meist viel Richtiges dabei. Aber oft sind es ja auch durchaus Stimmen, die wenigstens den Anspruch erheben können, gehört zu werden[5]. Ich will keinen Staat, der über ein justiziables Maß hinaus bestimmt, was Mobbing oder Hatespeech ist. Konträre und auch schmerzhafte Meinungen muss ein liberaler Staat oder eine liberale EU aushalten können. Alles andere ist Zensur.

Ein anderes Zitat (Art. 8):

 Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden.

Das ist in dieser Form sowohl einfach unzutreffend als auch wenig weitsichtig. Erstens: Es ist unzutreffend, weil die meisten Großtheorien der normativen Ethik, nämlich v.a. der Utilitarismus mit all seinen Spielarten und die deontologische Ethik in der Nachfolge Kants mit all ihren analytischen Nachfolgerinnen davon leben, dass sie so formalisierbar sind, dass sie dem Intellekt einleuchtend erscheinen. Anders formuliert: Eine künstliche Intelligenz kann, sollte sie diesen Maßstäben folgen, natürlich ethisch-normative Entscheidungen treffen, die Frage ist nur, welchen Routinen sie zu folgen hat. Die damit verbundene Frage nach der Programmierung solcher Routine ist eher im strafrechtlichen Sinne der Fahrlässigkeit und weniger im ethisch-normativen Sinne zu diskutieren. Und: Natürlich ist der wahrscheinlich gemeinten Intention des Artikels ein gewisses Recht einzuräumen. Diese würde ich nämlich eher so interpretieren, dass nur ein Mensch über die „Weisheit“ im tugendethischen Sinne verfügt, zu entscheiden, was in der angezeigten Situation das richtige Verhalten ist und sich das eben nicht formalisieren lässt. Damit allerdings ist zu einem ethisches Denken aufgerufen, das sich eben nicht als „normativ“ im klassischen Sinne kennzeichnen lässt[6]. Zweitens: In der Konsequenz kann dieser Punkt, bei allem oben angedeuteten Verständnis für die Intention, sogar wichtig werden. Denn es ist ja keineswegs ausgemacht, dass die Entscheidung eines Menschen auch eine moralisch zu rechtfertigende Entscheidung ist. Isaac Asimovs Robotergesetze[7] erscheinen, obwohl sie von einem Science-Fiction Autor stammen und weitaus älter als der gegenwärtige Diskurs sind, viel nützlicher. Hier gibt es nämlich durchaus ein Kriterium, der menschlichen Entscheidungen in der digitalen Welt eine Grenze aufzeigt. Dass so eine Grenze wichtig sein könnte, wird von den hier formulierten Grundrechten schlicht und ergreifend übersehen, bzw. (fast noch schlimmer) naiv an die Regierungen zurücküberwiesen.

Es wären noch weitere Punkte anzumerken, die in dieser Charta wenigstens schwierig sind. So beispielsweise, dass die Grundrechte gegenüber „Privaten“ gelten (Art.1), ein Gedanke, der m.W.n. eigentlich nur indirekt für Grundrechte gilt, zumal dann die Frage ist, welche Instanz Verletzungen verhandelt. Oder: Was soll bitte das sogenannte „Recht auf Nichtwissen“ (Art.2) in einem juristischen Sinne bedeuten?

Es bleibt zu fragen, welchen Zweck die Verfasser und Unterzeichner dieser Charta verfolgen. Ich bin durchaus der Überzeugung, dass die Digitalisierung uns zu einem neuen Nachdenken darüber herausfordern sollte, was die Grundlagen und Normen unseres Zusammenlebens sein sollen und sein können. Aber: Die Umwälzungen gehen viel weiter, als der vorliegende Text irgendwie abdecken kann. Bei aller Liebe für einen gewissen Pragmatismus ist das nötige Wissen – in technischer, aber v.a. auch in ethischer Natur – noch viel zu gering und der darauffolgende Diskurs über Digitalisierung noch weit nicht genug fortgeschritten, um über Grundrechte, vor allem in dieser Form, nachzudenken. Die Charta formuliert bekannte Texte einfach etwas um und ergänzt ein paar Begrifflichkeiten der digitalen Welt und aktuelle Phrasen. Ich sehe die Gefahr, dass sich die sich an dem Text anschließende Debatte vor allem um einzelne Wendungen und Artikel drehen wird und das maximale Ergebnis die Ergänzung einzelner Artikel sein wird[8]. Damit ist wichtige Frage allerdings weder diskutiert noch beantwortet: Ist die digitale Welt mit Mitteln und Normen der „analogen“ Welt überhaupt zu behandeln? Oder anders: Ist die digitale Lebenswelt die gleiche wie die analoge? Und wenn ja (oder nein), warum?

[1] https://digitalcharta.eu/intiatorinnen-und-initiatoren/.

[2] https://digitalcharta.eu/.

[3] Bereits hier ist zu fragen, ob Dinge wie Menschenwürde nicht ohnehin schon in der digitalen Welt gelten sollten und worin der Mehrwert dessen läge, dies noch mal explizit zu formulieren.

[4] Vgl. z.B. https://netzwerktheologie.wordpress.com/2015/09/09/kierkegaards-grabstein-oder-stirner-luther-und-vom-ich-und-wir/.

[5] Vgl. hierfür z.B. die immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen die Kolumne Fischer im Recht auf zeit.de.

[6] Hierzu auch wieder: Vgl. Johannes Fischer. Z.B. Verstehen statt Begründen, Stuttgart 2012.

[7] „1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen (wissentlich[2]) verletzen oder durch Untätigkeit (wissentlich[2]) zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.

  1. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren.
  2. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.“ (nach https://de.wikipedia.org/wiki/Robotergesetze).

[8] Vielleicht wird der Text auch in der EU gar nicht groß wahrgenommen, das ändert allerdings nicht an der zu Grunde liegenden Fragestellung.