Freiheit predigen

Der Reformationstag 2021 in fünf Auslegungen

von Martin Böger, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Niklas Schleicher und Julian Scharpf
(ein Klick auf die Namen springt direkt zur jeweiligen Predigt)

Es ist ruhiger im auf dem Blog des Netzwerkes für Theologie in der Kirche geworden. Wenn wir Texte verfassen, dann höchstens ab und an in der „Eule“. Die Ruhe hat mehrere Gründe, einer ist sicherlich, dass wir mittlerweile an unterschiedlichen Orten tätig sind, die gerade mehr Aufmerksamkeit fordern, sei es Vikariat, Pfarramt oder Assistenz an der Universität.

Anyway, der große Teil von uns ist mehr oder weniger regelmäßig sonntags im Einsatz und predigt. Wie es der Zufall so will, haben fünf (also fast alle der Stammmannschaft) am Reformationstag Gottesdienst gehalten und Galater 5, 1-6 ausgelegt. Luthers Anliegen war zunächst wahrscheinlich ein genuin theologisches. Seine Ideen für die Reform der Kirche stammen aus seinen Reflexionen auf die biblischen Büchern. Auch deshalb erscheint es vielleicht interessant, was unsere Gruppe, die sich ja schon im Titel irgendwie der Rolle von Theologie in der kirchlichen Praxis gegeben hat, aus diesem Text zu diesem Tag macht.

Deshalb hier, zwei Tage nach dem Reformationstag: Predigten vom NThK zu Galater 5, 1-6 oder eben: Freiheit predigen. Es geht mal über Checklisten, mal über Pathos, mal über Luther in Worms, mal über Glaube und Werke, mal über staatliche Ordnungen, aber immer geht es um die Frage, was dieser Paulustext, die Reformation und die Freiheit, die in beiden steckt, uns heute noch bedeuten kann. Mögen die Predigten beispielhaft zeigen, was unterschiedliche Zugänge aus ein und demselben Text holen können und wie sie ihn zum Sprechen bringen. Wir freuen uns auf Rückmeldungen.

                                                                       Niklas Schleicher

Martin Böger: „Reformation als Vergewisserung: Gott will freie Menschen“

(gehalten in der Eberhardskirche Tübingen)

Liebe Gemeinde,

manchmal, ja manchmal überkommt mich ein Durst nach etwas Pathetischem. Und manchmal stille ich diesen Durst mit Gesang von Konstantin Wecker, Hannes Wader – mit Arbeiterliedern. Die Internationale, Auf auf zum Kampf oder auch Bella Ciao, Bella Ciao tönt es dann durch unser Haus und besonders aus der Küche heraus. Ich glaube, was mich an diesen Liedern besonders anspricht, ist deren besonderer Sound, deren Patina. Deren unbändiger, ansteckender Ruf nach Freiheit, nach Veränderung. Der Kampf einer kleinen hartgesottenen Gruppe, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengibt, sondern die etwas wagt, die etwas riskiert. Die um Freiheit, Gerechtigkeit und Anerkennung kämpft, ganz egal wie übermächtig und groß die Gegenmächte sind. Und selbstverständlich spricht aus ihnen auch immer eine gewisse Tragik, eine Schwere, eine Ahnung, dass die Wirklichkeit so manchen Visionen im Weg steht. Andere mögen sagen, aus ihnen spricht auch eine gewisse Wirklichkeitsferne, eine verblendete Ideologie – das mag sein. Und doch finde ich ihre Grundstimmung ansteckend, inspirierend und trotzig.

Zu diesen pathetischen, revolutionär-kämpferisch musikalischen Aufrufen passt in gewisser Weise der Predigttext zum heutigen Reformationstag aus dem Galaterbrief im 5. Kapitel, Verse 1-6:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Ich kann es mir beinahe vorstellen, wie Hannes Wader und Konstantin Wecker diese Verse mit Gitarrenmusik schmettern. Und auch ein anderer hat sich von dieser pathetischen, revolutionär- kämpferischen Grundstimmung des Evangeliums anstecken lassen -nur 500 Jahre früher auf dem Wormser Reichstag.

Vor Kaiser und Reichsständen bekannte der junge Augustinereremit Martin Luther, wohlwissend, dass seine Weigerung seine Schriften zu widerrufen ihn am eigenen Leben bedrohen könnte. „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders Gott helfe mir. Amen.“

Paulus und Luther. Zwei christliche Köpfe, an denen man sich reiben kann, die knallhart formulieren und beide in besonderer Weise für ihre Überzeugungen eingestanden sind. Beide unserem Verständnis des Glaubens einen erheblichen Schubs und Drall verpasst haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Um was ging es Paulus in diesen Versen? Es ging Paulus um die Frage der Beschneidung. Müssen sich Männer erst beschneiden lassen, bevor sie Christen werden können? Mit diesen Versen wollte Paulus keine antisemitische Ressentiments bedienen oder eine etwas verquere theologische Grundsatzdiskussion anzetteln, ob Gott sein jüdisches Volk verstoßen haben könnte. Sondern schlicht und einfach darum, wie das, was Gott in Jesus von Nazareth, der Welt offenbart hat, zu deuten ist. Es scheint so, dass die Galater in dieser Frage nicht wirklich entschieden waren. Denn sie verhielten sich einmal so. Dann wieder anders. Sie taktierten. Trafen Entscheidungen situativ. Lavierten sich durch. Und dieses Durchlavieren, dieses mal so mal so, das bringt Paulus auf die Palme. Nicht weil Paulus grundsätzlich und am liebsten schwarz/weiß denken möchte und nicht nachvollziehen könnte, dass es auch Graubereiche des Lebens gibt, wo es kein eindeutiges ja oder nein gibt. Sondern darum, weil an dieser Frage, an diesem herumlavieren das Evangelium an sich in Frage gestellt wird.

Weil das Herumlavieren an dieser Stelle das Tor zu Gedanken, man müsste etwas leisten, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden, weit und unumkehrbar aufstoßen. Und hier ist das Evangelium, die Liebe, die Freiheit in Christus, im Glauben mehr als eindeutig: Gott wertet nicht das Menschsein, stellt keinen Kriterienkatalog auf. Und deshalb stellt das Verhalten der Galater, das Ja, man könnte sich „Ja vielleicht auch einfach beschneiden lassen“ alles in Frage.

Das Evangelium ist an dieser Stelle Freiheit von Erwartungsdruck, Vorbedingungen und einem Kriterienkatalog. Die Freiheit davon, Erfolg haben zu müssen, um als Mensch etwas zu gelten, eine Würde zu haben. Die Freiheit davon, aus dem eigenen Leben und Alltag möglichst das Optimum, das Beste herauszuholen, immer perfekt zu sein müssen. Wir sind alle hineinverstrickt in Geschichten voller Illusion und Lüge, voller Schuld und Unvermögen. Stecken eigentlich in so mancher Unfreiheit und labeln sie als Freiheit. Paulus war überzeugt, kein Mensch kann sich aus eigener Kraft befreien. Die Freiheit, von der Paulus spricht, ist daher eine von Gott geschenkte, durch Christus gewirkte Freiheit. Es ist also eine Freiheit von etwas. Die Freiheit von der Angst um sich selbst. Die Freiheit, den eigenen Unzulänglichkeiten, den Zweifeln an sich selbst liebevoll begegnen zu dürfen. Die Freiheit, nicht unter dem Druck zu stehen, das eigene Leben zum Erfolg führen zu müssen. Wir sind zur Freiheit berufen, wir sind nicht zur Freiheit verdammt. Evangelische Freiheit gründet im Wissen um die Rechtfertigung des Gottlosen. Das heißt, sie gründet nicht in meinem Vermögen oder Unvermögen, nicht in meinem Erfolg und eben auch nicht Misserfolg. Sie weiß um die Abgründe und die Balken im eigenen Auge.

Und in dieser Freiheit ergeben sich neue Blickwinkel auf mich selbst und selbstkritische Überprüfungen, wie ich durchs Leben gehe, an welchen Dingen ich mein Herz aufhänge, welchen Zielen ich nachjage und welche Ketten ich mich unterjoche.

Gott will uns als freie Menschen. Franz Rosenzweig erzählt in seinem großen Werk „Der Stern der Erlösung“ von einer rabbinischen Legende, die von einem Fluss in einem fernen Lande erzählt, der so fromm sei, dass er am Sabbat nicht fließe. Rosenzweig folgert: Wenn dieser Fluss nun durch Frankfurt flösse, dann würde die ganze Judenschaft dort den Sabbat halten. Aber Gott – so Rosenzweig – will das nicht und tut das nicht. Es graut ihm vor dem unausbleiblichen Erfolg: Weil dann die Unfreiesten, die Ängstlichen und Kümmerlichen die „Frömmsten“ wären.

Gott will freie Menschen. Solche, die über ihre Angst und über ihre Anerkennungssehnsüchte hinauswachsen. Solche, die den Himmel schauen und mit offenem, freien Blick den Nächsten, die Nächste neben sich sehen. Ich muss nicht damit hadern, dass ich ein endliches Wesen bin. Ich muss nicht Gott sein. Ich darf Mensch sein. Gott will uns als freie Menschen, weil nur freie Menschen zur Liebe fähig sind. Freiheit so verstanden, ist deshalb kein Standpunkt, sondern ein Weg, auf den uns Gott gesetzt hat. Ein abenteuerlicher und riskanter Weg, der immer wieder an Grenzen führt. Ein Weg, der lebendig erhält und immer wieder auch ins Leben ruft.

Liebe Gemeinde, das Reformationsfest ist nicht nur ein Datum im Kalender. Nicht nur die Erinnerung und der Wunsch nach einer Kirche, die sich nicht eingräbt, sondern sich verändern kann und will. Reformation ist kein Standpunkt, sondern die Vergewisserung auf welchem Weg wir uns befinden und mit wem wir diesen Weg gehen. Mit einem Gott sind wir unterwegs, der uns mit Glaube, Liebe und Hoffnung beschenkt hat und der nicht will, dass wir dieses Geschenk vergraben. Angesteckt durch die Kraft der Freiheit, in die wir hineingenommen sind, die uns lebendig macht, wollen wir es uns nicht nur bequem machen, in den manchmal nur allzu bequemen Ketten, des schon immer so und weiter so. Bereit, etwas zu wagen und zu riskieren. Die aktuellen Herausforderungen für uns als Kirchen der Reformation -auch hier in Tübingen – sind riesig, aber nur gefühlt erdrückend. Evangelische Freiheit bedeutet auch hier, sich vom Druck Erfolg haben zu müssen, befreien zu dürfen und in gewisser Weise angstfreier in die Zukunft zu blicken.

Und so passt dieser Ruf, diese Vergewisserung der geschenkten Freiheit zu der eingangs erwähnten pathetischen Untertönen mancher Arbeiterliedern: als Erinnerung, als Sehnsucht, als Möglichkeit mutig zu sein, trotzig zu sein, sich nicht entmutigen zu lassen, den Spielraum der Freiheit auszuloten. Evangelische, christliche Freiheit hat für mich daher auch etwas mit Lebendigkeit zu tun. Die Freiheit aus Gott lässt uns leben, hoffen, lieben, streiten und gestalten. Gemeinsam. Miteinander. Und Füreinander.

Amen.

Tobias Jammerthal: „Wider dem himmlischen Girokonto, oder: Aus Freiheit tun was zu tun ist“

(gehalten in der Christuskirche Unterrottmannsdorf im Dekanat Ansbach)

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Lasst uns Gott in der Stille um den Segen für sein Wort bitten.

-Stille-

Segne, himmlischer Vater, unser Reden und Hören. Amen.

So steht es im Brief des Paulus an die Galater, im fünften Kapitel:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Herr segne dies Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde!

Am Reformationstag steht heute bei Ihnen ein Reformationshistoriker auf der Kanzel – Luther, Melanchthon und wie sie alle heißen, sind mein wissenschaftliches Spezialgebiet; ihr Denken und ihr Handeln fasziniert mich – und deswegen könnte ich sehr lange darüber reden. Aber in unserer Kirche ist es üblich, dass der Prediger nicht über alles Mögliche spricht, was ihn privat interessiert, sondern über einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift – und das hängt durchaus mit dem zusammen, was wir am Reformationstag feiern: Dass wir nämlich in der Heiligen Schrift alles finden, was wir für unser ewiges Heil wissen müssen. Und dass Predigt keine unverbindliche religiöse Rede ist, sondern Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott. Deshalb also heute kein kirchengeschichtlicher Vortrag über Luther und seine Freunde – sondern Predigt über einen Abschnitt aus dem Galaterbrief. Unser Predigttext ist kurz, aber er hat es in sich. Ich will versuchen, drei Punkte herauszugreifen, die für uns heute besonders wichtig sind: Der erste steht unter der Überschrift „Ganz oder gar nicht“, der zweite handelt vom Glauben und von den Werken, und ein dritter Punkt heißt schlicht, aber bedeutungsschwanger, „Freiheit“. Doch der Reihe nach!

Zum ersten: „Ganz oder gar nicht“. Paulus schreibt an eine Gemeinde aus sogenannten Heidenchristen; das waren also Menschen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, ohne vorher Juden zu sein. Bald nach der Gemeindegründung scheint es dort so gekommen zu sein, dass manche ihre Vorliebe für bestimmte alttestamentliche Vorschriften entdeckt haben. Die neutestamentliche Wissenschaft vermutet, dass es vor allem um Fasten- und Reinheitsgebote ging, also um bestimmte Praktiken der Frömmigkeit, durch die man sich sichtbar von anderen Menschen unterscheiden konnte – klar: Wenn alle außer mir Fleisch essen, bin ich etwas Besonderes, vor allem, wenn ich dann noch sagen kann, dass ich damit Gott gehorche. Der Höhepunkt dieser Frömmigkeit, die sich vor allem daran zeigte, an bestimmten Tagen zu fasten und bestimmte Reinheitsvorschriften zu befolgen, war die Beschneidung. Paulus hat für das alles nichts übrig: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ (V.2f). Wenn ihr euch am antiken Judentum orientieren wollt, ruft er den Galatern zu, dann funktioniert das nicht so, dass ihr euch nur bestimmte Teile davon aussucht – sondern das geht nur ganz oder gar nicht. Ich finde, darin steckt eine wichtige Mahnung gerade auch für uns heute: Immer wieder meinen Christen, sie wären besonders fromm, wenn sie bestimmte alttestamentliche Regeln besonders streng einhalten. Dazu gehört dann meist ein geringschätzender Blick auf alle, die das nicht tun. Paulus erinnert uns aber daran, dass es so nicht funktioniert. Wir können nicht – zum Beispiel – in der Sexualethik bestimmte Stellen aus dem Alten Testament zitieren und gegen andere Menschen ins Feld führen – und auf der anderen Seite am Samstag arbeiten oder nicht zehn Prozent unseres Einkommens spenden oder nur Menschen aus unserem eigenen Dorf heiraten oder auf der Anwendung der Todesstrafe für Ehebrecher bestehen. Wer meint, er müsste die Einhaltung alttestamentlicher Vorschriften zum Kriterium der Gottesbeziehung machen, der muss sich von Paulus anhören, dass er das nur tun kann, wenn er sich auch wirklich an alle diese Vorschriften hält. Aber das ist noch nicht alles: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen… ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (V. 2+4) ruft Paulus uns zu: Wer meint, er wäre besonders fromm, weil er – im Gegensatz zu anderen – auf bestimmte Regeln achte, seien die nun aus dem Alten Testament oder aus dem Bereich der Politik genommen, der hat sich von Christus abgewendet. Das klingt hart, ist aber nur folgerichtig: was hat es noch mit der Liebe Gottes zu tun, die in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn ich mich selbst darüber profilieren will, dass ich Dinge tue, die mich von anderen unterscheiden – und anderen vorwerfe, dass sie dabei nicht mitmachen?

Das ist starker Tobak – für uns heute wie damals für die Galater – aber damit sind wir schon beim zweiten Punkt: Glaube und Werke. Wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Wir erinnern uns dankbar daran, dass eine ganze Reihe von Theologen vor fünfhundert Jahren wirkungsvoll darauf hingewiesen hat, dass unser Seelenheil nicht davon abhängt, was wir tun. Einen der wichtigsten Bibeltexte, auf die sich Martin Luther stützte, haben wir vorhin in der Epistel gehört: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart… So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,21+28) Es gehört zum Kernbestand evangelischen Christentums, dass wir uns das immer wieder sagen lassen – gerade angesichts dessen, dass wir genauso wie alle Anderen immer wieder dazu neigen, dann eben doch Vorschriften darüber aufzustellen, unter welchen Bedingungen jemand „richtig“ Christ ist oder nicht. Aber sobald wir das Seelenheil eines Menschen an irgendwelche Bedingungen knüpfen wollen, erhebt Paulus schärfsten Einspruch – genau das ist ja das Evangelium, die frohe Botschaft, die er den Römern genauso wie den Christen in Galatien und auch uns heute vermitteln will, dass es solche Bedingungen nicht gibt. Den Römern sagt er es im Guten: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) – den Galatern schreibt er es ziemlich vorwurfsvoll ins Stammbuch, wie wir gehört haben: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt“ (Gal 5,4). Das, was wir tun, kann keine Bedingung dafür sein, dass Gott uns in Liebe annimmt. Das, was Christus für uns getan hat, reicht aus dafür, dass Gott uns in seine Gemeinschaft nimmt – wir müssen es nicht durch irgendeine Handlung bestätigen, als ob Gottes Heilshandeln von unserer Zustimmung abhängig wäre.

Soweit, so bekannt – aber hat das, was wir tun, denn wirklich gar keine Folgen für unsere Gottesbeziehung? Hier stellt sich nicht nur die Frage, warum ich mich eigentlich an irgendwelche ethischen Regeln halten sollte: Vorhin in der Evangelienlesung haben wir gehört, dass Christus Menschen, die bestimmte Dinge tun, als „selig“ preist. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. … Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,7+9) und so weiter – ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Paulus schreibt? Paulus schreibt den Galatern und den Römern ins Stammbuch, dass unsere Seligkeit nicht von dem abhängt, was wir tun – und Jesus predigt, dass alle, die bestimmte Dinge tun, selig sind? Hier gilt es, ganz genau hinzuschauen. Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch aussieht, gehört nämlich zusammen. Und den Schlüssel dafür, das zu verstehen, liefert uns unser Predigttext: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Ja: Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Handeln. Ja, was wir glauben und was wir tun, hängt miteinander zusammen – nur eben anders, als wir es auf den ersten Blick meinen. Die naheliegendste Lösung begegnet uns auch in unserer Kirche immer wieder: dass gute Taten nämlich den Glauben zeigen – mit anderen Worten: nur wer Gutes tut, glaubt auch. Und dann ist es, ehe wir uns versehen, eben doch so: Nur diejenigen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sind „richtige“ Christen. Es ist aber genau anders herum: Der Glaube ist durch die Liebe tätig – nicht gute Taten zeigen uns den Glauben. Das klingt spitzfindig – ist aber ein großer Unterschied.

Und damit sind wir beim dritten Punkt: der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) ruft Paulus aus – und das ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, dass sie Gutes tun, ohne dass sie es für irgendeinen eigennützigen Zweck tun müssten. Das ist die Seligkeit, von der Jesus spricht, dass wir aus dem Glauben daran, dass Gott uns bedingungslos liebt, selbst lieben können – ohne damit irgendwelche Nebenabsichten verbinden zu müssen. Wir sind davon befreit, etwas tun zu müssen, um von Gott geliebt zu werden; befreit davon, aus Angst vor Gott etwas tun zu müssen – und befreit dazu, uns unseren Mitmenschen liebevoll zuzuwenden, und das heißt: um ihrer selbst willen. Wenn ich liebe, helfe ich einem Anderen, weil er Hilfe nötig hat – und nicht, weil ich mein himmlisches Girokonto durch eine gute Tat auffüllen muss und Angst habe, dass mein Guthaben eventuell noch nicht reichen könnte für ein Ticket in den Himmel. Christus hat uns dazu befreit, in unseren Mitmenschen nicht Mittel zum Zweck unserer Seligkeit zu sehen – sondern eben Mit-Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das ist unsere Freiheit und deswegen preist Christus uns selig, dass wir aus dem Vertrauen auf den gnädigen und liebenden Gott heraus die Kraft gewinnen, Gutes zu tun. Nicht, weil wir es müssten, sondern weil wir es wollen.

Jedes Mal, wenn wir den Reformationstag feiern, liebe Gemeinde, sollen wir uns das aufs Neue gesagt sein lassen: Dass Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus von allen Zwängen befreit hat. Dass er uns die Freiheit geschenkt hat, uneigennützig zu sein. Und dass es deswegen gar nicht nötig ist, dass wir selbst irgendwelche Bedingungen dafür aufstellen, was ein richtiger Christ ist – egal, ob wir sie aus dem Alten Testament nehmen oder aus einem System politischer Korrektheit. Freuen wir uns lieber daran, was Gott für uns getan hat – und achten wir darauf, wo wir gebraucht werden. Denn nachdem uns die Last von den Schultern genommen ist, dass wir vor Gott irgendwelche Bedingungen erfüllen müssten, können wir uns befreit und kraftvoll dem zuwenden, was zu tun ist, damit die Not anderer Menschen gelindert wird. Ganz irdisch. Ganz im Hier und Jetzt. Zur Freude Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen. Ja: Selig sind diejenigen, die so befreit ans Werk gehen dürfen!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Claudia Kühner-Graßmann: „Zerreißt die Checklisten, oder: Die Freiheit vom Zwang, etwas für unser Heil tun zu müssen“

(gehalten in St.Leonard in Nürnberg)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen

I. Einstieg: Wunderbare Checkliste

Liebe Gemeinde,

erstellen Sie To-Do-Listen? Ich gestehe, ich mag es gerne. Mit so einer Liste hab ich alles im Blick, was ansteht. Bin also gut organisiert und minimiere die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vergessen. Aber das eigentliche Highlight einer solchen Checkliste ist das Abhaken. Es wird ganz sichtbar, was ich alles schon geschafft habe. Und gut, auch das, was ich noch machen muss. Im besten Fall stellt sich ein gutes Gefühl ein, wenn endlich der letzte Punkt abgehakt ist. Der Blick auf das, was geschafft ist. Visualisierung der eigenen Leistung.

Beruhigung und Selbstvergewisserung. Berechnung und Beherrschung des Chaos.

Wie sieht es aus mit einer Checkliste für den Glauben? Paulus hat eine starke Meinung dazu. Ich lese aus dem Brief an die Galater:

II. Predigttext

1Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!  2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

in der Provinz Galatien war was los. Kein Vierteljahrhundert ist das Christentum alt. Mit den Missionsreisen des Paulus breitete es sich weiter aus. Nun waren es nicht mehr nur Judenchristen, also Menschen, die als Juden geboren und im Judentum erzogen worden sind, aus denen sich die Gemeinde Jesu Christi zusammengesetzt hat.

Neben denen, die zuvor schon Juden gewesen waren, traten die Bekehrten anderer Völker und Religionen. Das führte zu Diskussionen. Debatten. Streit. Dabei ging es nicht bloß darum, wer den Ton angibt, was die Zusammensetzung der neuen Glaubensgemeinschaft betrifft. Nicht bloß um die Befriedung einiger weniger Egos. – Darum natürlich immer wieder auch. Aber oft ging es ums Ganze. Die existentielle Dimension, die drängende Bedeutung dieser Debatten lässt sich in dem Ausschnitt, der den Predigttext für heute bildet, spüren. Vordergründiges Thema ist die Beschneidung, die für jüdischen Männern damals wie heute religiös vorgeschrieben war und ist. Damit ist allerdings nicht einfach nur der medizinische Akt der Entfernung der Vorhaut gemeint. Ja, darum geht es schon auch. Aber nicht in dem Sinne, wie die Debatte in unserer Gegenwart immer wieder öffentlich geführt wird. Inklusive antisemitischer Ressentiments.

So macht Paulus das nicht. Dazu ist für ihn die Beschneidung aber auch auf der religiösen Ebene zu bedeutungsvoll. Er selbst ist auch beschnitten. Dieser Ritus drückt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel aus. Daher scheint es auf den ersten Blick zu verwundern, dass Paulus hier so bestimmt reagiert und den Galatern die Beschneidung regelrecht verbietet. 

Wer waren die Gemeindeglieder in der Region Galatien, mitten in der heutigen Türkei? Diese Gemeinden setzen sich aus verschiedenen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identitäten zusammen. Ich weiß nicht, was einige dazu gebracht hat, zu meinen, dass sie den Weg zu Jesus Christus über das Gottesvolk Israel gehen müssten. Ich kann mir vorstellen, dass manche von ihnen einfach alles richtig machen wollten. Es scheint auch verlockend zu sein. Ein sichtbares, körperliches Zeichen, eine formale Zuordnung zu Israel – wie eben viele ihrer Glaubensvorbilder auch. Wie Jesus, Petrus, Paulus. Dann könnte man einen Haken setzen auf der religiösen To-Do-Liste und man hätte da schon mal eine Art Gewissheit. Oder?

Genau an diesem Punkt setzt Paulus ein – und zwar gerade als einer, der diesen ganzen Weg einer frommen jüdischen Erziehung und dann der Neuaufnahme in die Christengemeinde gegangen ist.

2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 

Mit der Autorität seiner Person, seines Namens schreibt er, dass dieser Umweg über die Beschneidung den Galatern nichts bringt. Er schreibt:

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 

Ganz oder gar nicht! Es geht nicht nur um Beschneidung. Denn zum Judesein gehört für Paulus, sich an das ganze Gesetz des Mose zu halten, damit sie was nützt. Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel gibt es nicht anders.

Aber dann gibt es noch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ist frei von diesen religiösen Vorschriften und Regeln, von all diesen Bedingungen. Paulus wettert gerade nicht gegen seine jüdischen Geschwister, erhebt sich nicht über sie. Für ihn und für alle, die an Jesus Christus glauben, ist dieses Gesetz aber überwunden. Hier gilt eine andere Regel: Kein menschliches Handeln, kein Gesetzeskatalog, keine besondere Vorleistung. Allein Jesus Christus und der Glaube an ihn befreien, retten, rechtfertigen.

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

III. Luther

Das klingt ja immer alles sehr schön. Die Befreiung durch Jesus Christus. Allein durch Gnade und allein im Glauben. Und ja, wenn ich diese Zeile höre: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Dann weiß alles in mir, dass das richtig ist. Kopf und Herz stimmen zu, manchmal bekomme ich etwas Gänsehaut. Faust in die Höhe, evangelischer Kampfmodus. Ganze besonders heute am Reformationstag. Und dann gibt es noch die andere Seite in mir. Die, die gerne Checklisten schreibt, sich von außen rückversichern muss. Die Seite, die die Galater nur zu gut versteht, die sich zur Sicherheit lieber beschneiden lassen wollen. Die Seite, die auch manchmal das Bedürfnis hat, einen Katalog abzuarbeiten: Gott, was soll ich machen, damit ich eine gute Christin bin? Ich denke, damit bin ich nicht alleine. Die Geschichte und ganz besonders die Reformationsgeschichte zeigt das ja durchaus.

Da war dieser junge Mönch,  – fast hätte er Jura studiert! –, dem die Ordensregeln wichtig waren und der alles richtig machen wollte. Der alle Vorschriften befolgen wollte und damit eine Zeit lang wohl auch ganz gut zurechtkam. Aber immer wieder diese Zweifel. Das Gewissen. Die Erkenntnis, dass Menschen überhaupt nicht das leisten könnten, was gefordert sein müsste, um vor Gott wirklich gerecht zu werden. Die Worte des Liebesgebotes im Ohr: Liebe deinen Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser ernsthafte Mönch lebte in einer Umwelt, in der es üblich geworden war, sich ein Stück Seelenheil zu erkaufen – durch Geld, Bußübungen, Gebete… Fromme Checklisten: 300 Rosenkränze gebetet. 1000 Gulden bezahlt. Die Reliquie eines Heiligen geküsst.

Nein, ich möchte mich nicht darüber erheben. Es ist für uns Menschen nicht einfach zu begreifen, was Jesus Christus für uns getan hat. Da erscheint es nur zu menschlich, dass man versuchte, sich den Glaubensstand irgendwie berechenbar zu machen. Aber das System frommer Absicherungen, sogenannter Ablässe, wurde damals doch ziemlich pervertiert. Da kam dieser Mönch, getrieben von eigenen Zweifeln –  und ganz plötzlich befreit durch seine Entdeckungen im Text der Bibel.

Martin Luther.

Ein streitbarer Mann. Laut, derb, im vollen Eifer für den Glauben. Er ist mit seiner ganzen Person für die Rechtfertigung allein aus Glauben, für die Befreiung allein durch Jesus Christus eingestanden. Hat dafür sein Leben riskiert – und komplett umgekrempelt. Er hat nicht nur darüber geschrieben, er hat das, was er verkündet hat, auch gelebt. Was mich aber am meisten beeindruckt: Luther kämpfte um der Sache willen. Und er wusste immer um die menschliche Unperfektheit – gerade auch derer, die glauben. Wie Paulus rief Luther immer wieder das ins Gedächtnis, worauf es ankommt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 

Zeitlebens ließen Luther seine die Zweifel nicht los. Aber getragen von der tiefen Zuversicht, vom tiefen Vertrauen in Gottes Wohltat für uns konnte er dem jetzt standhalten.

IV. Paulus und Luther für uns

Paulus und Luther. Zwei Männer mit Mission. Der eine verbreitete die Botschaft von der befreienden Gnade durch Jesus Christus in der ganzen Welt und wurde nicht müde, seinen Gemeinden das weiter zuzusprechen. Der andere fühlte sich erstickt von den Vorgaben seiner Kirche und rief diese Botschaft der Erlösung allein durch Jesus Christus wieder ins Gedächtnis.

Beides prägende Gestalten unseres Glaubens. Vorbilder trotz allem. Gerade, weil sie alles andere als tadellose Superhelden sind. Denn genau das macht ihre Botschaft so eindringlich und glaubwürdig. Und ja, sie wussten beide, dass es schwer ist, die Beziehung zu Gott alleine von Gott her bestimmen zu lassen: nämlich befreit zu sein allein aus Gnade, allein im Glauben an Jesus Christus. Umso wichtiger ist es, diese Botschaft immer wieder zu hören:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Wir machen uns nicht selbst frei. Wir werden befreit. Ohne Gebote, ohne Eigenleistungen, ohne To-Do-Liste. Diese Freiheit wird mir zugesprochen und geschenkt. Ich muss dieses Geschenk nur auspacken, im Glauben annehmen. Und das Beste: auch nachträglich kommt nichts dazu, keine Vertragsbestimmungen, kein Gesetz, kein Verhaltenskodex, nichts, was ich von außen aufgedrängt bekomme. Die Freiheit durch Christus ist kein Vertrag, den ich schließe und im Nachhinein bemerke, dass ich das Kleingedruckte nicht gelesen habe.

Das immer so zu sehen, ist schwer. Umso wichtiger ist es darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus, es von Gott selbst zu hören, sich mit anderen Gläubigen zu versammeln und auszutauschen – gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Nicht als Pflicht, sondern aus innerer Überzeugung, aus tiefem Betroffensein durch Jesus Christus, aus Glauben. Paulus wäscht auch uns den Kopf. Nicht, weil wir auf die konkrete Idee kommen, reihenweise den Umweg über die Beschneidung, über das Gesetz Israels  nehmen zu müssen. Luther ermahnt auch uns. Nicht, weil wir Ablassbriefe kaufen und uns den Platz im Himmel mit Taten verdienen möchten.

Aber Hand aufs Herz: auch bei uns gibt es Versuchungen, sich des  Heilsbesitzes durch die falschen Dinge zu vergewissern. Innerliche Checklisten, die abgearbeitet werden wollen. Was könnte das für uns sein?

Vielleicht die omnipräsenten Mahnungen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Das Versprechen, durch gesunde Ernährung und Sport ins Reine mit sich zu kommen. Meditation, Yoga, Wellness, Fitness… Alles an sich gute Dinge. Aber eines können sie nicht: Durch sie werden wir nicht frei. Vielleicht können wir uns mit ihnen kurzfristig und vorläufig besser fühlen. Aber sie schaffen es nicht, dass wir uns bedingungslos angenommen wissen. Das kann nur einer.

V. Schluss: zerreißt die Checkliste!

Wir Menschen verfallen von Zeit zu Zeit dem Drang nach Vergewisserung von außen. Dem Wunsch, den Glauben sichtbar zu machen. Etwas abhaken zu können. Durch Handeln vielleicht ein bisschen vor sich selbst und anderen den Eindruck zu erzeugen, dass man wirklich ein guter Christ, eine gute Christin ist. Wir errichten Strukturen, die Systeme und Ordnungen, die auch unser Glaubensleben sortieren sollen – ja, vielleicht erstellen wir To-Do-Listen des Glaubens. Checklisten der Glaubensgewissheit. Schön zum Abhaken.

Aber: wir brauchen diese Listen eigentlich nicht. Ja, ich wage zu sagen: sie stehen im Weg. Und sie schaffen schlicht nicht, was wir uns von ihnen erhoffen. Diese Listen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das schon getan ist. Aber: den Haken haben nicht wir gesetzt. Gott hat das ein für allemal abgehakt.

Daher, liebe Gemeinde: lassen Sie uns heute am Reformationstag diese inneren To-Do-Listen des Glaubens, die Checklisten der Glaubensgewissheit zerreißen. Ganz bewusst alles abstreifen, was uns vom Vertrauen abhält: Jesus Christus hat schon alles gemacht. Wir müssen da an nichts mehr denken! Wir sind befreit vom Zwang, etwas leisten zu müssen. Befreit vom Zwang, für unser Heil zu sorgen.

Lassen Sie uns mit Luther ganz bewusst auf den Grund dieser Freiheit schauen: Jesus Christus! Lassen sie uns gemeinsam das ganze Pathos dieses Reformationstags mitnehmen! Hören wir den evangelische Ruf des Paulus  und lassen uns von diesem Gefühl tragen! Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Niklas Schleicher: „Leicht ist es nicht, oder: Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand.“

(gehalten in der Bartholomäuskirche in Tamm im Dekanat Ludwigsburg)

„Freiheit, Wecker, Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. „Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“. So der Liedermacher Konstantin Wecker in seinem Lied Willy über einen Menschen, der sich gegen den Faschismus wehrt und von Nazis umgebracht wird. Freiheit. Was für ein großer Begriff. Und vielleicht ist Weckers Definition treffend. Vielleicht dachte Luther ähnlich. Luther, der heute vor mehr als 500 Jahren seine Thesen veröffentlichte und davor sicherlich die Briefe des Paulus gelesen hatte.

Im Galaterbrief lesen wir:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Man kennt die Geschichte von Luther irgendwie, aber man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen. Da ist eine Kirche, die ziemlich viele Bereiche des Lebens kontrolliert und vor allem: Die für sich in Anspruch nimmt, Vergebung der Sünden verkaufen zu können. Dafür schürt sie die Angst vor dem Fegefeuer. Luther hatte Angst, Angst davor, dass, egal was er tut, es nicht reicht. Er hatte vor Augen: Nach seinem Tod wartet auf ihn das Fegefeuer. Und dann sein Studium der Bibel. Und Stellen die sagen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und zwar auch zur Freiheit vor dem Gesetz. Ja, Freiheit heißt, keine Angst haben, vor nix und niemand.

So tritt Luther auf. Er legt sich mit der Kirche an. Mit Unterstützung von einflussreichen Freunden möchte er die katholische Kirche reformieren. Eine zeitlang steht sein Leben wirklich auf Messers Schneide. Ich weiß es nicht, ob er da noch Angst hatte, aber seine Freiheit kostete ihm sicherlich auch Sicherheit. Er schrieb große Schriften, von der Freiheit eines Christenmenschen ist sicherlich eine der Schönsten. Aber die Freiheit, die er so stark herausarbeitete, hatte sicherlich eine Kehrseite. Die Sicherheit einer Kirche, die zwischen ihm und Gott vermittelte, bricht weg.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Was bedeutet uns eigentlich heute: Freiheit? Wir sind mal ganz einfach formuliert, sehr frei. Corona hat uns gezeigt, wie frei wir eigentlich sind. Vieles empfinden wir, zurecht als Einschränkung, aber im großen und Ganzen leben wir frei. Wir können im Großen und Ganzen entscheiden, wen wir wählen. Wo wir wohnen. Was wir essen. Klar, für vieles braucht man das nötige Kleingeld. Aber es gibt ansonsten wenige äußere Instanzen, die uns hindern.

Ich denke, wir machen uns um unsere Freiheit wenig Gedanken. Oft, sehr oft geben wir die Entscheidung auch ab. Nicht alles, was wir tun, tun wir bewusst. Oft richten wir uns nach anderen oder nach Regeln. Diese Regeln helfen uns. Denn wenn man darüber nachdenkt: Wenn wir bei jeder Entscheidung auf uns gestellt sind, dann artet das in eine Überforderung aus.

Ich habe im August und September ein Praktikum in bei der Gefangenenseelsorge am Hohenasperg gemacht. Dort gibt es neben dem Klinikum ja auch die Sozialtherapeutische Anstalt. Eines fand ich bedrückend: Was ist, wenn einem die Freiheit selbst Angst macht? Menschen, die lange Jahre im Gefängnis waren finden sich draußen oft nicht zurück. Nicht, weil sie es nicht wollen oder weil sie sich nicht redlich bemühen. Es fehlt ihnen die Kontrolle und das Netzwerk, dass sie Gefängnis haben. Die Freiheit, die sie bekommen haben, bekommen sie auf Kosten von Sicherheit. Und dann tun sie draußen etwas, dass gegen ihre Auflagen verstößt und kommen zurück ins Gefängnis. Sie tauschen ihre Freiheit gegen die Sicherheit des Gewohnten.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Selbst Wecker wusste in seinem Lied: So einfach ist es halt nicht. Denn es geht in seinem Lied weiter: „aber san ma doch ehrlich, a bisserl a laus Gfühl habn ma doch damals scho ghabt“. Auch für Luther war es das nicht. Anfechtung. Immer wieder ringen mit Gott. Das hat ihn Zeit seines Lebens begleitet. Gott erschien ihm manchmal fern. Wenn er Leid sah. Und er hatte die Sicherheit aufgegeben, die die katholische Kirche geboten hat. Nämlich etwas tun können für das Seelenheil. Und jemanden zu haben, eine Autorität, die vermitteln können zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Weg ist für Luther versperrt.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Die Freiheit, die mit unserem evangelischem Christentum kommt, ist großartig. Niemand, weder ein Pfarrer, noch eine Theologin, weder ein Bischof, noch ein Ratsvorsitzender stehen zwischen dem Einzelnen, zwischen mir, zwischen dir und Gott. Das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung Luthers: Jeder von uns hat die Freiheit sich Gott so zu nähern, wie man es will. Alles können wir ihm anvertrauen. Denn: In Jesus Christus hat er unsere Schuld, dass was uns trennen kann, überwunden. Ganz simpel gesagt: Alles, was uns beschwert und belastet hat seine Ort vor Gott.

Doch andersherum gilt eben genauso: Es gibt keinen, der mir und dir abnehmen kann, dass wir als Einzelne vor Gott stehen. Wir dürfen mit unseren ganz eigenen Vorstellungen und Anliegen vor Gott kommen, aber: Wir müssen das eben auch. Niemand nimmt es uns ab. Dass wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, vergewissert uns: Wir gehören zu einer Kirche. Aber vor Gott kommen wir dennoch als Einzelne.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Jeder von uns ist einer freier Christenmensch. Einer, der vor nix und niemanden Angst haben muss. Einer, der nicht vertreten werden muss, der aber auch nicht vertreten werden kann. Evangelisches Christentum ist sicherlich manchmal anstrengen. Aber trotz allem lenkt es den Blick auf etwas, das Paulus schon vor 2000 Jahren verdeutlicht hat:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Freiheit. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber das hat ja auch keiner behauptet. Und bei allem und in allem gilt der Satz von Paulus:

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist

Über allem steht Gottes Liebe zu uns. Wenn das klar ist, dann muss man vielleicht wirklich keine Angst mehr haben. Auch nicht vor der Freiheit des Christenmenschen.

Amen

Julian Scharpf: „Von der Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird“

(gehalten in der Lutherkirche Fellbach)

Wie fühlt sich Freiheit an?

Vielleicht so: Das Absetzen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn wir die Kirche verlassen und im Freien sind.
Oder: Wie der erste Montag in der Altersteilzeit, wenn morgens der Wecker nicht mehr klingelt.
Oder: Wenn man einen Babysitter für die Kinder gefunden hat und einen Abend zu zweit vor sich hat.
Oder: Wenn man nach längerer Krankheit die Krücken nicht mehr braucht und wieder laufen kann.
Oder: Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, weil etwas besser gelaufen ist als gedacht.
Oder: Wenn man die innere Freiheit spürt, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird, sondern das, was einem das Gewissen sagt.
Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, dann gibt es einen Moment der inneren Freiheit eines Menschen, der herausragt.

Martin Luthers Freiheitsgeschichte

Worms, im Frühjahr 1521, vor 500 Jahren. Der ganze Saal im Wormser Bischofshof knistert vor Spannung. Fackeln bringen Licht in den Raum, er ist voller Menschen, es ist unfassbar heiß, Martin Luther schwitzt. Zwei Stunden hat er für den kurzen Weg in den Saal gebraucht, es gab Verzögerungen; Schaulustige belagern den Reichstag. Johann von Eck verhört Luther, er stellt ihm am Ende die alles entscheidende Frage: „Martin Luther, widerrufst du oder nicht?“ Seit drei Jahren hat dieser in einer einfachen Mönchskutte vor dem Reichstag stehende Mann das ganze Land in Aufruhr gebracht. Die 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die Schriften wie „von der Freiheit eines Christenmenschen“, die im ganzen Land durch den gerade aufkommenden Buchdruck vervielfältigt werden, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle aus Rom, der Kirchenbann über Luther – all diese aufsehenerregenden Momente waren dieser Eskalation vorausgegangen.  Was wird Luther tun? Die Anspannung ist zu spüren. Martin Luther wird das Wort zugesprochen.  Und:  Er widerruft nicht. Er antwortet:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!

Luther widerruft nicht. Er bietet dem Kaiser die Stirn, weil er der Bibel und seinem Gewissen verpflichtet ist. Da steht ein Mensch, der in der Gefahr ist, seine äußere Freiheit durch die Reichsacht zu verlieren – und strotzt gerade so vor innerer Freiheit. Und es kommt zu der nur scheinbar paradoxen Situation, dass sich Luther gerade, weil er sich „gefangen im Worte Gottes“ empfindet, so frei fühlt wie ein Mensch sich nur fühlen kann.

Dass Luther zu diesem freien Menschen wurde, war kein einfacher Weg. Als Mönch hatte er gespürt, wie unfrei, wie gefangen er damals war, weil er dachte, er müsse sich die Gnade Gottes durch Beten, Arbeiten und gute Werke erst verdienen. Luther war ein 150%er Mönch, tat alles, was aus seiner Sicht nötig war, um Gott gnädig zu stimmen. Bis er durch die genaue Lektüre der Schrift wiederentdeckt, dass die Gnade Gottes unserer Antwort im Glauben immer voraus geht. Er wird durch das Wort Gottes so gefangen genommen, dass er frei gegenüber der Welt wird. Weil er versteht, dass Christus uns Anteil an seiner Gerechtigkeit gibt und wir uns nicht selbst vor Gott rechtfertigen können oder müssen. Luther musste sich nicht mehr selbst erlösen, er war frei geworden.

Und diese Entwicklung wurde mit angestoßen durch die Verse eines Menschen, der in seinem alten Glauben und seinen Überzeugungen auch ein 150%er war: Paulus, der ehemalige Pharisäer, der zum Apostel wurde. Paulus und Luther sind sich in manchem sehr ähnlich. Religiöse Genies ohne große Lust an Kompromissen; Leidenschaftliche Gläubige; auch Menschen mit Fehlern, Problemen, diskussionswürdigen Ansichten. Keine Helden, aber Menschen, die durch das Wort Gottes zutiefst durchdrungen und bewegt waren.
Wir hören die Verse, die Luther inspirierten, aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus, Kapitel 5, Verse 1 bis 6:

Galater 5, 1 – 6

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zum Kontext

Liebe Gemeinde,

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien, weil diese in Unruhe sind. Neue Missionare sind dort angekommen und sind der Überzeugung, dass auch die Männer der christlichen Gemeinde sich beschneiden lassen sollten wie jüdische Männer. Paulus argumentiert leidenschaftlich dagegen, weil er befürchtet, dass die noch junge, christliche Gemeinde durch ihre Verunsicherung wieder Halt in den Traditionen und Gesetzen des Judentums sucht. Und weil Paulus damals ein 150% überzeugter Pharisäer war, gibt es da für ihn keine Kompromisse. Wer sich beschneiden lässt, gehört zum Volk Israel und nicht zu Christus. Das ist im Übrigen für Paulus keine Abwertung der Beschneidung, des Judentums oder der beschnittenen Männer, die Christen wurden. Ihm ist die Unterscheidung wichtig. Der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen gilt, ein für alle Mal und ewig. Das ist für Paulus klar. Wir als Christinnen und Christen sollten uns hüten, uns durch Verse des Apostels für etwas Besseres zu halten. Jesus ist als Jude geboren und gestorben.

Die Freiheit in Christus

Und der ehemalige Pharisäer Paulus erkennt im Glauben an Jesus Christus eine Freiheit, die Freiheit schlechthin:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Diese Freiheit besteht darin, dass Christus uns befreit. Nicht wir selbst befreien uns, Christus befreit uns.
Von unserer Unsicherheit, ob wir Gott gefallen.
Von unserer Unsicherheit, ob wir anderen Menschen gefallen.
Von unseren inneren Zwängen und bangen Fragen, ob Gott uns denn nun gnädig ist oder nicht.
Wir haben vorhin gesungen: Du bist der Blick, der uns ganz durchdringt.
Wir alle hier, die wir hier sitzen, werden liebevoll von Jesus Christus angeschaut, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wer sich geliebt weiß, der atmet freier. Alle Werke und alles Wirken von Paulus und Luther sind ein Fingerzeig auf Jesus Christus, der uns gnädig anschaut.

Im Glauben an Christus, im festen Vertrauen auf seine Liebe und Güte werden wir frei davon, uns selbst zu erlösen, zu rechtfertigen, zu befreien, auf unser Ansehen zu schielen. Diese Gnade ist ein Geschenk und nichts, das wir uns durch gute Werke verdienen müssen. Diese Erkenntnis gab Martin Luthers Leben eine 180 Grad Wende.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Ohne diese Überzeugung hätte Luther nicht auf dem Reichstag stehen können; wäre er nicht standhaft geblieben.

Freiheit heute

Weil Luther für seine Gewissensentscheidung Akzeptanz von den Herrschenden einforderte, liegt darin auch eine Keimzelle unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Die verschiedenen Dimensionen der Freiheit, individuelle, innere Freiheit, Religionsfreiheit, politische Freiheit – durchdringen sich gegenseitig. Man kann durchaus eine Linie vom Freiheitsdenken der Reformatoren über die Religionsfreiheit und die Aufklärung zu unserem heutigen allgemeinen Freiheitsverständnis ziehen. Diese Entwicklung ist geschichtlich auch von ungeheuren Rückschlägen gekennzeichnet.  Unser Grundgesetz in Deutschland heute ist das Ergebnis einer Lerngeschichte der Freiheit.

In den letzten anderthalb Jahren wurde viel um Freiheit und Sicherheit, Grundrecht und Gesundheitsschutz gerungen. Und alle Freiheitseinschränkungen, auch in den letzten anderthalb Jahren müssen sich natürlich vor unserer Verfassung rechtfertigen. Ich bin froh darüber, in einem Land zu leben, in dem diese Gewaltenteilung funktioniert – bei allen Schwierigkeiten, die eine noch nicht gekannte Pandemie-Situation mit sich bringt. Ich bin froh darüber, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung zu leben, gerade wenn ich in die Entwicklung manch anderer Länder blicke. Und wenn wir bei Paulus wie bei Luther hinschauen, sehen wir bei beiden eine große Wertschätzung für eine stabile staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol des Staates. Paulus und Luther waren auf je eigene Weisen freiheitliche Rebellen, aber um das auch klar zu sagen:  Diejenigen, die heute aus ihrer Unzufriedenheit heraus unsere Republik verächtlich machen und bekämpfen, können sich nicht auf die beiden als Kronzeugen berufen.  Dazu liegt beiden zu viel an einer stabilen und respektierten staatlichen Ordnung.

Freiheit und Verantwortung

Und Eines ist auch entscheidend am Freiheitsverständnis bei Paulus wie bei Luther: Freiheit geht bei beiden immer mit Verantwortung einher.

Paulus schreibt:

Denn in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, etwas.

Bei Jesus gelten nicht unsere Äußerlichkeiten, unsere Statussymbole etwas. Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nächstenliebe realisiert. Die Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird. Paulus wie Luther sind davon überzeugt, dass die Freiheit durch Christus nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas ist.

Luther will das so verstanden wissen: Durch das tiefe Vertrauen auf Jesus Christus haben wir die Freiheit, uns um Andere zu kümmern. Wir müssen nicht Nabelschau betreiben und immer unser Seelenheil bangen. Weil wir frei von dieser Sorge sind, können wir Andere in den Blick nehmen. Freiheit bedeutet biblisch und reformatorisch niemals Rücksichtslosigkeit. Freiheit bedeutet Verantwortung. Verantwortung für mich und meine Mitmenschen. Jede errungene Freiheit geht mit Verantwortung einher und das durchzieht alle Dimensionen der Freiheit. Meine Freiheit ist wertlos, wenn ich durch ihr Auskosten die Freiheit eines Anderen beschneide. Meine Freiheit ist wertvoll, wenn ich sie mit Anderen zusammen auskosten kann. Ich wünsche mir, uns allen, Ihnen viele Erfahrungen dieser gemeinsamen Freiheit.
Freiheit, die sich in gegenseitiger Rücksichtnahme realisiert. Freiheit, weil wir dann einmal gemeinsam die Pandemie überwunden haben werden.
Freiheit, weil es irgendwann auch mal wieder ohne Masken geht.
Freiheit im Ruhestand.
Freiheit, weil uns manche Steine vom Herzen fallen.
Freiheit, weil wir wissen, dass Christus uns liebt.
Denn:  Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Amen.

Vom Predigen. Widersprüche zu #abkanzeln

von Niklas Schleicher

 

Wir haben vor zehn Jahren erfolgreich die Idole getötet
Und jetzt hängen wir im Zuckerbergwerk, labern nur Blödsinn
Und ich weiß ihr wollt ’ne Hymne und ’ne provokante Botschaft
Doch ich stolper‘ zwischen Prediger und kollektiver Ohnmacht
Scheiß auf Jugendrebellion, ich hab‘ die Faxen dick
(Disko Degenhardt: „Der Druck bleibt“)

 

cara

Heute predige ich darüber, dass man es nicht verhindern kann, Fehler zu machen, aber dass man bei allem versuchen kann, Mensch zu bleiben, denn das ist immer gut. (@PastoraCara)

Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch zum Artikel von Hanna Jacobs (https://www.zeit.de/2018/44/religioese-reden-predigt-abschaffung-sermon-kanzel). Ich habe weder Erfahrungen im Vikariat oder im Pfarramt, noch bin ich Praktischer Theologe, der sich berufsmäßig mit der Geschichte und der Praxis protestantischer Predigt beschäftigt. Meine gehaltenen Predigten lassen sich bequem an zwei Händen abzählen. Und ja, auch ich rege mich mehr über Predigten (oder Predigtideen) auf, als dass ich diese gut finde. Also: Ich bin nicht der richtige für den Widerspruch. Es wird widersprochen und widersprochen werden: @FrauAuge hat in einem Tweet-Thread differenziert darauf hingewiesen, dass man mehr Freiräume für gute Predigten braucht. Der Blog „Homilia“ hat geantwortet und die richtigen Anliegen aufgenommen. Und die niedersächsische Landessuperintendentin Petra Bahr wird diese Woche bei „Christ und Welt“ respondieren. Alles berufenere Menschen, die sich gewählter ausdrücken und differenzierter argumentieren.

Ich sollte nicht widersprechen: Selbst hier bei NThK gibt es bessere: Claudia Kühner-Graßmann ist praktische Theologin und kann sehr differenziert die Praxis religiöser Rede reflektieren. Tobias Jammerthal ist Vikar und verfügt außerdem über breites geschichtliches Wissen. Die stilistische Schärfe von Tobias Graßmann erreiche ich kaum. Und lustiger wäre der Widerspruch sicherlich, wenn ihn Julian Scharpf verfassen würde.

buiting

Heute Nacht geträumt: Priester steigt von der Kanzel und fragt anstelle einer Predigt: “ Mal ehrlich: Wie geht’s euch, Leute?“ Und dann wird erzählt. Und zugehört. Und geweint. Und umarmt. Und die Kirchentür ist geöffnet dabei. Himmelweit. Ist mein Traum irgendwo Wirklichkeit? (@HannaBuiting)

Andere müssten widersprechen. Und warum überhaupt: Folgt Hanna Jacobs nicht ganz präzise einem Trend? Hat sie in ihrer Deskription recht? Ich meine, man muss nur auf den Powertweet einer anderen Hanna, Hanna Buiting, schauen: Runter von der Kanzel und zuhören, dass ist doch das, was die Menschen brauchen. Und dann: Trage ich hier wieder persönliche Aversionen ein? Bin ich nur neidisch, dass ich nicht in der „Christ und Welt“ schreiben kann, sondern nur ab und zu mal in einem kleinen Blog meine kleinen Dummheiten in die Welt schreibe?

Nein, andere sollten widersprechen: Die Exegeten und Exegetinnen vielleicht. Sie sollten bemerken, dass die biblischen Bücher zu einem guten Teil von Reden berichten oder sogar in stilisierter Redeform abgefasst sind. Dass Jesus vor allem auch als Lehrer wirkte, als einer der sprach, ja, der auch monologisierte. Und Paulus. Und auch die Propheten. Und Mose. Sie sollten darauf hinweisen, dass die christliche Religion und ihre Wurzel, das Judentum ganz eminent auf gesprochene und verschriftlichte Rede angewiesen war. Ja: Schon im Ursprung war das Christentum eine Religion des Wortes, und das gilt auch ohne das man auf den Johannesprolog aufmerksam machen müsste.

elektropastor

@hannagelb Werde am Reformationstag die Gemeinde über Gal 5 diskutieren lassen. 30-45 Minuten, mit alkfreien Cocktails. Kurzes Minifazit am Ende mit den Ergebnissen der Leute. Leserbrief zum dk-Artikel: Ohne Predigt kein Gottesdienst. Finde den Fehler. #abkanzeln (@elektropastor)

Es sollten andere widersprechen. Die Kirchengeschichtler und Kirchengeschichtlerinnen bestimmt. Mit Luther zum Beispiel. Denn freilich: Reformation war ein Medienereignis. Der Buchdruck und die Bibelübersetzung waren wichtig. Aber durch welche Schriften wurde Luthers Lehre verbreitet? Was war das, was wirkte? Es waren: Predigten. Entweder gehaltene oder eben: Gedruckte. Aber es waren Predigten. Klar, Luther ist vorbei. Aber danach Schleiermacher und seine Reden. Oder im Kirchenkampf. Oder. Oder.

knuuut

Jede Predigt muss bis 2021 auf einen Bierdeckel passen. #abkanzeln (@knuuut)

Oder möglicherweise die Dogmatiker oder Dogmatikerinnen: Sie sollten darauf hinweisen, was in der Schrift zur Rechtfertigungslehre der EKD (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2014_rechtfertigung_und_freiheit.pdf) nochmal deutlich hervorgehoben wurde: Es sind eben nicht nur vier reformatorische Exklusivpartikel (gratia, fide, christus, scriptura), sondern fünf. Solo verbo: Das zugesprochene, ja, eben auch das verkündigte Wort ist es, so Gott und sein Geist will, das den Sünder in die Gnade ruft. Vielleicht müsste der Dogmatiker oder die Dogmatikerin auch sagen, dass hier bei Hanna Jacobs der Rahmen des lutherischen Bekenntnisses, wenn nicht verlassen, so doch wenigstens herausgefordert ist. Aber gut, möglicherweise ist das auch altertümlicher Blödsinn und heute muss es anders gedacht werden.

Aber vielleicht widersprechen auch die praktischen Theologen und Theologinnen und machen deutlich, dass die Predigt eben auch ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation des Evangeliums ist. Ich weiß nicht, vielleicht irre ich mich, aber die Homiletik als Teildisziplin ist eine, die einen relativ hohem Innovationsgrad hat. Sei es szenisches Predigen oder die Semiotik. Vieles Neue findet den Einlass in die Praktische Theologie und damit auch in die Theologie als Ganzes über den Trichter der Homiletik.

gayk

Statt einer Predigt gab es heute eine Frage: Was gibt dir Kraft? #abkanzeln (@julegayk)

Nun ja, das sind alles fachwissenschaftliche Debatten. Dann sollten vielleicht die Pfarrer und Pfarrerinnen widersprechen. Sie müssten sagen, dass Sie sich der Abständigkeit vieler Predigttexte durchaus bewusst sind, ja daran auch oft fast verzweifeln, aber Sonntag für Sonntag, Predigt für Predigt ihr Bestes geben, um das, was diese Texte auch in der (Post/Spät/Wasauchimmer-)Moderne dem Hörer oder der Hörerin bedeuten kann, auszulegen.

Es geht im Artikel ja aber um die Menschen, vielleicht müssten diese, die Menschen, die Sonntag für Sonntag im Gottesdienst sitzen, widersprechen. Sie müssten sagen: Woher, im Namen des Allmächtigen, weißt du denn, was meine Fragen sind? Glaubst du, nur weil du deine Probleme kennst, kennst du auch meine? Oder Sie müssten sagen: Nur weil du die Predigt, ja selbst deine Predigt nicht gut findest, weißt du noch gar nicht, was Sie in diesem Moment für mich bedeutet. Sei es, weil es für mich eine Tradition ist. Sei es, weil mich diese Auslegung trifft. Sei es, weil mich nur ein Satz berührt.

marthori

Mir spricht das aus dem Herzen, weil ich mich längst von der Predigt verabschiedet habe. Ich gehe kaum noch in Gottesdienste – vor allem wegen der Predigt. Ich ertrage sie einfach nicht mehr. (@marthori)

Oder sie müssten sagen: Klar, wenn ein Pfarrer von der Kanzel steigt und fragt, wie es geht, ist schön. Aber kann es sein, dass dann eh nur die gleichen reden? Oder dass ich vielleicht in diesem Moment nichts zu sagen haben, nicht reden will oder reden kann, sondern einfach nur hören will. Vielleicht Zuspruch, Aufmunterung oder auch Ermahnung brauche?

Vielleicht müssten Sie widersprechen und sagen: Klar, es ist die konkrete Person, um den es im Protestantismus geht, aber die konkrete Person ist eben nicht nur eine Pfarrerin in einem neuen Gemeindeprojekt in einer deutschen Großstadt, sondern auch der Rentner, die Küsterin, der Konfirmand oder ich. Und vielleicht, ja vielleicht, geht es eben auch manchmal um mich und nicht nur um Pioniere und Wanderer und Raumschiffpiloten.

jacobs

Für meinen Glauben brauche ich regelmäßig Predigten. [Umfrage] #abkanzeln (@hannagelb)

Irgendwie so, aber viel besser und differenzierter müssten es die klugen Menschen sagen. Sie werden, wenn sie es tun,  es differenziert und in Aufnahme der wichtigen und klugen Punkte sagen, die Hanna Jacobs anspricht. Ich nicht. Ich würde sagen: Wer die Abschaffung der Predigt fordert und denkt, dass er so eine protestantische Position vertritt, hat nicht Recht. Ich würde auch sagen: Wer so begründet wie im Artikel, stellt nur das eigene in den Fokus der Überlegungen und vergisst, dass es in der Kirche um mehr als nur mich und meine Richtigkeiten geht. Er sagt ein bisschen sehr viel „Ich“, auch wenn er denkt, dass es ihm immer um das „Du“ geht. Möglicherweise müssten wir nochmal darüber nachdenken, was das eigentlich heißt und von mir fordert, dieses „Kirche“. Aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.

Rezension zu: Martin Luther. Here I stand.

Rez. zu: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt u. a. (Hg.), Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt / Schätze der Reformation. Essays und Kataloge im Schuber, 2 Bände, Dresden 2016.

Für www.nthk.de rezensiert von Tobias Jammerthal am 4. Januar 2017 .

Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist ein Phänomen mit eminenter Gegenwartsrelevanz. Nirgends wird dies deutlicher als in den Auseinandersetzungen um die ihr gewidmete Dekade, die 2017 kulminieren soll. Dass diese Dekade von den einen energisch gefeiert, von den anderen ebenso energisch verachtet, angegriffen oder verspottet wurde, zeigt unabhängig von den jeweils konkret berührten Sachfragen vor allem eines: wie hoch die Erwartungen an dieses Jubiläum waren und sind – was wiederum nur vor dem Hintergrund dessen erklärbar erscheint, dass sich mit der Erinnerung der Reformation Identitätskonzepte unterschiedlichster Couleur eng verknüpfen.

martin-luther-aufbruch-in-eine-neue-welt-schaetze-154854245

Die beiden hier zu besprechenden Bände bilden den Katalog und den wissenschaftlichen Begleitband des Ausstellungsprojektes „Here I stand“, das selbst für die Reformationsdekade, die durch eine Vielzahl von ambitionierten, gut finanzierten und museumspädagogisch wie wissenschaftlich hervorragend konzipierten musealen Projekten gekennzeichnet ist, außergewöhnlich ist. Zwischen Frühherbst 2016 und Anfang 2016 werden in drei renommierten nordamerikanischen Museen verschiedenste Leihgaben gezeigt. Jedes der drei Museen zeigt eine andere Ausstellung, zusammen ergibt sich, wie der Katalog und der Essayband zeigen, ein bewundernswert facettenreiches Bild der Lebensrealitäten in Mitteldeutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in das Martin Luther pars pro toto für andere Reformatoren eingezeichnet wird. Das Projekt wird auf deutsche Seite vom Landesmuseum für Vorgeschichte (Halle), der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und der Stiftung Schloss Friedenstein verantwortet und vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland unterstützt; eine umfangreiche Homepage begleitet die Ausstellung.

Der Katalog organisiert das in den drei Ausstellungen dargebotene Material thematisch nach acht Themenbereichen: unter „Fundsache Luther“ (20-45) wird Luthers Herkunft thematisiert, wobei die seit 2003 erfolgten archäologischen Arbeiten in Mansfeld eine zentrale Rolle spielen. Die Themengebiete „Weltliche Macht und höfische Kunst“ (46-90) und „Vorreformatorische Frömmigkeit“ (92-134) bieten ein buntes Panorama der mitteldeutschen kirchlichen und politischen Landschaft des frühen 16. Jahrhunderts, bevor das Leben des Reformators präsentiert wird („Luther als Mönch, Gelehrter und Prediger“, 136-178, „Luthers Theologie“, 180-234, „Luther in Wittenberg“, 226-294). Der obligatorische Blick auf „Polemik und Konflikte“ (296-356) darf nicht fehlen, bevor anknüpfend an Luthers Tod die sich an den Reformator knüpfende Erinnerungskultur in den Blick rückt („Luthers Vermächtnis“, 358-392). Abschließend gehen Jürgen Gröschl und Louis Nebelsick Spuren der Reformation in den Vereinigten Staaten von Amerika nach (396-409), Jan Scheunemann bietet einen summarischen Überblick über die wichtigsten Lutherstätten (410-422). Durchweg sichtbar ist das Bemühen der Verantwortlichen, bei aller erkennbaren Lutherzentrierung ein ausgewogenes Bild der Reformationszeit zu zeichnen. Das Leben Luthers dient hier als eine Art Schaufenster in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kleinere Unrichtigkeiten im Katalogtext fallen da nicht ins Gewicht, so unnötig sie im Einzelfall auch sein mögen.[1]

Der wissenschaftliche Begleitband ist in sieben Themenfeldern organisiert, auf ein eigenes Themenfeld über die Theologie(n) der Reformation wurde verzichtet, statt dessen finden sich Aufsätze zu theologischen Fragestellungen verstreut in allen Themenfeldern. Das mag sich den Herausgebern nahegelegt haben, ist aber nicht durchweg überzeugend.[2] Passend zum Profil des Ausstellungsprojektes thematisiert ein eigenes Themenfeld den nordamerikanischen Protestantismus vor allem, aber nicht ausschließlich lutherischer Prägung („Luther in den Vereinigten Staaten von Amerika“, 370-429).

Dem Anliegen des Ausstellungsprojektes entsprechend ist es auch das Anliegen des Begleitbandes, „von der sowohl geographischen als auch geistigen Herkunft Luthers über die wichtigsten Ereignisse und Aspekte der Reformationsgeschichte und ihrem kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext bis hin zum Luthertum in Nordamerika […] den aktuellen Kenntnisstand“ zu repräsentieren (11). Schon ein Blick auf die Verfasser der einzelnen Beiträge zeigt, dass dies gelungen ist: das Autorenverzeichnis liest sich wie ein „Who’s Who“ der gegenwärtigen Reformations- und Frühneuzeitforschung. Louise Schorn-Schütte ist ebenso vertreten wie Thomas Kaufmann. Johannes Schilling und Volker Leppin geben Dorothea Wendebourg und Christopher Spehr die Klinke in die Hand; Stefan Michel ist ebenso vertreten wie Heinz Schilling. Die US-amerikanische Lutherforschung ist ebenso vertreten wie die deutsche Frühneuzeithistorie und die schweizerische Reformationsforschung (diese freilich nur mit einem Vertreter, was dem ansonsten betont internationalen Charakter des Bandes nicht vollends gerecht wird). Wie ernst es der Redaktion damit war, die ganze Breite der Forschung abzudecken, zeigt auch die Tatsache, dass mit Brad S. Gregory sogar ein entschiedener Kritiker der Reformation und des protestantischen Christentums überhaupt zu Wort kommt[3]. Der intendierten breiten Leserschaft wird neben den wissenschaftlichen Abhandlungen durch informative Grafiken und Übersichten die Möglichkeit gegeben, sich einen schnellen Überblick etwa über die Heiratspolitik des 16. Jahrhunderts (84) oder den Briefwechsel der wichtigsten Akteure (190) zu verschaffen. Ob verstreut zur Veranschaulichung eingesetzten Cartoons einen vergleichbaren Informationswert haben, mag indes bezweifelt werden.

Mit den beiden ansprechend gestalteten Bänden ist dem Ausstellungsprojekt „Here I stand“ eine weit über das Ende der eigentlichen Ausstellungen andauernde Rezeption garantiert. Insbesondere der wissenschaftliche Begleitband empfiehlt sich als breitenwirksame Präsentation aktueller Forschung in Bezug auf die allgemeinhistorischen, religionsphänomenologischen und kulturellen Voraussetzungen, Kontexte und Folgen der Reformation vor allem Wittenberger Prägung. Schade nur, dass das sprachliche Niveau der Beiträge sehr unterschiedlich  ist. Die Übersetzung der englischsprachigen Essays scheint um besondere Treue zur Ausgangssprache bemüht gewesen zu sein. Durch den großen Unterschied zwischen englischer und deutscher Wissenschaftssprache entsteht so leider bisweilen zu Unrecht der Eindruck, es mit fachlich naiven Texten zu tun zu haben. Der mit englischer Fachliteratur bekannte Leser wird darüber hinwegsehen können – es bleibt zu hoffen, dass dies auch dem anvisierten breiteren Publikum möglich ist. Denn: dieses Doppelwerk repräsentiert nicht nur die Pluralität gegenwärtiger Reformationsforschung. Es ist zugleich ein schöner Ausdruck für die Potentiale, welche die Reformationsdekade gerade in interdisziplinärer Hinsicht freigesetzt hat.

 

Tobias Jammerthal, Redakteur für „Klassiker und Rezensionen“

[1] Zwei Beispiele: S. 198 „Seit dem Hochmittelalter war in der lateinischen Kirche die Transsubstantiationslehre gängig“. Richtig ist, dass das Lateranum IV 1215 zur Beschreibung des Konsekrationsvorgangs auf dieses Theorem zurückgriff. Der Blick auf die theologische Literatur des 13.-15. Jahrhunderts zeigt aber eine Vielzahl an alternativen Konzepten, um die reale Gegenwart Christi denkerisch zu plausibilisieren. Erst mit Trient wird die Transsubstantiationstheorie zur herrschenden Lehre. – Ferner ist es sachlich doch etwas übertrieben, wenn (S. 247) behauptet wird, Luther habe das Wittenberger Augustinerkloster bei seiner Rückkehr von der Wartburg „geplündert“ vorgefunden.

[2] Die sogenannte „Zwei-Reiche-Lehre“ wird beispielsweise auf einer einzigen Seite statt in einem wissenschaftlichen Aufsatz abgehandelt (322). Dort liest der ob solcher Kooperation dann doch überraschte Theologe, dass das Lexem eine Wortschöpfung von Emmanuel Hirsch und Karl Barth „zusammen“ gewesen sei. Der vorangehende Aufsatz über „Luther und die Politik“ aus der Feder von Benjamin Hasselhorn ist nicht vorrangig an Luthers Obrigkeitstheologie interessiert – was man dem Verfasser nicht zum Vorwurf machen kann. Gerade deshalb hätte jedoch eine theologische Einordnung dieses wichtigen Gebiets reformatorischer Theologie not getan.

[3] Zur Auseinandersetzung mit den aus protestantischer Sicht überaus problematischen Thesen dieses Gelehrten sei dringend verwiesen auf die treffende Rezension von Strohm, Christoph, Brad S. Gregory, The Unintended Reformation. How a Religious Revolution Secularized Society, in: Evangelische Theologie 75 (2015), Heft 2, S. 156-160.

Reformatorische Theologie heute II

Anstöße für die Praxis

Im Namen des Netzwerks Theologie in der Kirche formuliert von Tobias Graßmann, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Julian Scharpf, Niklas Schleicher und Martin Böger.

Begleitende Mitarbeit: Christian Kamleiter und Micha Thiedmann.

Vorbemerkung

Zum Reformationstag hatten wir sechs Thesen anlässlich des Reformationsjubiläums formuliert. Wir freuen uns, dass diese Thesen dort, wo sie wahrgenommen wurden, durchweg auf Zustimmung gestoßen sind.

Allerdings wurde die berechtigte Rückfrage gestellt, welche Konsequenzen diese Thesen für die praktische Umsetzung der Jubiläumsfeierlichkeiten haben könnten. Daher haben wir unternommen, ausgehend von unseren Thesen Denkanstöße für die Praxis zu formulieren. Sie sollen dazu einladen, die eigene Gemeinde und das Veranstaltungsprogramm vor Ort in den Blick zu nehmen und kritisch zu evaluieren: Was gibt es bei uns schon, wo gibt es vielleicht noch Nachholbedarf?

Im Folgenden haben wir zudem einige Ideen für die Umsetzung zusammengetragen. Diese sind darauf ausgerichtet, mit relativ geringem Aufwand und mitunter auch kurzfristig umgesetzt zu werden. Die meisten lassen sich als besondere Schwerpunkte im Rahmen des bestehenden Gemeindelebens realisieren. Keinesfalls soll es sich bei diesen Vorschlägen um ein Gesamtpaket handeln, das von einer einzelnen Gemeinde abzudecken wäre. Zudem spricht bei keinem der Vorschläge etwas dagegen, ihn erst jenseits des Jubiläumsjahres zu realisieren.

1. Reformatorische Theologie gestaltet kirchliches Leben.

Herausforderung: Über Theologie reden!

Luther wurde von seinen Gegnern vorgeworfen, theologische Fragen ungebührlicherweise „an die Biertische“ gebracht zu haben. Die Reformatoren meinten: Theologie geht alle an! Dagegen gehen wir heute eher verschämt mit unserer Theologie um. Stellen wir auch die Frage nach Gott oder ziehen wir uns auf Luther als „mutigen Menschen“, Sprachgenie oder Kirchenreformer zurück? Trauen wir uns noch, theologische Fragen an die Biertische zu bringen (oder zumindest auf die Schulbänke, Sitzungstische, Kanzeln)? Schaffen wir es, so über theologische Fragen zu reden, dass aus einer akademischen Arkandisziplin gemeinsames Nachdenken über Gott wird? Und stimmt die Art, wie wir von Gott reden, überhaupt mit unseren theologischen Überzeugungen überein?

Praxisvorschläge:

  • Sich im Kirchenvorstand einmal Zeit nehmen, sich gemeinsam mit einem theologischen Topos zu beschäftigen (z.B. dem Abendmahl).

  • Das Konfirmandenmodell um eine Einheit „Theologisieren mit Jugendlichen“ ergänzen. Einen Diskussionsabend zu einer theologischen Streitfrage ausrichten (z.B. „Warum lässt Gott das Leiden zu?“, „Wie menschlich ist Gott?“, „Wozu Trinität?“).

  • Die Kolleginnen und Kollegen als theologische Gesprächspartner wahr- und ernstnehmen und den Austausch suchen.

  • Sich Zeit nehmen, eine theologische Neuerscheinung zu lesen.

 

2. Reformatorische Kirche bedarf der theologischen Gestaltung.

Herausforderung: Lust auf theologische Berufe machen!

Dieser Punkt ist schwer vom ersten abzugrenzen. Aber vielleicht kann man sagen: Wenn Kirche auf theologische Gestaltung angewiesen ist, dann auch auf Menschen, die theologische oder theologisch-pädagogische Berufe ergreifen. Menschen für einen solchen zu begeistern wäre der denkbar nachhaltigste Ertrag des Reformationsjubiläums! Wie gehen wir mit Menschen um, die eventuell interessiert und für einen solchen Beruf geeignet wären? Wecken wir bei ihnen Lust und Mut für diesen Schritt? Oder schrecken wir sie eher ab, weil wir ständig nur über unsere Belastungen und Frusterfahrungen klagen? Und falls die Klagen berechtigt sind: Was tun wir, um diese Belastungen abzubauen und wieder mehr Raum für theologische Gestaltung zu gewinnen?

Praxisvorschläge:

  • In der Schule eine Runde „Frag den Pfarrer/die Pfarrerin“ anbieten.

  • Menschen anhand eines Bildes, eines Films oder Musikstücks zeigen, wie Theologie neue Zugänge zu Werken unserer Kultur erschließen kann.

  • Im Jugendmitarbeiterteam vom eigenen Studium erzählen.

  • Einen persönlichen Kontakt zu Mitarbeitern einer theologischen Fakultät knüpfen oder reaktivieren.

  • Mit dem Kirchenvorstand die Aufgaben in der Gemeinde auf ihre theologische Dimension befragen und danach gewichten.

 

3. Die reformatorischen Kirchen erinnern sich an Martin Luther, weil und insofern er das Anliegen reformatorischer Theologie anschaulich macht.

Herausforderung: Nicht bei Luther stehen bleiben!

Luther polarisiert, er taugt als Zugpferd, Luther ist ein Kassenschlager! Seine Bekanntheit und seine zentrale Rolle innerhalb der reformatorischen Bewegung erlauben es, Veranstaltungen alleine zu Luther anzubieten. Aber muss das immer so sein? Sollten wir den „Luthereffekt“ nicht auch nutzen, das verbreitete Bild der Reformationszeit um weitere Facetten zu ergänzen? Kennt unsere Erzählung der Reformation andere Rollen außer eindimensionalen Schurken (z.B. Tetzel) oder Statisten (z.B. Melanchton, Friedrich der Weise)? Gerade durch die Fokussierung auf Luther ist in unserer Kirche auch die Auseinandersetzung mit seinen Schattenseiten weit vorangeschritten. Aber vielleicht könnte auch diese Aufarbeitung an Tiefe gewinnen, wenn wir Luther ins Gespräch mit anderen Vertretern reformatorischer Theologie und altgläubigen Gegnern bringen.

Praxisvorschläge:

  • Eine Veranstaltung (Gottesdienst, Seniorenkreis o.ä.) anbieten, in der eine andere reformatorische Person gleichberechtigt neben Luther steht (Luther und Spalatin, Luther und Melanchton, Luther und Karlstadt, Luther und Calvin).

  • Einem Gegner Luthers (Müntzer, Erasmus, Karl V., Zwingli) eine kritisch-würdigende Predigt an einem Kirchenfest widmen.

 

4. Die Reformation zu feiern heißt Christus zu feiern.

Herausforderung: Begegnung mit Jesus Christus ermöglichen!

Die Rede vom Reformationsjubiläum als „Christusfest“ ist in Stellungnahmen der Kirchenleitung und auch in der Pfarrerschaft weit verbreitet. Aber was ist damit eigentlich gemeint und wie wird dieser Christusbezug in den Feierlichkeiten konkret? Sollen damit lediglich im Interesse ökumenischen Miteinanders die strittigen Punkte reformatorischer Theologie relativiert oder eingeklammert werden? Einer solchen schwachen Interpretation können wir uns nicht anschließen. Stattdessen sollten wir uns die Frage stellen: Wie können wir in diesem Jahr tatsächlich Menschen die Begegnung und Auseinandersetzung mit Jesus Christus ermöglichen?

Praxisvorschläge:

  • Eine Kinderbibelwoche mit Jesusgeschichten.

  • Passionsandachten, welche die Begegnung mit der Passionsgeschichte und protestantischer Passionfrömmigkeit ermöglichen (in Gestalt von Liedern, Bildern usw.).

  • Eine Predigtreihe unter dem Titel „Was Christum treibet“.

  • Bei der Predigtvorbereitung neu das Augenmerk darauf richten: Kommt zur Sprache, was Christus uns heute zu sagen und was er für uns getan hat?

5. Die Einheit der Kirche in Christus steht nicht im Widerspruch zur Vielgestalt christlicher Kirchen.

Herausforderung: Vielfalt evangelischer Frömmigkeit feiern!

Mit unseren katholischen Schwestern und Brüdern sind wir auf dem Weg zu versöhnter Verschiedenheit bereits weit gekommen. Aber wie halten wir es eigentlich mit der Pluralität evangelischen Christentums? Nehmen wir Freikirchen bewusst als eine verwandte Gestalt von Christentum war, die ebenfalls auf die Reformation zurückgeht? Können wir diese Frömmigkeit oder bestimmte Züge davon würdigen oder sehen wir uns durch sie eher bedroht? Ähnliches gilt für Menschen aus unseren Gemeinden, die aus einer anderen Kultur oder Tradition stammen, wie etwa Siebenbürger oder Russlanddeutsche: Nehmen wir deren Frömmigkeit nur als Normabweichung oder gar als Integrationshindernis wahr? Gelingt es uns, durch exemplarische Aktionen die Vielfalt evangelischen Christseins zu feiern? Schätzen und pflegen wir die Vielfalt unserer Kirchenmusik als sprechenden Ausdruck der Vielfalt evangelischer Frömmigkeit?

Praxisvorschläge:

  • Eine gemeinsame Bibelarbeit mit einer baptistischen oder charismatischen Gemeinde zu einem Schlüsseltext der Reformation (z.B. aus dem Römerbrief oder Galaterbrief).

  • Ein Gottesdienst mit anschließendem Gemeindefest zum Thema „Evangelisch und aus Russland“.

  • In lutherisch geprägten Gemeinden einen schlichten Wortgottesdienst nach reformierter Liturgie feiern, in reformierten oder eher reformiert geprägten Gemeinden z.B. eine Deutsche Messe anbieten.

  • Die musikalische Vielfalt des Gesangbuchs bewusst nutzen: in jedem Gottesdienst Gemeindelieder aus mehreren Epochen der Liedgeschichte singen.

  • Kirchenmusikalische Potentiale ausschöpfen: einmal im Monat besondere kirchenmusikalische Akzente im Gottesdienst setzen – in thematischer Abstimmung mit dem Predigttext.

6. Durch die Vergegenwärtigung der Reformation leisten die reformatorischen Kirchen ihren Dienst an der einen Kirche Jesu Christi.

Herausforderung: Selbstbewusst protestantisch in ökumenischer Offenheit!

Der Blick auf das Gemeinsame und den erreichten Stand der Ökumene ist wichtig und hat sein Recht im Rahmen der Feiern. Doch nehmen wir unsere ökumenische Sendung als Protestanten wahr, wenn wir die bestehenden Unterschiede zwischen den Kirchen und ihren Konfessionskulturen herunterspielen? Wo suchen wir mit Christinnen und Christen anderer Konfessionen (besonders röm.-kath. und orthodox) den Austausch gerade über die Fragen , in denen noch immer spürbare Differenzen bestehen? Selbst wenn damit Menschen so nur ihre eigene Tradition besser kennen lernen, hat sich der Dialog gelohnt. Doch vielleicht lassen sich auf diesem Weg ja auch interessante Perspektiven eröffnen, z.B.: Wie katholisch oder orthodox erscheint uns Luther heute?

Praxisvorschläge:

  • Einen ökumenischer Gottesdienst zu katholischen und evangelischen Perspektiven auf eine Heilige/einen Heiligen, dessen bildliche Darstellung und Verehrung.

  • Kanzeltauschaktion mit einem katholischen Kollegen z.B. unter dem Titel „Wie evangelisch ist der Papst?/Wie katholisch ist Luther?“

  • Einen ökumenischen Gemeindeabend zum Thema: „Gutes Werk oder heiliger Schein?“ oder „Sind alle Getauften Priester?“

Reformatorische Theologie heute

Im Namen des Netzwerks Theologie in der Kirche formuliert von Claudia Kühner-Graßmann, Julian Scharpf, Tobias Jammerthal, Niklas Schleicher und Tobias Graßmann

Vorbemerkung

Seit einem Jahrzehnt bereitet sich die EKD auf das Reformationsjubiläum 2017 vor, das unter anderem feierlich mit verschiedenen Aktionen an historischen Stätten der Reformation begangen werden soll. Diese Feierlichkeiten und das Jubiläum als solches sind von unterschiedlichen Seiten der Kritik unterzogen worden: So wird gerade von katholischer Seite eingewandt, dass eine Feier der Reformation grundsätzlich nicht angebracht sei, da diese für die Spaltung der abendländischen Christenheit verantwortlich wäre. Eine andere Art der Kritik legt darauf Wert, festzustellen, dass das Datum und der damit verbundene Fokus auf den Wittenberger Thesenanschlag durch Martin Luther schlecht gewählt seien, weil die Reformation vielschichtiger und differenzierter sei.

Diese Kritikpunkte lenken den Blick auf zentrale Fragen des Reformationsgedenkens, sind in der vorgebrachten Schärfe jedoch zurückzuweisen. Die protestantischen Kirchen, die wie auch die heutige Gestalt der römischen Kirche aus der Reformation hervorgegangen sind, können sich selbstbewusst als eine eigentümliche Verwirklichung der wahren Kirche Jesu Christi begreifen, ohne anderen Kirchen diese Rolle streitig zu machen. Damit bedeutet die Reformation mehr als das Ende der einen, abendländischen Kirche. Wenn das Jubiläum dieses „Mehr“ fokussiert und so das bleibende und wertvolle Erbe der Reformation vergegenwärtigt, dann ist es gerechtfertigt, dies auch als Feier zu begehen.

Im Folgenden stellen wir sechs Thesen zur Diskussion, die unser Verständnis der Reformation, der reformatorischen Kirchen und der Bedeutung des Reformationsjubiläums umreißen. Wir tun dies in der Hoffnung auf Zustimmung, Widerspruch und eine konstruktive Diskussion.

Thesen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017

1. Reformatorische Theologie gestaltet kirchliches Leben.

Das zentrale Anliegen der Reformation bestand darin, kirchliches Leben neu am Evangelium Jesu Christi auszurichten und zu gestalten. Dies sollte auch ein zentrales Anliegen gegenwärtiger reformatorischer Theologie sein. Die Gestaltung verläuft aber nicht linear von der Theologie zur Kirche, sondern im Wechselspiel von Impulsen aus Wissenschaft und Praxis, Tradition und aktuellen Herausforderungen. Theologische Reflexion finden auf verschiedenen Ebenen statt, die zu vermitteln sind: von der universitären Theologie bis hin zur kirchlichen Praxis einzelner Gemeinden. Hauptträger dieser Vermittlung sind Pfarrerinnen und Pfarrer als Theologen. So müssen die Ebenen zwar unterschieden werden, sind aber nicht zu trennen.

2. Reformatorische Kirche bedarf der theologischen Gestaltung.

Die Gestaltung kirchlichen Lebens durch eine in diesem Sinn reformatorische Theologie ist für das kirchliche Leben unverzichtbar. Das bedeutet nicht, dass die geschichtlichen Bedingungen der Reformationszeit innerhalb der Kirche konserviert werden sollen. Andererseits ist damit auch keine Dauerreform der kirchlichen Strukturen und Verkündigungsformen gemeint, die sich in oft vorschneller Anpassung an sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen vollzieht. Vielmehr gilt es, die kirchliche Praxis kritisch zu überprüfen und ein geeignetes Verhältnis von Traditionsbindung und Neugestaltung zu finden. Die Kirche ist dabei auf die Theologie als reflexives Moment angewiesen.

3. Die reformatorischen Kirchen erinnern sich an Martin Luther, weil und insofern er das Anliegen reformatorischer Theologie anschaulich macht.

Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen feiern 2017 kein Lutherjahr. Wir feiern den Beginn der tiefgreifenden Erneuerung der christlichen Kirche, die untrennbar mit Luther verbunden sind. Luthers Wortgewalt und Tatkraft, seine theologische Originalität und seine religiöse Tiefe sind wahrhaft Grund genug, ihn als Zentralgestalt aus der reformatorischen Bewegung herauszuheben. Dabei wird weder eine Dämonisierung, noch eine Heiligsprechung dem evangelischen Personenverständnis und der Person Luthers gerecht. Ein realistischer Blick auf Luthers Werk und Wirken, der auch Abgründe und dunkle Stellen benennt, sowie die kritische Würdigung der bisherigen Reformations- und Lutherjubiläen bieten die Chance, Nebensächlichkeiten beiseite zu schieben und so auch dem einen zentralen Anliegen Luthers gerecht zu werden: dem Wort von der Rechtfertigung des Gottlosen.

4. Die Reformation zu feiern heißt Christus zu feiern.

Gerade weil die evangelischen Kirchen sich an Martin Luther und die anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts im Anschluss an Hebr 13,7 als solche erinnern, die ihnen das Evangelium gepredigt haben, feiern sie mit den Verkündigern des Evangeliums Jesu Christi letztlich und eigentlich Christus selbst. Mit der Vergegenwärtigung des Rufs zur Sache, den reformatorische Theologie für die Kirche ihrer Zeit bedeutete, lässt sich die Kirche der Gegenwart selbst wieder aufs Neue zur Sache rufen: Jesus Christus heute und morgen, und derselbe auch in Ewigkeit (Hebr 13,8). Und so feiert sie in den Zeugen den Bezeugten und gelobt, sich immer wieder aufs Neue in seinen Dienst zu stellen.

5. Die Einheit der Kirche in Christus steht nicht im Widerspruch zur Vielgestalt christlicher Kirchen.

Gegenwärtig manifestiert sich die eine christliche Kirche in verschiedenen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, von denen die Kirchen der Reformation nur einen Ausschnitt bilden. Aber auch innerhalb der protestantischen Kirchen gibt es verschiedene Spielarten evangelischer Frömmigkeit und konfessionelle Unterschiede. Dieser Pluralismus widerspricht keineswegs der Tatsache, dass die Kirchen Jesus Christus als den einen Herrn anerkennen, sondern ist vielmehr sowohl den Quellen des Neuen Testaments als auch der heutigen Situation angemessen. Bereits im Neuen Testament kannte die Gemeinde unterschiedliche Ausdrucksformen der Jesusnachfolge (vgl. nur Gal 2,9: Judenchristentum und Heidenchristentum) und so findet auch die heutige ausdifferenzierte Gesellschaft ihre Entsprechung in den unterschiedlichen Arten und Weisen, sich zur Kirche Jesu Christi zu bekennen.

6. Durch die Vergegenwärtigung der Reformation leisten die reformatorischen Kirchen ihren Dienst an der einen Kirche Jesu Christi.

Indem die reformatorischen Kirchen die Reformation feiern, bekennen sie, dass dieser eine bleibende Bedeutung für die gesamte Christenheit zukommt. Diese gründet nicht zuletzt darin, dass die Glaubensfragen des Einzelnen nicht mehr um der Einheit der Kirche willen zum Schweigen gebracht werden dürfen. So wird die Kirche erst befähigt, sich durch die Kritik Einzelner neu am Wort auszurichten. Wie können die biblischen Schriften uns zum Wort Gottes werden? Wie ist das Heilsgeschehen in Jesu Christi Kreuzestod und Auferstehung angemessen zur Sprache zu bringen? Wie werden wir als Menschen befähigt, Gottes Willen zu entsprechen? Wo die Reformation vergegenwärtigt wird, da sind Christen aller Konfessionen eingeladen, sich Fragen wie diesen zu stellen und so zu einem tieferen Verständnis ihres Glaubens zu gelangen –

„…bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi“. (Eph 4,13)