Die Ethik des social-distancing

Unzusammenhängende Notizen

Von Niklas Schleicher

Es ist ein bisschen mehr als zwei Wochen her, da gab es eine Sitzung zur Vorbereitung der ökumenischen Passionsandachten im Ort, in dem ich Vikar bin. Wir waren zu sechst: Die zwei evangelischen Geistlichen, eine katholische Pastoralreferentin, ein Pastor der Methodistischen Kirche, eine evangelische Gefängnisseelsorgerin und halt ich. Wir haben über Corona gesprochen, damals schien das noch nicht so drastisch, wie es sich jetzt darstellt. Die Gefängnisseelsorgerin äußerte starke Bedenken gegen mögliche Ausgangssperren oder Absagen von Gottesdiensten. Ich versuchte etwas gegenzuhalten, weil ich schon durchaus überzeugt war, dass dieses Virus gefährlich sein könnte. Jene Pfarrerin jedenfalls plädierte vehement dafür, dass wir unsere Freiheitsrechte nicht zu leichtfertig aufgeben sollten. Vielleicht hatte sie ein bisschen recht.

Irgendwie habe ich das Bedürfnis etwas zu schreiben aus der Perspektive theologischer Ethik bezüglich Corona. Klar, ein zusammenhängender Text wäre vielleicht besser. Aber irgendwie fehlt mir dazu der Mut und die Idee, was das Zusammenhängende sein könnte, das jetzt schon zu sagen wäre. Und ich bin halt auch keiner, dem es leicht fällt, irgendwie neue Großtheorien zu verkünden1. Manche sind in sowas einfach besser. Deshalb: Im Folgenden ein paar unzusammenhängende Beobachtungen und Gedanken mit der Möglichkeit das beizeiten fortzusetzen. Und weil ich das ernst nehme mit dem #stayathome, steht hier wieder mal die Twitter-Debatte im Fokus. Sehen wir am Ende, wo wir dann eigentlich stehen werden.

  „Schön ist es auf der Welt zu sein. Sagt die Biene zu dem Stachelschwein“. So der Refrain eines recht bekannten Kinderlieds. Interessanter doch aber die Strophe, wo es darum geht, dass das Schönste an der Schule die Ferien sein und „Das Schönste im Leben ist die Freiheit.“ Nun ja. Schule ist ja erstmal auch vorbei und zur Freiheit gibt es doch in den letzten Tagen einiges zu sagen. Diese ist mittlerweile in Deutschland so eingeschränkt, wie wahrscheinlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und man verstehe mich nicht f alsch, die Maßnahmen sind wahrscheinlich die richtigen. Aber: Es sind nun mal Ausgangssperren und nicht „zeitlich beschränkte Solidaritätsaktionen“.  Und ja, der Witz an Freiheit ist, dass jeder Mensch zunächst und wenn er nicht gegen Gesetze verstößt, selbst entscheiden darf, was er darunter versteht. Mich befremdet es, dass jetzt wieder alle wissen, was der richtige Ausdruck an Freiheit ist. Denn sind wir ehrlich: diesen Freiheitspathos verzeihen wir Protestanten unserem Luther sowieso nie mehr.

Überhaupt wäre etwas mehr Ehrlichkeit schon auch für unsere Blase schön. Ich habe mich vor ein paar Tagen mit einer Freundin unterhalten, die Psychotherapeutin ist. Die sagte, dass das, was da passiert mit diesem social distancing, für Menschen, die in der Therapie sind, extrem gefährlich sein kann. Und dann hier bei mir im Ort: Dort machen nach und nach die Tafeln zu. Da reden wir noch gar nicht von den Menschen an den Grenzen Europas. Ja, die Ausgangssperren und die Einschränkung des öffentlichen Lebens sind wichtig und richtig. Aber: Sie sind eben auch eine Güterabwägung. Eine Güterabwägung, bei der ein paar auf der Strecke bleiben werden. Das sollten wir schon so benennen. Irgendjemand hat im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Corona die Phrase „Whatever it takes“ verwendet. Es war wahrscheinlich Söder [Nein, Niklas, es waren Altmaier/Scholz. Macht aber nichts. Kommentar TG]. Ich weiß nicht, wen der, wenn er es denn war, damit zitiert hat [Mario Draghi, TG]. Aber bei Söder könnte ich mir schon vorstellen, dass er Tony Stark (Iron Man) aus dem letzten Avengers-Film vor Augen hatte [Fürwahr!]. Der Slogan von ihm und seinen Avengers vor dem Endkampf gegen den Super-Bösewicht war eben jenes „Whatever it takes!“. Damit meinten sie aber ihren Leib und ihr Leben. Und nicht das Wohlergehen von Menschen, über die entschieden wird.

Ja, dass wir keine Gottesdienste mehr feiern dürfen, ist schwer. Aber es ist richtig. Und dass viele Pfarrer und Pfarrerinnen nochmal vehement dafür eintreten, sich an dieses Verbot auch zu halten, ist gut. Aber sind, so war es auf Twitter zu lesen, denn diejenigen, die sich an Abstandsgebote nicht halten oder halten wollen, denn Pest- oder Coronaratten? Ich meine, das ist ja nur symptomatisch für eine ganz interessante Beobachtung. Die Beobachtung, dass die (vielen) Wachen auf Twitter und Co. sich sehr schnell über die (vielen) Dummen da draußen auslassen. Einer oder eine hat geschrieben, dass #stayathome auch eine Klassenfrage sei. Vielleicht muss man darüber auch nochmal nachdenken.

Apropos Frei: Ich habe einen ganz guten Bestand an Entwürfen theologischer Ethik daheim rumstehen. Wovon die alle irgendwie frei zu sein scheinen, ist die Behandlung von Triagen2, also der Begutachtung von Patienten nach ihren Lebenschancen im Falle von nicht ausreichenden Ressourcen. Vielleicht dachten wir alle, dass das maximal etwas ist, dass bei philosophischen Gedankenspielen in Dilemmageschichten Verwendung finden sollte. Und vielleicht ist eine Medizinethik, die, bei aller Aufnahme von Ideen aus der feministischen Ethik, immer noch von der Beziehung zweier handelnder Individuen (Arzt und Patient) ausgeht, auch gar nicht in der Lage, dass zu behandeln. Aber allein im Betrauern dieser Tatsache und der gleichzeitigen Abwälzung dieses Problems auf die Ärzteschaft ist es halt auch nicht getan. Auch wenn man damit natürlich wiedermal das erreicht, was gerade die theologische Ethik immer wieder gerne versucht: Sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen.

Dass es jetzt in den letzten Tagen viele philosophisch-rechtliche Guidelines gibt, ist natürlich wichtig und richtig. Aber vielleicht, nur vielleicht, merken wir, dass uns mal eine grundsätzliche Auseinandersetzung damit fehlt, dass das „Leben eines Menschen“ nicht immer als unangreifbar und absolut sakral gelten kann. Und zwar nicht erst dann, wenn es wirklich darum geht, ein Leben gegen ein anderes abzuwägen. Nicht erst, wenn wir sowieso schon mit dem Rücken zur Wand stehen.

Das Wort „Grausam“ ist schwer zu definieren. Man kann aber, so sinngemäß ein Aufsatz von Johannes Fischer, Situationen erzählen, auf die diese Definition zutrifft. Auch wenn mir da vielleicht nicht alle zustimmen, würde ich es als grausam bezeichnen, wenn Menschen bestattet werden müssen und bei der Trauerfeier von vornherein nicht mehr als 10 Menschen dabei sein dürfen. So ist jedenfalls die Regelung in Württemberg. Bei dem Tod eines Elternteils von mir wären das nicht mal diejenigen Personen, die ich als Kernfamilie bezeichnen würde. Klar, in diesem eigenen Falle würde mich das wahrscheinlich nicht stören – aber das sich dagegen nicht Widerstand erhebt, sondern, dass das sogar begrüßt wird, auch von uns Kirchenmenschen, finde ich schon ein bisschen verstörend.

Nochmal zurück zur evangelischen Theologie und zur Philosophie: Ein Paradigma der letzten Jahre war doch irgendwie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und in unterschiedlichen Schulen die Bedeutung von menschlichen Beziehungen für das Person-Sein. Mensch sein vollzieht sich dementsprechend immer in Beziehungen. Haben wir eigentlich darüber nachgedacht, was wir tun, wenn wir widerspruchslos hinnehmen, dass wir nun einige Menschen von Beziehungen abschneiden? Klar, viele von uns leben in Familien oder festen Beziehungen. Und viele nutzen die neuen Medien, um Kontakt zu halten. Und wieder andere werden von Menschen aus ihren Kontexten kontaktiert durch unterschiedliche Mittel. Aber es gibt sie eben auch, diejenigen, deren Kontakt darin besteht, samstags auf den Markt zu gehen, oder mittwochs ins Wirtshaus. Und es wäre vermessen und dumm, anzunehmen, dass man die schon irgendwie anders erreicht. Hieran und an weiteren Beispielen wird dieses Paradigma des Mensch-Seins in Beziehungen irgendwie doch auch deutlich. Vielleicht sollte man sich künftig Corona vor Augen führen und was man da von dieser Tatsache gehalten hat, wenn man wieder mal die Bedeutung von menschlichen Beziehungen im palliativmedizinischen Kontext betont, vor allem wenn es darum geht, das gegen Sterbehilfe auszuspielen. Aber das führt jetzt sehr weit weg…

Man könnte zu jedem dieser Punkte noch deutlich mehr und deutlich kohärenter schreiben. Aber das dürfen dann andere machen. Und vielleicht kommen in ein paar Wochen noch ein paar Punkte dazu. Ansonsten bleibe ich weiter, zumal als schon irgendwie auch nicht ganz ohne Risiko, im #socialdistancing und beobachte den unaufhaltsamen Aufstieg des Markus Söders. Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

2 Zu Triagen erscheint in den kommenden Tagen ein Text von mir auf: https://eulemagazin.de/.

Theologische Brandstiftung

Ein Kommentar zu Frischs Klimakrisenkritik

von Hermann Diebel-Fischer

Ralf Frisch kommentiert cum ira et studio für Zeitzeichen unter der Überschrift Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer die Klimakrise, die er als »Klimahysterie« bezeichnet.

Es ist ein Aufkleber mit der Aufschrift ›Fuck you Greta!‹ (sic!), der Frisch in seinen Bann zieht und ihn darüber sinnieren lässt, ob er als Theologe sich »theologisch angemessen« verhielte, klebte er diesen Aufkleber auf sein Fahrzeug. Dieses Nachdenken ordnet Frisch als Provokation ein, die er um des Wahrgenommen-werdens willen begeht, um gleich darauf nach weiteren Gründen zu suchen. Frisch sieht seinen Verzicht auf den »provokanten Protest« als Resultat einer theologischen Affektkontrolle, will aber dennoch ein Fünkchen Wahrheit in der nicht vollzogenen Protestaktion erkennen und meint, diese theologisch begründen zu können.

Frischs Kritik richtet sich nicht nur persönlich gegen Thunberg, die er als humorlose »Prophetin« des von ihm entdeckten »Klimagottes« beleidigt, sondern vornehmlich dagegen, dass seiner Ansicht nach der Klimawandel an die Stelle tritt, die durch die Säkularisierung freigeworden scheint – an etwas Großes zu glauben, mit allen Konsequenzen, die dies vermeintlich hat. Er sieht hier Konkurrenzverhältnis zwischen der Reaktion auf die von Thunberg – wissenschaftlich belegten und somit berechtigtermaßen – aufgezeigten Probleme und dem christlichen Glauben, der – so die Zahlen – sich gerade weniger eines konjunkturellen Aufschwungs erfreuen kann.

Ist es Trauer um das Verlorengehen einer volkskirchlichen Tradition, die hier zu einer theologisch verqueren Reaktion führt? Wenn die Sorge um den Klimawandel dem Protestantismus, zu dessen Kernidee die Unterscheidung von Gott und Welt gehört, tatsächlich als Konkurrenz erscheint – wie steht es dann um ihn? Wie Frisch vom »neuen Glauben« zu sprechen zeugt doch von einer durch Konkurrenzdenken generierten Vergessenheit darüber, was Glaube überhaupt bedeutet.

Die Gemengelage wird dort unübersichtlich, wo Frisch der evangelischen Kirche unterstellt, dass auch in ihren Reihen eine von ihm identifizierte, klimakrisenevozierte, demokratieverachtende Tendenz »schleichend an Plausibilität gewinnt«, denn »[…] es entsetzt [Frisch] geradezu, dass die Bereitschaft, einer Alles-oder-Nichts-Logik zu folgen und totalitär aufs Ganze zu gehen, gerade in der bundesdeutschen Gegenwart wieder fröhliche Urstände feiert.« Dass Forderungen einer gewissen Radikalität nicht entbehren dürfen, um überhaupt Gehör zu finden hat Frisch in seinem Text eingangs noch festgestellt – dann aber scheinbar unterwegs vergessen. Die unterstellte Protestantismuswidrigkeit einer nicht näher erklärten »Schuld-und-Sühne-Logik«, die im Zusammenhang mit Klimaschutzbestrebungen bestehe sowie der Vorwurf einer »schöpfungswidrig[en]« »Alles-oder-Nichts-Logik« sind tiefe Griffe in die theologische Werkzeugkiste – allerdings ohne Erfolg, denn mitnichten wollen sich die Menschen, deren Ziel es ist, die Klimakatastrophe irgendmöglich abzumildern, selbst zu Gott machen, noch haben sie zum Ziel, eine Religion zu etablieren.

Von Frisch als problematisch Wahrgenommenes wird von ihm zur Religion theologisiert und dann zur Häresie erklärt. Das ist eine perfide Abwehrstrategie, die man sich genauer ansehen muss. Sie dürfte politisch nicht neu sein und lässt protestantismustheoretisch alle Alarmglocken ob einer unbotmäßigen Inanspruchnahme theologischer Topoi schrillen. Frischs Parallelisierung alttestamentlicher Erzählungen über die menschliche Hybris wie Gott sein zu wollen mit der Klimaschutzbewegung ist exegetisch durchaus fragwürdig, wird aber richtig skurril, wenn er unter Verweis auf die Zwei-Regimente-Lehre eine theologisch legitimierte Kritik am Klimaschutzstreben zu konstruieren versucht.

Frischs Lamento, dass es keine dogmatischen Häresien, sondern nur noch ethische gebe, schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die Forderung nach einer Entpolitisierung des Protestantismus, die oft nur der Abwehr einer bestimmten politischen Position dient. Seine Kritik, dass der Streit um ethische Fragen den um dogmatische abgelöst hat, rückt die nicht alternde, fundamentaltheologische Debatte darum, wie Ethik und Dogmatik zueinander stehen in den Fokus. Frisch will einen »Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart« ausmachen, vergisst dabei aber, das sämtliche dieser Frage nie in einem dogmatischen Vakuum verhandelt werden, sondern immer mindestens implizite dogmatische Aushandlungen rückgebunden sind, die zweifellos auch jederzeit Gegenstand theologischer Aushandlungen werden können.

Aber schon der Vorwurf »ethischer Häresien« geht hier fehl, weil er das Bild eines Protestantismus zeichnet, in dem es nur die eine evangelische Handlungsoption gibt. Das ist schlicht falsch. Dass Frisch daraus dann die vermeintliche dogmatische Häresie eines menschgemachten Versuchs der Vorwegnahme eschatologischer Versprechen macht, wirkt nachgerade als Folgefehler. Frisch fordert sodann eine ›Ent-Eschatologisierung‹ zum Zwecke einer klareren Debatte: »Das eigentliche theologische Problem wäre dann also nicht die Frage, wie es um das Weltklima bestellt ist, sondern die Tatsache, dass ein neuer Glaube entstanden ist.« Hier schließt sich der Kreis. Die Forderung nach der Ent-Eschatologisierung kann überhaupt nur für denjenigen plausibel sein, der den Versuch einer Klimarettung als Akt menschlicher Anmaßung begreift. Die für Frisch offensichtlich unbequeme Klimaschutzbewegung, wird durch ihn zunächst religiös aufgeladen, damit er dann unter Zündung eines theologischen Tischfeuerwerks den Versuch einer Sprengung derselben vornehmen kann. Wer sich als Theologe in Zeiten einer zunehmenden Entchristlichung und einer Infragestellung des eigenen Lebensstils durch andere an zwei Fronten angegriffen wähnt, darf sich – gerne auch offensiv – verteidigen. Die Strategie dazu will aber gut überlegt sein. Wenn ich, wie im law of the instrument beschrieben, mein Problem erst zum Nagel machen muss, weil ich nur einen Hammer habe, dann sollte ich sie überdenken.

Beinahe vernachlässigbar erscheint in diesem Lichte, dass theologisch Fragwürdiges politisch angereichert wird: Frisch bedient sich eines Potpourris von Ressentiments, wenn er den Klimawandel als geologisches Phänomen mit einem sozialen Klimawandel in Verbindung bringt. »Ökodiktatur« und die Wünsche vermeintlich privilegierter Stadtbewohner_innen werden hier als Motoren einer Wähler_innenwanderung zu den Rechten dargestellt – weil diese sich politisch anders nicht nur nicht mehr repräsentiert, sondern auch diskreditiert fühlen würden.

Frischs Strategie der Einhegung, der Betonung des dünnen Eises und des schmalen Grates, auf dem er sich bewege und die fortwährende Rede von sich selbst in der dritten Person kann man als schamhafte Distanzierung vom eigenen Machwerk in doppelter Hinsicht interpretieren – als vorweggenommene Distanzierung von der Beleidigung Thunbergs und als Distanzierung vom Text, der eben diese einer Reflexion unterziehen soll.

Ralf Frisch wollte gerne den ›Fuck you Greta‹-Aufkleber an sein Auto kleben, hat es aber wegen seiner »theologische[n] Affektkontrolle« nicht getan. Sein – zu einem nach Ansicht der Herausgegebenden »streitbaren« Text geronnenen – theologischer Irrweg offenbart dabei weitaus mehr als es der Aufkleber, der ans Auto sollte, je gekonnt hätte.

 

Hermann Diebel-Fischer ist evangelischer Theologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Systematische Theologie der Universität Rostock (Projekt: „Netz-Stabil“).

 

(Quelle Titelbild: https://www.flickr.com/photos/schrift-architekt/10127383934, CC BY-SA 2.0)

 

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte (Teil II)

Im zweiten Teil des Beitrags unseres Gastautoren Jonathan Spanos zu den Angriffen der bayerischen AfD gegen die Kirchen geht es um antiklerikale Argumentationsmuster und deren Geschichte sowie eine Verortung in den jüngsten religionspolitischen Debatten der deutschen Parteien.

 Link zu Teil I

Antiklerikale und antichristliche Topoi

Drei Gruppen antikirchlicher Argumentationsmuster lassen sich im Umfeld der AfD und der neurechten Bewegungen identifizieren. Teilweise treten sie alleine auf, häufig aber auch in Mischformen.

Vorwurf der verdeckten Agenda

Hierunter fällt der Vorwurf von Ex-AfD-Landeschef Petr Bystron, die Kirchen würden „unter dem Deckmantel der Nächstenliebe“ ein Milliardengeschäft mit der Flüchtlingskrise machen wollen.[1] Seine Kritik enthielt zudem den Vorwurf, die Kirchen nützten Ehrenamtliche für ihre institutionelle Eigeninteressen aus. In diese Kategorie fällt auch die versuchte Stigmatisierung über den Begriff Lobbyismus. Die Klassifizierung als Lobbygruppe assoziiert Eigenschaften wie Profitgier, Heuchelei und Intransparenz. Zudem setzt dieser Vorwurf voraus, es gäbe eine Art Ideal von idealistischen NGOs, die keinerlei institutionelles Eigeninteresse verfolgen.

Vorwurf der Anpassung an den Zeitgeist

Dieser Topos ist im Kontext des rechten Antiklerikalismus besonders verbreitet. Zugleich ist er auch Bestandteil eines langwierigen inneren Aushandlungsprozesses innerhalb der Kirchen wie auch des konservativ-bürgerlichen Spektrums. Die Auseinandersetzung zwischen der CSU und den Kirchen über den Kreuzerlass und die Frage, wer die christliche Prägung Bayerns offensiver vertreten würde, hat das Thema ebenfalls berührt. Besonders dem deutschen Protestantismus wird seit den 1960er Jahren immer wieder vorgeworfen sich zu sehr an den Zeitgeist anzupassen und so seinen eigentlichen christlich-spirituellen Kern wahlweise zu vergessen oder zu verraten. Als Zeitgeistthemen gelten entweder Flüchtlinge (1980er Jahre bis heute), Umwelt (1970er Jahre bis heute), Gender (heute) oder der Verlust der Bezugnahme auf das „deutsche Volk“ (1960er bis 1980er Jahre). Schon nach der sogenannten Ostdenkschrift von 1965 war ein regelrechter brieflicher Shitstorm über die EKD losgebrochen, in dem sich Vertriebenenvertreter entsetzt darüber äußerten, wie die Kirche die Interessen des deutschen Volks verraten könne. Grob vereinfacht: Die verstärkte Internationalisierung der christlichen Kirchen und ihre Zuwendung zu neuen sozialethischen Themen sorgte in konservativen bis rechtsextremen Kreisen wiederholt für heftige Kritik und Widerstand. Schon in den 1980er Jahren, der Phase als in der Bundesrepublik angesichts steigender Asylbewerberzahlen zum ersten Mal umfangreich über die Flüchtlingspolitik diskutiert wurde, lassen sich Elemente des rechten Antiklerikalismus identifizieren. In Zuschriften an die EKD, die Landeskirchen und das Bundesinnenministerium beklagten die Zuschriften, die Kirchen würden der Regierung das Leben schwer machen und Verschärfungen der Ausländer- und Asylpolitik behindern. Geistliche, die sich für Asylbewerber einsetzen, wurden als „Moralisten“ und „Bußprediger“ diffamiert.[2]

Dieser Topos ist bis heute erhalten geblieben, wenngleich er sich bedingt durch die neue Relevanz des Themas Islam bisweilen in gewandelter Form zeigt. Besonders der Dialog der Religionen und die Zusammenarbeit mit islamischen Verbänden wird von rechter Seite oft als eine Anpassung an einen falschen Zeitgeist bezeichnet. Vor diesem Hintergrund inszenieren sich konservative Journalisten oder Politiker als Bewahrer „echter christlicher Werte“, die sich anders als die zu stark dem Zeitgeist verfallene Amtskirche noch gegen äußere Einflüsse zu Wehr setzen könnten. Gerne geht der „Zeitgeist“-Topos mit der Forderung einher, dass die Kirchen mehr über Glaubensfragen sprechen sollten. Einer der prominentesten Vertreter der Forderung nach einer stärkeren Fokussierung der Kirchen auf spirituelle Angelegenheiten ist der bayerische Ministerpräsident und Protestant Markus Söder.[3] Dabei ist zu beachten: Die getroffene Diagnose als solche muss nicht von vorneherein indiskutabel sein. Auch in der Forschung gibt es die These, dass sich Religionsgemeinschaften in säkularisierten Umfeldern an gesellschaftlich akzeptierte Überzeugungen anpassen, um ihre Stellung zu sichern. Zudem wäre es absurd anzunehmen, dass die Kirchen eine von gesellschaftlichen Einflüssen abgeschottete Position hätten und nicht von außerhalb beeinflusst würden. Entscheidend ist aber, ob eine solche Aussage zu dem Zweck getroffen wird, den Vorgang zu verstehen oder zu analysieren oder ihn zu delegitimieren und verächtlich zu machen.

Vorwurf der falschen Ideologie

Dieser Topos ist im rechten Antiklerikalismus aktuell seltener anzutreffen. Bisweilen findet er sich aber in den Kommentaren rechter Trolle im Internet. Er baut auf den Vorwurf auf, christliche Moral und Ethik wären schlecht und würden falsche Einstellungen, zum Beispiel Mitleid gegenüber Flüchtlingen fördern. Björn Höckes Äußerungen in der Forchheimer Rede, in den Kirchen würden „unsere Kinder zu Schafen gemacht“ lassen sich in diese Kategorie einordnen. Auch Diskreditierungen der Kirchen als „Bußprediger“ und „Moralisten“ fallen in diese Kategorie. Zur Verfügung stehen dabei verschiedene Argumente aus den breiten Traditionsbeständen der Religions- und Moralkritik. Anders als im neuen rechten Antiklerikalismus, der ja häufig für sich in Anspruch nimmt „christliche Werte“ vor den Amtskirchen in Schutz zu nehmen, werden religionspolitische Standpunkte im liberalen und linken Spektrum häufiger mit dem Verweis auf solche Argumente begründet. Dahinter steht zum einen die lange Tradition der sozialistischen Religionskritik. Zudem hat der sogenannte New Atheism seit den 2000er Jahren neue religionskritische Figuren in den Diskurs gespült. Ein Beispiel wäre die Bezeichnung „Hirtenmythologie“, die das Christentum diffamieren soll. Dieser Begriff hat mittlerweile den Weg aus dem Umfeld der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung in Anträge auf SPD-Parteitagen geschafft.[4]

Jüngste Entwicklungen in den religionspolitischen Debatten

Welche Folgen die verstärkten Angriffe aus dem rechten Umfeld für die politischen Debatten haben wird, lässt sich aktuell noch nicht absehen. Für die evangelische und katholische Kirche stellt sich spätestens seit dem Einzug der AfD im Bundestag die Frage nach dem Umgang mit den Vertretern und Anhängern der Partei im Alltag. Auf den ersten Blick kann die eindeutige Positionierung der kirchlichen Spitzengremien in der Flüchtlingspolitik im Kontrast zu den Polemiken aus dem AfD-Umfeld nur zu einer heftigen Konfrontation führen.

Werden die verschärften Angriffe von rechts möglicherweise den paradoxen Effekt erzielen, dass sich die Parteien des bürgerlichen und linken Spektrums stärker mit den Kirchen solidarisieren? Angesichts der Stärke der AfD-Fraktionen in einigen Landesparlamenten, besonders in Ostdeutschland, wäre es für deren Abgeordnete ein leichtes Unterfangen, die kirchenpolitischen Themen mit Anträgen und kleinen oder großen Anfragen auf die Tagesordnung zu setzen. Der kommende Landtagswahlkampf in Bayern wird vielleicht entsprechende Reaktionen zeigen. An dieser Stelle lohnt sich noch einmal der Blick auf die Debatten innerhalb anderer Parteien.

Auch die Linkspartei hatte vor der Aufstellung ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahl 2017 eine medienwerksame Auseinandersetzung um die politische Bewertung Staatskirchenverträge.[5] Anders als von der Parteiführung im Entwurf vorgesehen, wurde auf dem Parteitag nach einer Kampfabstimmung ein Passus angenommen, der die Kündigung aller Staatsverträge mit Religionsgemeinschaften forderte. Die Abstimmung geschah zur späteren Stunde, als bereits einige Delegierte auf dem Weg zum Hotel oder zur Bar waren. In der Nacht rauschte der Beschluss des Parteitags durch die Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen. Anschließend fiel immer mehr Vertretern der Linkspartei über Nacht auf, dass das Thema a) auch Verträge mit den jüdischen Gemeinden betrifft b) größtenteils Ländersache ist und man c) Staatsverträge meist nicht einseitig kündigen kann.[6] Führende Politiker der Linken befürchteten daraufhin Schwierigkeiten für den anstehenden Wahlkampf. Teilweise taten sie sich auch schwer damit, die offenkundig falschen Vorstellungen der Antragsteller so stehen zu lassen. Am Vormittag darauf wurde der Beschluss des Bundesparteitags nach einer erneuten, im Ton teils ausfallenden Debatte revidiert und die Forderung wieder aus dem Bundestagswahlprogramm gestrichen – ein auf Parteitagen seltener Vorgang. Die über Nacht entstandene Aufmerksamkeit für den Vorgang verpuffte so schnell wie sie gekommen war. Einzig atheistische Blogger witterten daraufhin einen „religiösen Kniefall der Linken“[7].

An dieser Stelle geht es nicht darum, die Debatte der Linkspartei pauschal mit der antiklerikalen Polemik der AfD gleichzusetzen. Dennoch ist die Posse um das Bundestagswahlprogramm ein eindrückliches Beispiel dafür, was passiert, wenn dieses juristisch und gesellschaftlich komplexe Thema mit weitestgehender historisch-politischer Ahnungslosigkeit und getrieben von Vorurteilen diskutiert wird. Den meisten der Delegierten war der Unterschied zwischen Staatsleistungen und Staatsverträgen nicht bewusst. Ins Bundestagswahlprogramm schaffte es der Passus trotzdem. Die Pointe des Vorgangs: Das flüchtlingspolitische Engagement der Kirchen sowie die besondere Schutzwürdigkeit der jüdischen Kultusgemeinden mussten in der Debatte auf dem Linken-Parteitag dafür herhalten, um die Staatskirchenverträge quasi vor dem Wahlprogramm zu retten. Interessant im Kontrast zu den Forderungen der bayerischen AfD ist daher das Landtagswahlprogramm des bayerischen Landesverbands der Linkspartei. Dieser enthält neben vielen kleineren Forderungen zur Kirchenpolitik sehr differenzierte Aussagen im Abschnitt „Religionsfreiheit“. Zwar wird dort auch der Abbau bestimmter Privilegien gefordert, ansonsten ist der Abschnitt für Linkspartei-Verhältnisse erstaunlich wohlwollend gegenüber den Religionsgemeinschaften. Unter anderem heißt es dort, historisch gewachsene Verhältnisse könnten nicht von heute auf morgen beseitigt werden, daneben wird ein Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden gefordert und das Engagement religiöser Menschen in der Zivilgesellschaft gelobt.[8]

Das gleiche Thema – und zweimal spielte die flüchtlingspolitische Position der Kirchen jeweils die konträre Rolle, um den Erhalt oder die Abschaffung der Staatsverträge (neben anderen Argumenten) zu begründen. Beide Fallbeispiele zeigen, dass es problematisch sein kann, die religionspolitische Position davon abhängig zu machen, ob Kirchen und Religionsgemeinschaften aus der Perspektive der eigenen Partei wünschenswerte Dinge vertreten. Der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers hat auf diese Inkonsequenz in einem lesenswerten Essay hingewiesen. Er bezeichnet die Begeisterung bürgerlicher Kreise über die flüchtlingspolitischen Positionen der Kirchen als „nicht hilfreich“. Wer, ohne die theologischen Gründe des Christentums zu teilen, die öffentliche Einmischung der Kirchen in diesem Falle begrüße, könne sie dann wohl kaum bei anderen, möglicherweise kontroverseren Themen als illegitime Einmischung der Religion in die Politik zurückweisen.[9] In der Tat ist es nur mit größter Mühe vorstellbar, dass Vertreter von Linkspartei oder Grünen die Position konservativer Katholiken in Fragen von Abtreibung und Eherecht lauthals begrüßen würden. Insofern ist die kirchliche Aktivität im Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik auch eine Anfrage an die Gesellschaft und die politischen Parteien. Deren Vorstellungen von der Rolle der Religionen in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft müssen sich an diesem Fallbeispiel auf ihre Konsistenz prüfen lassen.

Auch die Kirchen sollten es nicht zu einfach machen. Nur weil das Thema Antiklerikalismus mittlerweile nicht nur von Seiten säkularer Liberaler und Linker, sondern vermehrt aus der rechten Ecke gespielt wird, befreit das nicht vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen und Problemen. Die jüngsten Verwicklungen um das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD verdeutlichen dabei zwei für die religionspolitische Diskussion entscheidende Aspekte: Einerseits führen sie deutlich vor, dass dieses Thema ohne Kenntnis juristischer, gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge nicht sinnvoll diskutiert werden kann. Sonst enden religions- und kirchenpolitische Debatten allzu häufig im Austausch von persönlichen Ressentiments und Halbwissen. Und zum anderen führt der aggressive Tonfall der AfD gegen die Kirchen auch vor Augen, dass eine laizistische Position nicht zwingend progressiv-liberal sein muss, wie es die Rhetorik von Religions- und Kirchenkritikern gerne suggeriert. Dieser Standpunkt ist ebenso wenig wie das Kreuz auf der Pegida-Demonstration gegen die Inanspruchnahme und Instrumentalisierung durch den Rechtspopulismus gefeit.

 

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[2] Anonymes Schreiben an das Bundesministerium des Innern, o.D. [vermutlich 1983] (BArch B106/77602).

[3] https://www.zeit.de/2016/47/markus-soeder-kirche-glauben-engagement/komplettansicht

[4] https://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/landespolitik/-2000-jahre-alte-hirten-mythologie–jusos-laestern-ueber-jesus-29451982

[5] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/linkspartei-opposition-regierung-bundestagswahl; Die dazugehörige Erklärung der religionspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion: http://christinebuchholz.de/2017/07/17/ist-die-linke-jetzt-gegen-die-trennung-von-staat-und-kirche/

[6] Phoenix-Interview dazu mit Parteichef Bernd Riexinger auf dem Parteitag am 10.06.2017: https://www.youtube.com/watch?v=1gqOypHuf48&list=PLoeytWjTuSuoX19slBfsaftRwU4vWQ41r&index=18

[7] https://www.atheisten-info.at/infos/info3706.html

[8] Landtagswahlprogramm Die Linke Bayern 2018, S. 59-61: https://www.die-linke-bayern.de/fileadmin/Bayern/Wahlen/Landtag2018/Programm/Landtagswahlprogramm.pdf

[9] Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen). In: Merkur 71 (2017), H. 7, S. 5-16, hier: S. 11.

Antiklerikalismus von rechts. Das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD und die aktuelle religionspolitische Debatte

Unser Gastautor Jonathan Spanos beschäftigt sich in einem zweiteiligen Beitrag mit den Angriffen der AfD auf die Kirchen im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl. Im ersten Teil werden die aktuellen Positionen der Partei politisch und historisch eingeordnet. Im Mittelpunkt stehen das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD sowie eine Wahlkampfrede des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke Anfang August 2018, bei der Höcke unter anderem den evangelischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm verbal attackierte.

Im zweiten Teil, der kommende Woche erscheint, geht es um die Konsequenzen für die aktuelle religionspolitische Debatte in Deutschland.

Jonathan Spanos ist Historiker mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“ an der LMU München.

Religionspolitik ist wieder aktuell.[1] Drei Monate vor der Wahl des Bayerischen Landtags hat der bayerische AfD-Landesverband mit nur wenigen Seiten Wahlprogramm für Aufsehen gesorgt. Die deutschsprachige Huffington Post versieht ihren Artikel zum Landtagswahlprogramm mit der martialischen Überschrift, die AfD erkläre „den Kirchen in Bayern den Krieg“[2]. Die Süddeutsche Zeitung titelt weniger reißerisch von einem Bruch der AfD mit den christlichen Kirchen.[3]

Durch den in der Presse überraschend ausführlich kommentierten kirchen- und religionspolitischen Abschnitt des Landtagswahlprogramms stehen Themen der Religionspolitik wieder im Scheinwerferlicht. Interessant ist, dass das Thema von rechter Seite wieder auf die Agenda gesetzt wird. In den letzten Jahren waren Diskussionen um Religionspolitik vor allem in Parteien des linken und liberalen Spektrums geführt worden. Auch die bayerische FDP macht in ihrem Landtagswahlprogramm zwar nicht das große inhaltliche Fass im Bereich Staatskirchenrecht auf, erhebt aber ebenfalls Forderungen im Feld der Religionspolitik, ohne dass es bisher größere mediale Reaktionen gegeben hätte. Die bayerischen Freidemokraten fordern mit Bezug auf ihre Parteitagsbeschlüsse zur Trennung von Staat und Kirche unter anderem die „Einführung eines gemeinsamen Religionskunde- und Ethikunterrichts“[4] ohne genauer auszuführen, ob damit eine Abschaffung des bisher im Freistaat üblichen konfessionellen Religionsunterrichts mitgemeint ist. Auch angesichts der Tatsache, dass die bayerische AfD im Wahlkampf bisher kaum mit landespolitischen Themen in den Vordergrund drängen konnte und von den Forderungen der FDP keine Zeitung Notiz nahm, ist der Aufruhr erklärungsbedürftig. Die Aufmerksamkeit für das Thema ist zwar auch der traditionell starken Stellung der Kirchen im Freistaat Bayern zu verdanken. Die Auseinandersetzung der AfD mit den beiden christlichen Kirchen hat aber eine längere Vorgeschichte, die sich jetzt im Wahlprogramm des bayerischen Landesverbandes manifestiert. Im Folgenden werden die tagespolitischen und historischen Hintergründe dieser Entwicklung beleuchtet. Einerseits soll es darum gehen, die Elemente der bisweilen bis zur Hetze reichenden Attacken aus der AfD und dem (neu-)rechten Spektrum gegen die christlichen Kirchen politisch und historisch einzuordnen, aber auch Schlussfolgerungen für die religionspolitische Diskussion in Bayern und Deutschland zu ziehen.

Die kirchenpolitischen Forderungen der bayerischen AfD

Der diskutierte Abschnitt des Wahlprogramms steht im ersten Kapitel des Wahlprogramms zum Thema „Demokratie und Staatsverständnis“. Die Forderungen nach einer „Trennung von Staat und Religion“ stehen neben Forderungen nach einer Abschaffung des Rundfunkbeitrags, der Möglichkeit zur Abwahl von AmtsträgerInnen, Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild und einer Halbierung der Landtagssitze.

Auf drei kleinformatigen Seiten ist unter anderem die Forderung nach einer Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen enthalten, die im bayerischen Fall weiterhin vergleichsweise umfangreich sind.[5] Wenngleich in der Textfassung des unzureichend lektorierten Wahlprogramms ein Tippfehler enthalten ist und fälschlicherweise auf Artikel 38 anstelle des Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung Bezug genommen wird, ist der Verweis auf die im Grundgesetz übernommene Vorschrift zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften korrekt.[6] Solche Forderungen sind spätestens seit dem Kirchenpapier der FDP von 1974 kein echter Grund zur Aufregung mehr. Immer wieder forderten Landesverbände der Linkspartei und der FDP in Parteitagsbeschlüssen vergleichbares, auch SPD und Grüne diskutieren in regelmäßigen Abständen darüber. Daneben beansprucht die bayerische AfD die Vertretung der Interessen Konfessionsloser. Die Konfessionslosen bzw. Konfessionsfreien werden dabei implizit als eine homogene Gruppe mit einem einheitlichen Interesse an der Abwehr kirchlichen Einflusses angesehen. Auch diese Position ist keineswegs neu. Die mit der religionskritisch bis religionsfeindlichen Giordano-Bruno-Stiftung personell verflochtene Kleinstpartei „Die Humanisten“ hat sich dieses Thema ebenfalls besonders auf die Agenda geschrieben und wirbt gezielt um kirchenkritische WählerInnen.[7]

Der Programmteil belässt es aber nicht dabei. Explizit auf die beiden christlichen Kirchen abzielende Forderungen (von anderen Religionsgemeinschaften, mit denen der Freistaat Bayern Staatsverträge geschlossen hat, ist nicht explizit die Rede)[8] werden direkt neben der Frage der Moscheefinanzierung durch Gelder aus Saudi-Arabien und der türkischen Religionsbehörde Dianet abgehandelt. Themen der Religionspolitik werden verstärkt auch als Themen des Islam verhandelt. Bereits bei der letzten großen Diskussion um das Kirchenasyl war diese Verschiebung zu beobachten, als Schlagzeilen wie „Kirchenasyl ist (keine) Scharia“ die Kommentare bestimmten.[9] Die bayerische AfD begründet ihre Forderungen im Wahlprogramm so:

„Eine Fortsetzung der finanziellen staatlichen Unterstützung an die Amtskirchen ist weder zeitgemäß noch sachgerecht, zumal es sich bei den Kirchen um eine besondere Lobbygruppe handelt, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass sie auf finanzielle staatliche Hilfe zurückgreifen kann. Diese staatliche Unterstützung ist dem deutschen und insbesondere bayerischen Steuerzahler nicht länger zumutbar.“[10]

Das Landtagswahlprogramm zielt darauf ab, die Kirchen mit dem Begriff Lobbygruppe zu stigmatisieren. Dem Text zufolge zeichnen sich die Kirchen besonders dadurch aus, dass sie dank ihrer privilegierten Stellung besonders umtriebiges Lobbying betreiben könnten. Nun könnte man versuchen, sachlich darüber zu sprechen, welchen politischen Einfluss die christlichen Kirchen in Deutschland auf die Politik ausüben. Dass der Lobbying-Begriff an dieser Stelle nicht analytisch-neutral, sondern diffamierend verwendet wird, erklärt sich von selbst. Wenngleich nicht im Text des Wahlprogramms erwähnt, ergibt sich aus dem Kontext, dass die AfD hier wohl vor allem Interessensvertretung im Bereich der Sozial- und der Migrationspolitik im Blick hat. Direkt im Anschluss geht es um die Gewährung von Kirchenasyl: Die Praxis der Gewährung von Kirchenasyl soll nach Willen der bayerischen Alternative für Deutschland beendet und nicht mehr vom Staat toleriert werden, zudem sollten Verantwortliche bei der Durchführung von Kirchenasyl strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Eine einzige Ausnahme im „Bruch mit den Kirchen“ kennt das Programm dann doch: Staatliche Zuwendungen für die Kirchen soll es nach dem Willen der AfD nur noch bei der Baudenkmalpflege sakraler Gebäude geben – eine Beschränkung, die gut zu einem Verständnis des Christentums als kulturellem Landschaftsmarker passt. Die Kostenübernahme für seelsorgerliche Leistungen soll ebenfalls verschwinden, zu diesem Zweck fordert die AfD sofortige Kündigung der Staatskirchenverträge zwischen der Bayerischen Staatsregierung und den beiden Kirchen.

Gänzlich unumstritten ist der angriffslustige Ton in der Partei nicht. In der SZ kommt unter anderem eine hochrangige niederbayrische Kandidatin zu Wort, die den Abschnitt im Wahlprogramm kritisiert. Ein vom Artikel nicht näher benannter Parteifunktionär sieht in der Positionierung der AfD die Antwort auf das Verhalten vieler Pfarrer vor Ort, die sich gegen die Partei wenden würden.[11] Interessant waren die Reaktionen der Partei auf die Pressemeldungen zu den kirchenpolitischen Forderungen: Erkennbar deutlich versuchte die bayerische AfD im Nachhinein, die Berichterstattung über das Wahlprogramm wieder in ein rechtes Licht zu rücken – man sei nur gegen die Staatsnähe der Kirchen und wolle ein starkes Christentum.[12] Ein Indiz dafür, dass die Parteispitze möglicherweise Verluste bei einem Teil ihres Wählerspektrums befürchtet oder zumindest Angriffsfläche für den politischen Gegner sieht. Als Kronzeugen für diese Haltung bietet die Pressemitteilung der bayerischen AfD gleich zwei Päpste, nämlich Benedikt und Franziskus auf.[13] Gerade die Inanspruchnahme des Letzteren kann angesichts der deutlichen flüchtlingspolitischen Positionierung der katholischen Kirche unter Franziskus eher als absurd gelten.

Björn Höckes Rede in Forchheim am 8. August 2018

Die lavierenden Positionen des AfD-Landesvorstandes wurden spätestens durch den Auftritt des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke bei einem Wahlkampfauftritt im oberfränkischen Forchheim als irrelevant entlarvt. Der Vertreter des völkisch-nationalen Flügels der AfD nutze seinen Auftritt bei einer Veranstaltung der oberfränkischen AfD zum Auftakt des Landtagswahlkampfes neben Angriffen gegen Flüchtlingshelfer, die etablierten Parteien und die Gegendemonstranten auch für verbale Attacken gegen die Kirchen sowie den bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Zuvor hatte Höcke in seiner Ansprache das Landtagswahlprogramm der bayerischen AfD ausführlich gelobt. Die entsprechende Passage, transkribiert aus dem YouTube-Mitschnitt der Rede, lautet:[14]

(ab Minute 24/12) „An diese Manipulationen wurde ich wieder erinnert durch die unsäglichen Äußerungen eines Herrn Heinrich Bedford-Strohm [Buhrufe der Zuhörer], seines Zeichens [Pfui-Rufe] EKD-Ratsvorsitzender, das war der, dieser Bedford-Strohm, der mit seinem katholischen Amtskollegen Kardinal Marx 2016 Jerusalem besuchte, eine Stätte die die Christen verehren, und das war der, der auf dem Tempelberg und an der Klagemauer, sein Kreuz niederlegte. Liebe Freunde, für mich ist das nichts anderes als das Zeichen der Unterwerfung. [Applaus]

(ab Minute 25/00) Das ist das eine. Aber was er neulich rausgelassen hat, das kann ich nur unter Böswilligkeit subsumieren, oder wenn ich ihm wohlgesonnen bin, unter Hitzeschaden. [Es folgen Anspielungen auf den Trauergottesdienst für Sophia L., eine beim Trampen ermordete Studentin, die bei den Jusos und in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Landesbischof Bedford-Strohm hat die Trauerpredigt gehalten. Die Trauerpredigt hat aufgrund einer Formulierung in rechten Kreisen im Internet für einen Shitstorm gesorgt[15]].

(ab Minute 26/12) „Der Tenor dieses Geistlichen lautet also: Es ist besser seine eigene Ermordung in Kauf zu nehmen, anstatt seine sozialromantische Naivität zu hinterfragen. Liebe Freunde, das ist nichts anderes, als der Missbrauch, das ist nichts anderes als die Pervertierung des christlichen Glaubens. [Zuhörer gröhlen: Widerstand, Widerstand] Liebe Freunde, ich schätze die Werte des Christentums, aber ich verurteile und habe es schön öfter gemacht und ich tue es auch hier und heute wieder: ich verurteile Kirchenfunktionäre, die statt die frohe Botschaft von der Kanzel zu verkünden, Hobbypolitiker spielen. Und ich fordere jeden Christen in diesem Lande auf, ich fordere euch auf, die ihr noch Mitglied der evangelischen und der katholischen Kirche seid, macht euren Funktionären Druck, und erklärt ihnen, dass sie einen geistlichen Dienst zu verrichten haben, dass sie es zu unterlassen haben dämliche Bemerkungen in der Öffentlichkeit kundzutun. Das schadet dem Ansehen der christlichen Kirche, egal ob es die evangelische oder die katholische in Deutschland ist. [Zurufe: Austreten!]“

(ab Minute 28/08) Ja es ist so. Unsere Kinder werden in den Schulen, in den Kirchen und in sonstigen linken Projekten zu Schafen gemacht, während man die Wölfe über die Grenzen lässt. [Applaus] Und diese letzte Bemerkung sei mir noch zu Heinrich Bedford-Strohm erlaubt. Das sind klare Worte, die ich jetzt artikuliere und wahrscheinlich werde ich dafür wieder angegriffen, aber wer austeilt, der muss auch einstecken können, Herr Bedford-Strohm, Herr Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für mich, lieber Herr Bedford-Strohm, lieber Herr sehr geehrter Herr Bedford-Strohm [sic!] sind sie wirklich in der Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung angekommen. [Applaus] Endphase der geistigen Wohlstandsverwahrlosung! [Applaus]“

Höke inszeniert sich bei diesem Auftritt als eigentlicher Verteidiger christlicher Werte gegen eine „linksversiffte“ Kirche. Mit dem angeblichen Skandal um die Abnahme der Kreuze auf dem Tempelberg und dem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat aus der Trauerpredigt für Sophia L. ist der bayerische Landesbischof für das rechte Spektrum zu einer Hassfigur stilisiert worden, die die angebliche Selbstverleugnung und den Linksrutsch der Kirchen personifiziert. Entsprechend konzentriert Höcke seine Angriffe auf ihn. Möglicherweise implizierte Folgen wie Kirchenaustritte und politisches Vorgehen gegen die Kirchen spricht er nicht direkt an, sie werden nur durch die Reaktionen seiner Zuhörerschaft vorweggenommen. Da dieser Auftritt erst den Wahlkampfauftakt darstellte, ist davon auszugehen, dass das Feindbild Kirchen im Rahmen bis zur Wahl des Bayerischen Landtags mehrfach wieder von Seiten der bayerischen AfD aktiviert wird.

Zur Vorgeschichte des Antiklerikalismus im AfD-Umfeld

Die antiklerikale Position der AfD ist hingegen kein neues Phänomen. Seit der Gründung der Partei vor fünf Jahren kam es wiederholt zu ähnlichen Äußerungen. Häufig spielte dabei auch die Positionierung der Kirchen in asylpolitischen Debatten eine Rolle. Besonders im Umfeld von Kirchen- und Katholikentagen, aber auch während Wahlkämpfen kochte das Thema Kirchenpolitik in der Partei hoch.

Bei der bayerischen AfD hat die antiklerikale Polemik eine besonders ausgeprägte Vorgeschichte. Der ehemalige Landesvorsitzende und jetzige Bundestagsabgeordnete Petr Bystron, einst für seine Sympathien für die rechtsextreme Identitäre Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet,[16] schaffte es bereits während den Auseinandersetzungen um die mögliche Einladung von AfD-Vertreten auf den Katholikentag in Leipzig im Jahr 2016 mit einer Attacke auf die Kirchen in die Medien. Bystron hatte den Kirchen vorgeworfen, mit ihrem flüchtlingspolitischen Einsatz in erster Linie öffentliche Gelder für Caritas und Diakonie abzukassieren.[17] Der aktuelle Landesvorsitzende Martin Sichert, ebenfalls Mitglied der AfD-Bundestagsfraktion, nutzte seinen Auftritt im BR-Politikmagazin Kontrovers zu Jahresbeginn für entsprechende Statements. Gefragt nach den Aufrufen zum Kirchenaustritt durch seine Partei antwortete Sichert, die Kirchen würden keine echten „christlichen Werte“ mehr vertreten.[18] Vergleichbare Auseinandersetzungen gab es bereits zwischen den Kirchen und der zahlenmäßig starken AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt.[19]

Auch auf der Bundesebene zeichnete sich diese Tendenz bereits länger ab. Im Vorfeld der Bundestagswahl im September 2017 hatten sich antiklerikale Tendenzen mehrfach abgezeichnet. Das niedersächsische Bundesvorstandsmitglied Armin Hampel hatte unter großem Beifall der AfD-Delegierten auf dem Bundesparteitag zum Kirchenaustritt aufgerufen. Zuvor hatten sich andere AfD-Spitzenpolitiker über kirchliche Beteiligung an Anti-AfD-Kundgebungen empört.[20] Während dem Evangelischen Kirchentag in Berlin veröffentlichten Accounts von AfD-Gliederungen antiklerikale Inhalte in den sozialen Medien. Die Beiträge griffen sich dabei besonders Äußerungen zu den Themen Dialog der Religionen, Christenverfolgung, Homosexualität und Gender-Mainstreaming heraus. Der Twitter-Account der AfD-Jugendorganisation postete ein Banner mit Zitaten von KirchentagsrednerInnen, versehen mit dem Spruch „Dumm, dümmer, EKD“. Als die sonst von AfD-Mitgliedern verabscheute heute-show einen kritischen Beitrag über die Finanzierungsstruktur des Kirchentags veröffentlichte, teilte die Düsseldorfer AfD ausnahmsweise den entsprechenden Inhalt der ZDF-Satiresendung und verlinkte zustimmend auf das Video.[21] Den vermeintlichen Höhepunkt setzte die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, als sie kurz vor Weihnachten 2017 in einem in den sozialen Medien verbreiteten Statement die aktuelle gesellschaftliche Rolle der Kirchen mit dem Staat-Kirche-Verhältnis im Nationalsozialismus gleichsetzte. Weidel beklagte in ihrem Posting eine Politisierung der beiden christlichen Großkirchen und die fehlende Trennung von Staat und Kirche in Deutschland. Wie während der Zeit des Dritten Reichs, so Weidel, hätten sich die Kirchen heute wieder mit den Herrschenden arrangiert.[22]

Erweitert man die Perspektive auf das rechte Spektrum wie die islamfeindliche Pegida-Bewegung in Dresden, fällt deutlich auf, dass dieser Vorwurf in rechten Kontexten auch jenseits der Partei AfD verbreitet ist. Tatjana Festerling, lange Zeit neben Lutz Bachmann Frontfrau bei den Dresdner Kundgebungen, hatte sich bei einem viel von den Medien diskutierten Auftritt im Januar 2016 ebenfalls über die Kirchen geäußert:

„Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“[23]

Die Kirchen wurden hier in eine Reihe neben andere von Pegida verabscheute Institutionen wie Medienhäusern und Parlamenten gestellt. Festerlings Hetzrede verdeutlicht, dass die Amtskirchen in rechten Weltbildern fest zum verhassten Establishment der Bundesrepublik gehören.

Dennoch gibt es auch in diesem Kontext Grauzonen. Das Fallbeispiel Pegida zeigt auch Ambivalenzen, denn von rechter Seite wird auch positiv auf christliche Wertvorstellungen oder Symbole Bezug genommen werden. Das Foto eines schwarz-rot-goldenen Kreuzes auf der Dresdner Pegida-Demonstration ist mittlerweile ikonisch für die Inanspruchnahme des Christentums als kulturchauvinistischer Marker geworden.[24] Auch in einem mehrheitlich von Konfessionslosen bestimmten Umfeld wie der Pegida-Bewegung wird das Christentum insbesondere in der Abgrenzung zu einer imaginierten Bedrohung durch den Islam in Anspruch genommen.[25] Und auch im konservativ-christlichen Milieu existieren Vernetzungen und Anknüpfungsmöglichkeiten. Der humanistische Pressedienst hat zurecht angemerkt, dass im Falle von Pegida der Anteil protestantischer Teilnehmer neben den Konfessionslosen nicht unter den Tisch fallen sollte.[26] Die Publizistin Liane Bednarz hat in ihrem Buch „Die Angstprediger“ umfassend dargestellt, dass die AfD insbesondere für streng konservative christliche Gruppierungen mit monothematischer Fixierung auf Themen wie Abtreibung oder Geschlechter- und Familienbilder attraktiv ist.[27] Beispielsweise ist AfD-Fraktionsvize Beatrix von Storch sehr eng in der Szene der Abtreibungsgegner vernetzt.

 

 

[1] Im Herder-Verlag erschien vor Kurzem ein umfangreicher Band zum Thema „Religionspolitik heute“, in der APuZ-Reihe der Bundeszentrale für politische Bildung zudem ein sehr lesenswertes Heft zu aktuellen Fragen der Religionspolitik in Deutschland: https://www.bpb.de/apuz/272095/religionspolitik

[2] https://www.huffingtonpost.de/entry/weil-pfarrer-zu-kritisch-sind-afd-erklart-kirchen-in-bayern-den-krieg_de_5b4def40e4b0fd5c73bf2304?utm_hp_ref=de-homepage

[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/wahlkampf-in-bayern-die-afd-will-mit-den-kirchen-brechen-1.4056494

[4] Landtagswahlprogramm FDP Bayern 2018, S. 18: https://fdp-bayern.de/wp-content/uploads/2018/06/180621-LTW-Programm.pdf

[5] Der Abschnitt „Trennung von Staat und Religion“ findet sich im Landtagswahlprogramm auf den Seiten 12–14. https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[6] Art. 138 Weimarer Reichsverfassung: http://www.verfassungen.ch/de/de19-33/verf19-i.htm

[7] https://www.deutschlandfunk.de/partei-der-humanisten-politiker-stellen-sich-gerne-neben.886.de.html?dram:article_id=380293; Homepage der Partei: https://diehumanisten.de/

[8] Ein Beispiel wäre der „Vertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern“: http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayIsraelKultVertrag

[9] Vorhergegangen war eine Äußerung des evangelischen CDU-Bundesinnenministers Thomas de Maizière: https://www.welt.de/politik/deutschland/article137373663/Union-kritisiert-de-Maiziere-fuer-Scharia-Vergleich.html.

[10] https://www.afdbayern.de/wahlen-2018/wahlprogramm-landtagswahl-2018/

[11] Ebd.

[12] https://www.afdbayern.de/afd-bayern-sieht-im-wahlprogramm-keine-attacke-auf-die-kirchen/

[13] Ebd.

[14] https://www.youtube.com/watch?v=cjS-Dy0c9xo.

[15] https://www.cicero.de/kultur/heinrich-bedford-strohm-sophia-l-trauerrede

[16] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/petr-bystron-afd-bayern-verfassungsschutz-identitaere-bewegung

[17] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-landeschef-wirft-kirchen-geschaeft-mit-der-fluechtlingskrise-vor-a-1094266.html

[18] Ab Minute 46: https://www.br.de/mediathek/video/bayerntrend-2018-die-kontrovers-umfrage-zur-politischen-stimmung-im-landtagswahljahr-av:5a16bc41a7c4c200186bfc06

[19] http://www.fr.de/politik/sachsen-anhalt-afd-fehde-mit-den-kirchen-a-1479332

[20] https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2017-04-25/aufruf-zu-kirchenaustritt-auf-afd-parteitag-sorgt-fuer-kritik

[21] Der Verfasser verfügt über Screenshots der Postings.

[22] https://www.sz-online.de/nachrichten/weidel-provoziert-kirchen-mit-vergleich-zur-nazi-zeit-3844710.html

[23] Rede Tatjana Festerlings bei der Pegida-Kundgebung im Januar 2016, zitiert nach: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/pegida-aktivistin-festerling-radikaler-geht-s-nicht-14021313.html

[24] Zu sehen ist das dpa-Foto unter anderem in diesem Bericht des Berliner Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/pegida-in-dresden-kirchenvertreter-nennen-pegida-unchristlich/11185530.html

[25] https://www.tagesspiegel.de/politik/studie-ueber-anhaenger-der-pegida-gut-ausgebildet-konfessionslos-unzufrieden/11229064.html

[26] https://hpd.de/artikel/12688

[27] https://www.deutschlandfunkkultur.de/liane-bednarz-ueber-ihr-buch-die-angstprediger-wie-christen.1270.de.html?dram:article_id=415018

#digitaleKirche

Ein Kommentar

von Michael Greder

Unter dem Hashtag #digitaleKirche hat sich ausgehend von einem kleinen Artikel Hannes Leitleins in einer Ausgabe der Christ&Welt eine Diskussion um die Zukunft der Kirche entwickelt. Ich finde das großartig. Bisher habe ich mich aus dieser Debatte herausgehalten und mich auf den Zaun gesetzt, um zu beobachten, wie sich die Angelegenheit formiert. Obwohl schon einiges geschrieben wurde und der Hashtag weiterhin fleißig auf Twitter Beiträge kennzeichnet, lässt er mich etwas ratlos zurück.

Der Blogger Sascha Lobo meinte einmal, dass die produktive Kraft von Twitterdebatten darin bestehe, auf Grund der gebotenen Kürze den Kern selbiger unnachgiebig freizulegen. Diese These kann ich von meinem Zaunpfahl aus in Bezug auf #digitaleKirche kaum bestätigen. Aus diesem Grund möchte ich einen sicherlich völlig unvollständigen Vorschlag machen, die Terminologie der Debatte zu ordnen und damit hoffentlich den Blick zu schärfen. Mir geht es dabei nicht in allen Punkten um eine Zustimmung zu dem Dargestellten. Für mich ist die Diskussion noch völlig offen und ich habe selbst noch keine starke Meinung dazu.

Bisher erkenne ich fünf Bereiche in denen #digitaleKirche eine Rolle spielt: Die persuasive Kommunikation (Mission), die Kommunikation als Selbszweck (allgemeines Priestertum), die damit verbundene Repräsentanz des Christentums in der Öffentlichkeit (Relevanz), die theologische Bearbeitung des digitalen Wandels und die Verwaltung. Auf die ersten beiden Dimensionen möchte ich im Folgenden eingehen und vorher noch auf zwei grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Debattenbeiträge eingehen

Zwei Gemeinsamkeiten

Die oberflächliche Gemeinsamkeit der Debattenbeiträge besteht in der banalen Feststellung, dass digitale Kirche (noch) irgendetwas mit Bildschirmen zu tun hat. Nicht mehr und nicht weniger. Dieser Umstand führt dazu, dass sehr unterschiedliche Anliegen unter dem Schlagwort verhandelt werden. Die Reichweite erstreckt sich von Twitterandachten über Spendenverwaltungssoftware bis hin zu dienstrechtlichen Fragen wie z.B. nach einer Onlinepflicht für Pfarrerinnen. Für eine grobe Einsortierung taugt diese Beobachtung. Geht es ins Detail, kann sie aber für Verwirrung sorgen. Im schlimmsten Fall wird #digitaleKirche dann zu einem Gefälligkeitsbegriff, der coole und super angesagte Flyer, Plakate und Broschüren schmücken darf, weil er glattgeschliffen genug ist, dass sich niemand mehr an seinem kritischen Potenzial stoßen kann.

Darüber hinaus verbirgt sich hinter dem Hashtag die These, dass der gegenwärtige Zustand der Kirche mindestens suboptimal ist: Immer mehr Menschen treten aus, oder schlimmer noch: sie sterben, ohne dass genug junge Menschen nachkommen. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz. Nicht nur im politischen Geschehen, sondern auch im Alltag. Wer glaubt, muss sich erklären. Die Rechtfertigung allein aus Gnaden wird zu einer Dauerrechtfertigung vor der Familie, Freunden, Bekannten und nicht selten auch vor Fremden, sofern man sich als Christ zu erkennen gibt. Das nervt. Christen schweigen vermehrt in der Öffentlichkeit über Glaubensfragen. Religion gehört mehr und mehr zum Peinlichkeits- und Schamrepertoire der Privatsphäre. Die verfasste Kirche tut dabei nicht nur zu wenig, sondern sogar das Falsche. Denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

#digitaleMission

Damit landen wir auch schon bei der ersten Dimension mit der ich #digitaleKirche differenzieren will:

Ein zentrales Anliegen besteht in der digitalen Mission. Die #digitaleMission unterteilt sich wiederum in eine innere und eine äußere Mission.

Im Inneren geht es um das, was man inzwischen klassischerweise als Mitgliederbindung oder institutionstheoretisch als Pflege des „staying in“ bezeichnen könnte. Vor allem junge Menschen, die irgendwie im entferntesten noch etwas mit der Kirche am Hut haben, sollen erreicht werden. Sie sollen sich einerseits wohlbehalten fühlen und müssen dafür andererseits mit den Kommunikationsmitteln ihrer Generation angesprochen werden.

Bei der äußeren Mission geht es darum, Menschen zu erreichen, die mit der Kirche und vielleicht auch mit Glaube und Religion in ihrem persönlichen Alltag nichts mehr zu tun haben.

In beiden Bereichen fungiert Kommunikation als Mittel zum Zweck. Die Sprache der Mission verfolgt das Ziel, Menschen von der eigenen Haltung zu überzeugen und aus Sicht der verfassten Kirche auch an sich zu binden. Sie ist hochgradig persuasiv. Das wird in unseren Gefilden oft geleugnetIch möchte das an dieser Stelle nicht bewerten, aber komme nicht umhin anzufügen, dass man sich dies bewusstmachen sollte.

#PriestertumallerProsumenten[1]

Eine zweite Dimension spricht die theologische Auseinandersetzung direkter an. Sie handelt von der Kommunikation als Selbstzweck: Das allgemeine Priestertum. Leitlein hat diesen Aspekt als protestantischen Leitgedanken im Umgang mit den neuen Medien der Debatte eingeschrieben. Die Formel lautet Buchdruck+Reformation+Internet=Erneuerung. #digitaleKirche zeigt sich hierbei als eine typisch protestantische Bewegung: „Ad fontes“ lautet das Mantra und die Granden der Kirche werden an dem Fundament gepackt, dessen Bewahrung sie eigentlich versprechen.

Das allgemeine Priestertum als ultimativer Grund für Forderungen und zum Teil auch Grausamkeiten aller Art, hat in der Reformation schon für Irritation gesorgt. Nun möchte ich keinesfalls unterstellen, dass eine Gruppe von Digitalistinnen und Digitalisiten mit gezücktem Smartphone in der Hand und Daumen im Anschlag gen Münster zieht, um der sittlichen Verwirklichung des Reich Gottes in einem letzten großen Shitstorm nachzuhelfen. Ich möchte auf die einseitige Verwendung des allgemeinen Priestertums aufmerksam machen. In erster Linie handelt das allgemeine Priestertum nicht von der Kommunikation der Gläubigen untereinander und auch nur vermittelt von kirchlichen Organisationsformen, sondern von der persönlichen Beziehung zu Gott. Die Funktion des Priesters als Mittler zwischen Gott und der Welt kann von jeder und jedem selbst ausgelebt werden. Das betrifft neben der persönlichen Gottesbeziehung auch die theologische Urteilsbildung.

Im #PriestertumallerProsumenten mag man nun, wie Leitlein, das technische Potenzial einer absoluten weltlichen Verwirklichung des darin liegenden Gleichheitsanspruchs erblicken.

Das Anliegen in der digitalen Kirche die Verwirklichung eines urprotestantischen Versprechens zu erkennen, hat einiges für sich. So fordert auch Philipp Greifenstein in einem Blogpost von der Kirche: „Sie muss die Passwörter für die Kirchenaccounts demokratisieren.“ Damit würden Machtstrukturen gebrochen. Ein so gelebtes #PriestertumallerProsumenten ermögliche „[o]ffene Diskussionen“ und „freie Teilhabe“.

Die bloße Behauptung von absoluter Gleichheit und damit verbundener freier Teilhabe entspricht aber keinesfalls ihrer praktischen Verwirklichung. Der Ruf nach absoluter Gleichheit und Freiheit sorgte in der Geschichte schon häufig genug dafür, dass die Vorredner am Ende wieder gleicher waren als die Allgemeinheit. Denn die Behauptung besserer Gleichheit verdeckt neu entstehende Strukturen.

Im modernen Kampf um Anerkennung und der Aufmerksamkeitsökonomie kuratierter Identitäten ist es nicht nur Zufall, wer in der neuen Kommunikationslandschaft Gehör findet und wer nicht.

(By the way: Wie Leitlein, Wikipedia als Paradebeispiel für die Gleichheit der Kommunikation im Internet heranzuziehen halte ich für sehr sportlich.)

#digitaleKirche verliert ihr kritisches Potenzial, wenn es ihr nicht gelingt die eigenen Strukturen der Einflussnahme und die neuen Hierarchien des Netzes offenzulegen. Das Leugnen von Macht stärkt die Mächtigen. Wir können im innerkirchlichen Bereich doch nicht wieder einmal hinter die Diskussionen und Erkenntnisse der letzten Jahre zurückfallen und später behaupten wir wären die Erfinderinnen des Rads.

 

Michael Greder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989“

 

Das Beitragsbild zeigt den Supercomputer „MareNostrum“, der in einer ehemaligen Kapelle untergebracht ist. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/MareNostrum)

[1]Anmerkung der Redaktion: Prosument (engl. Prosumer) ist ein Kunstwort und bezeichnet (v.a. im Digitalen) Personen, die gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sind. Zu denken ist dabei zunächst (aber eben nicht nur) an soziale Netzwerke.

Ist die bischöfliche Parteinahme für die Große Koalition angemessen?

 

Quelle Bild: BR-Mainfranken/Marcus Filzek

Hintergrund und Anlass dieses Klärungsversuchs

Kaum ein Lehrstück des lutherischen Protestantismus hat in den letzten fünfzig Jahren soviel Kritik erfahren wie die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre. Diese besagt, ganz grob, dass Gottes Weltregierung zwei Regimenter, also Regierweisen kennt. Ein geistliches Regiment zur Rechten, welches dazu da ist, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, und daneben das weltliche Regiment zur Linken, welches dazu da ist, die allgemeine Ordnung und den Frieden aufrecht zu erhalten. Wird das geistliche Regiment in der und durch die Kirche ausgeübt, so kann das weltliche Regiment mehr oder weniger direkt mit der Staatsgewalt identifiziert werden.

Die Kritik an diesem Lehrstück entzündete sich vor allem im Rückblick auf die Erfahrungen während der Herrschaft der Nationalsozialisten im sog. „Dritten Reich“, wobei die Bekennende Kirche der Zwei-Reiche-Lehre das Gegenmodell einer universalen Königsherrschaft Christi entgegengehalten hatte: Es gebe keine zwei unterscheidbaren Sphären, durch die Gott seinen ordnenden Einfluss ausübt, sondern auch die staatliche Macht unterstehe direkt seiner Autorität.

Hier soll es jetzt nicht darum gehen, ob die Deutschen Christen Luther sachgemäß interpretiert haben (eher nicht) oder ob sich die Zwei-Reiche-Lehre in Luthers Sinne so stark von der Lehre der Königsherrschaft Christi unterscheidet (eher nicht). Was jedenfalls während des Kaiserreichs, im sog. „Dritten Reich“ und auch später von konservativen Lutheranern (nach dem zweiten Weltkrieg am deutlichsten: Walter Künneth) vertreten wurde, ist folgende Sicht auf das Verhältnis von Kirche und Politik: Die Kirche und die kirchliche Öffentlichkeit haben sich politischer Äußerungen zu enthalten, denn: Das Reich zur Linken sei eben auch von Gott eingesetzt. Dagegen setzten die Theologen, die sich in der Nachfolge der Bekennenden Kirche wussten, unter anderem die aus Hes 33,1-9 stammende Vorstellung eines kirchlichen Wächteramts: Kirchliche Stellungnahmen dienen demzufolge dazu, die Politik von allem abzuhalten, was wider Gottes Willen und die Prinzipien des christlichen Glaubens steht.

Beide Positionen werden in dieser Reinform heute eher nicht mehr vertreten. Sowohl die Öffentliche Theologie, die sich in der Nachfolge Wolfgang Hubers sieht, als auch andere ethische Schulen, die etwa mehr der Linie Trutz Rendtorffs folgen, sind sich – ganz grob – darin einig, dass weder politische Enthaltsamkeit, noch die Vorstellung einer religiösen „Oberaufsicht“ über die Politik sachgemäß sind. Ja, selbst parteipolitisches Engagement sei nicht mehr in jedem Fall unschicklich für Menschen, die als Pfarrer und Pfarrerinnen arbeiten. Dabei wird auch deutlich: Es gibt nicht die eine christliche Position, die politisch zu vertreten ist. Vielmehr sind die je Einzelnen zur Verantwortung und zur Stellungnahme gerufen, wobei es freilich Positionen geben kann, die jenseits des Korridors liegen, welchen der christliche Glaube vorgibt. Dass wiederum eine solche Grenzbestimmung theologisches und ethisches Nachdenken erfordert, bedarf wohl keiner gesonderten Begründung.

Nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen schrieb nun der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm auf Facebook:

„Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis geführt haben, auf das sich alle beteiligten Parteien einigen konnten. Alle, die nun über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben, müssen gründlich abwägen, wie sie ihrer Verantwortung am besten gerecht werden können. Denn Verantwortung ist jetzt gefragt. Es geht nicht darum, wie man sich persönlich besser fühlt, sondern es geht darum, wie den Menschen, um die es geht, insbesondere den Schwächsten und Verletzlichsten, am besten geholfen ist. Es kann jetzt auch nicht zuerst um Parteiinteressen gehen sondern es geht um Verantwortung für das ganze Land, für Europa und, gerade im Hinblick auf die uns so wichtigen globalen Gerechtigkeitsfragen, auch für die Welt. Wer jetzt eine verantwortliche Entscheidung zu treffen hat, muss sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind und bei welcher der Alternativen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass Schritte in die richtige Richtung getan werden. Jetzt wünsche ich denen, die die Nacht durchverhandelt haben, aber vor allem eine dicke Portion Schlaf!“

Eigentlich entspricht dieses Posting auf den ersten Blick genau dem, was soeben skizziert wurde: Bedford-Strohm lobt den politischen Kompromiss und empfiehlt die Abwägung des Koalitionsvertrags durch diejenigen, die darüber zu entscheiden haben. Er spricht sich auf den ersten Blick nicht für eine Richtung aus, sondern appelliert an die Verantwortung des Einzelnen. Spätestens beim zweiten Lesen kam bei uns allerdings die Intuition auf, dass hier etwas durcheinander geht.

Zunächst: Wer sind die Angesprochenen? Bedford-Strohm spricht zu denen, die „über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben“. Dies sind natürlich bei den Unionsparteien die Parteispitzen. Diese haben allerdings den Vertrag mit ausgehandelt, eine Ablehnung erscheint somit eher ausgeschlossen. Also richtet sich der Beitrag mehr oder weniger explizit an die Parteibasis der SPD, die in einer Mitgliederbefragung über Ja oder Nein zum Vertrag entscheiden darf.

Im zweiten Argumentationsschritt nennt er dann die Verantwortung als Maßstab für die Entscheidung, und zwar Verantwortung für die Schwächsten und Verletzlichsten – in nationaler und globaler Perspektive. Diese und nicht persönliche Befindlichkeiten oder „Parteiinteressen“ sollen im Vordergrund stehen. Wer allerdings dann gegen den Koalitionsvertrag stimmt, müsse „sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind“.

Der implizite Argumentationsgang ist deutlich: Verantwortung sei zu übernehmen, diese benötige eine handlungsfähige Regierung, alles außerhalb der GroKo scheint dabei nicht denkbar oder zumindest nicht realistisch und von daher sei diese alternativlos. Im Ergebnis wird eine Ablehnung der GroKo zumindest in die Nähe der Verantwortungslosigkeit gerückt.

Dies wird alles vorgetragen über den offiziellen Account des Bischofs und in einem Sprachduktus, der in seiner emotionalen Rhetorik und moralischen Verbindlichkeit nicht zu unterscheiden ist von geistlichen Worten des Bischofs. So wird in einer vordergründigen Unparteilichkeit doch deutlich für eine Richtung argumentiert. Versucht der Bischof hier etwa, die Gewissen der evangelischen Christinnen und Christen in der SPD zu binden?

Zurück zum Anfang: Es ist für uns unbestritten, dass sich Vertreter der Kirche politisch äußern dürfen und sollen – zum Beispiel, wenn es darum geht, Menschlichkeit in der Politik anzumahnen. Es ist für uns auch klar, dass sich Kirchenvertreterinnen und -vertreter durchaus parteipolitisch betätigen dürfen. Das allerdings sollten sie in der gleichen Art und Weise tun, wie andere Akteure des politischen Diskurses – sich also hier nicht aufgrund ihres Amts eine höhere Legitimation zuweisen. Wenn Kirchenvertreter für eine ganz bestimmte parteipolitische Entscheidung in einer Art und Weise das Wort ergreifen, die nicht von anderen Äußerungen unterscheidbar ist, ja, die in gewisser Weise als Verlautbarung ihres Amts und nicht ihrer Person zu verstehen ist, dann widerspricht dies einer grundlegenden Auffassung protestantischer Ethik: Nämlich derjenigen, dass die Entscheidung über eine politische Option etwas ist, das der Einzelne zu verantworten hat, und dass es für diese keinen durch die Kirchenleitung vorgegebenen ‚richtigen‘ Weg gibt. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht die Kraft kirchlicher Stellungnahmen gegenüber der Politik geschwächt wird, wenn solche Kommentare und implizite Weisungen in zu vielen, auch – wie wir meinen – eher undramatischen, Fällen ergehen.

Ob nun dem Koalitionsvertrag zuzustimmen ist, muss jede Protestantin und jeder Protestant, der Mitglied der SPD ist, selbst entscheiden. Es gibt sowohl gute Gründe dafür als auch gute Gründe dagegen. Die Parteinahme für die Schwachen und Schutzbedürftigen taugt hier gerade nicht als eindeutige Orientierung, wie viele kritische Stimmen zum Koalitionsvertrag etwa aus den Reihen der Pflege oder der Flüchtlingshilfe dokumentieren. Das Votum des Bischofs, das ganz deutlich eine Richtung präferiert, ist jedenfalls nach unserem protestantischen Verständnis nicht die maßgebliche Instanz der Entscheidungsfindung und vermischt in problematischer Weise private politische Stellungnahmen, geistliches Wort und kirchenamtliche Verlautbarung.

Niklas Schleicher

Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik

Vor diesem Hintergrund gelangen wir zu folgenden zehn Thesen zur Verhältnisbestimmung von Theologie, kirchenleitendem Amt und Politik:

1. Wir vertreten die Ansicht, dass Kirche und Theologie immer und unausweichlich politisch Stellung beziehen.

2. Prophetische Kritik an Gesellschaft und Politik gehört zur Aufgaben der Verkündigung, die allen Christenmenschen gemeinsam aufgetragen ist und von den Amtsträgern in diesem Sinne gestaltet wird.

3. Eine politische Enthaltsamkeit durch Kirche und Theologie läuft faktisch auf eine religiöse Legitimation für die jeweils hegemoniale Politik hinaus.

4. Daraus ziehen wir die Konsequenz, dass Theologinnen und Theologen zu politischem, auch parteipolitischem Engagement durchaus zu ermutigen sind.

5. Bedingung ist, dass dieses Engagement transparent gemacht wird und der Verantwortung für den Frieden in der Kirche nicht zuwider läuft.

6. Aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verbietet sich jeder Versuch, die Lehre der Kirche und das Evangelium Jesu Christi einem politischen Projekt unterzuordnen und so für politische Zwecke zu missbrauchen.

7. Politische Betätigung von Amtsträgern darf nicht zu einer verschleierten politischen Missionierung führen, sondern sollte vielmehr die eigenständige Meinungsbildung anregen und politische Streitkultur innerhalb wie außerhalb der Kirche fördern.

8. Zurückgewiesen wird jeder Anspruch einer Partei, die allein zulässige christliche Position in politischen Fragen zu vertreten.

9. Wenn einzelne Theologinnen oder Theologen bzw. die Kirchenleitung ausdrücklich und unmittelbar zu politischen Themen Stellung nehmen, so treten sie nicht allein als Dienerinnen und Diener des Verkündigungswortes, sondern als politische Akteure auf.

9. Solche Stellungnahmen sind nicht den Regeln des politischen Diskurses enthoben und ihre Meinung ist nicht in besonderem Maße vor Kritik geschützt, sondern anderen weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Stellungnahmen prinzipiell gleichgestellt.

10. Niemand ist befugt, mit theologischen oder kirchenleitenden Stellungnahmen die Gewissen in politischen Entscheidungen binden zu wollen.

Niklas Schleicher und Tobias Graßmann

Kritische Bewertung der zitierten Stellungnahme

Auf der Grundlage unserer Thesen sowie in Bekräftigung der lutherischen Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment kommen wir zu folgender Feststellung:

Die Einflussnahme des Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm auf den Mitgliederentscheid der SPD verwischt tendenziell die Unterscheidung der Regimenter. Eine so direkte Einflussnahme der Kirchenleitung auf die Politik wäre unseres Erachtens nur geboten in Fällen, in denen die freie Religionsausübung oder die Menschenwürde unmittelbar gefährdet sind. Dies ist im Fall der aktuellen Bemühungen um eine Koalitionsbildung nicht gegeben.

Wir sehen daher bei Herr Bedford-Strohm kein hinreichendes Mandat für die Einmischung in den Mitgliederentscheid der SPD. Wir warnen vor einer Interpretation des prophetischen Wächteramts der Kirche, welche das Amt des oder der leitenden Geistlichen mit einem politischen Repräsentationsamt verwechselbar macht. Wir kritisieren ein Verständnis von öffentlicher Theologie, demzufolge nahezu jede politische Einzelentscheidung (und entsprechend auch die Verfahren der innerparteilichen Willensbildung) in den Bereich kirchenleitender Weisungen fallen. Angesichts solcher Grenzverwischungen befürchten wir langfristig eine verhängnisvolle Vermischung von kirchlicher und politischer Sphäre auf der Ebene der Kirchenleitung.

Es steht Herrn Bedford-Strohm selbstverständlich die Möglichkeit offen, als Theologe, Christenmensch und Sozialdemokrat mit ruhender Parteimitgliedschaft seine eigene Meinung zum Mitgliederentscheid kundzutun. Dabei hätte er unseres Erachtens aber einen Kommunikationsweg zu wählen, der klar von einer offiziellen kirchenleitenden Verlautbarung unterschieden ist, sowie seine Sprache ihres bischöflichen Ornats zu entkleiden.

Tobias Graßmann

Für diesen Beitrag zeichnen:

Tobias Graßmann, Pfarrer der ELKB, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Dogmatik) in Göttingen und Sozialdemokrat

Tobias Jammerthal MA (Dunelm.), theologischer Doktorand in
Tübingen und Sozialdemokrat

Claudia Kühner-Graßmann, Doktorandin der ev. Theologie, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Sozialdemokratin

Julian Scharpf, Vikar der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und Sozialdemokrat

Niklas Schleicher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Ev-Theol. Fakultät der LMU und Sozialdemokrat

 

Weitere Unterstützer:

Philipp Kurowski, Dr.theol., Pastor der ev.-luth. Kirchengemeinde Großsolt-Kleinsolt, Nordkirche

Rezension: Ulrich Körtner, Für die Vernunft

(Quelle Bild: Homepage des Verlags http://www.eva-leipzig.de/)

Rezension zu: Ulrich H.J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Leipzig 2017. 172 Seiten.

Es scheint am derzeitigen theologisch-gesellschaftlichen Debattenhimmel eine neuerliche Diskussion um ein altbekanntes Thema aufzuscheinen: Das Verhältnis von Staat und Kirche und deren gegenseitige Beeinflussung. Als profiliertester Kritiker der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Verlautbarungen der EKD und ihres Spitzenvertreters Heinrich Bedford-Strohm zeigt sich der Wiener Systematiker Ulrich H.J. Körtner, der nun in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig eine Studie mit Titel: »Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche« veröffentlicht hat.

Allein der Titel zeigt, welches Programm Körtner verfolgt und – das sei jetzt schon gesagt – auf eine sehr erfrischende und kluge Art ausbuchstabiert! Körtner versucht die Hintergründe zu klären, die zu einer derart starken Moralisierung und Emotionalisierung der politischen und gesellschaftlichen Debatten geführt haben und will gleichzeitig seine Vorstellung einer gesellschaftsorientierenden, weil zukunftsermöglichenden Verhältnissetzung von Politik und Theologie darlegen.

Ausgehend von einer über die allgemeine Larmoyanz hinausgehende und damit erhellenden Analyse zeigt Körtner unter dem Begriff der »Fuzzylogik« als der Diskussion subjektiver Empfindungen jenseits faktenbasierender Erkenntnisse die entscheidenden Charakteristika des Postfaktischen auf.

Als Signum moderner Gesellschaften, in denen dieses postfaktische Denken Fuß fassen konnte, benennt Körtner deren pluralistische Moralvorstellungen bei gleichzeitiger Suche nach moralischen Leuchttürmen, die in der Undurchsichtigkeit und Komplexität Orientierung versprechen. Den Kirchen unterstellt Körtner, dem Ruf nach Moral- und Wertevermittlung nur zu gern zu entsprechen, da sie für so manche eine Kompensationsstrategie der schwindenden gesellschaftlichen Relevanz bilde.

Die Gefahr dieses Rufs nach Moral- und Ethikagenturen beschreibt Körtner unter dem Stichwort der »Hypermoral«, die die Ansicht suggeriere, allein den Menschen in der Verantwortung für die Welt und ihr Schicksal zu sehen. Wenn sich nun die Hypermoralisierung des Politischen mit den postfaktischen Diskussionslinien verbinde, führe dies einerseits zu einer »Politik der Gefühle«, in der über menschliche (!) und damit korrumpierbare Emotionen, Werte, Abscheu und Hoffnungen (54) abgestimmt würde und andererseits letzten Endes allein in menschlichen Handlungen und Moralvorstellungen die Welterlösung vermutet werden müsse.

Doch wie kann es nun für Körtner zu einer »vernünftigen« Verbindung zwischen Politik und Kirche kommen? Unter dem Signum »Verlust der Zukunft« führt Körtner die handlungsleitende Maxime der »Zukunft« als hoffnungsvolle Kategorie ein, die in der Moderne Politik und Christentum dort verbinde, wo sie die Welt verändern und sie zum Besseren kehren wolle.

Für den Weg in diese Zukunft greift Körtner auf die klassische Unterscheidung von Staat und Kirche in Luthers Zwei-Reiche-Lehre und Barths Barmer Theologischen Erklärung zurück und definiert die Unterscheidung von Politik und Kirche funktional, als unterschiedliche Möglichkeitsräume und Handlungsbereiche mit jeweils unterschiedlichen Bereichsethiken. Für den theologischen Bereich verweist Körtner entscheidend auf das »Paradox von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung« (93), das wiederum zum kritischen Umgang mit menschlichen Gefühlen und Emotionen anleite. In dieser Logik müsse sich die Theologie leiten lassen und komme so zu einer Unterscheidung des vermeintlich Guten in letzten und vorletzten Dingen. Religion werde so gerade nicht zur Moralagentur, sondern zur Unterscheiderin zwischen »Gott und Mensch, Handeln Gottes und Handeln des Menschen« (98), zwischen Moral und Religion.

Die Kirche müsse ausgehend von dieser Einsicht vielmehr eine Ethik der Selbstbegrenzung einfordern, da alles menschliche Streben, Denken und Handeln als »Fragment«, theologisch als sündiges Sein, aufgefasst werden müsse. So sei gerade nicht in das zweifelhafte Unterfangen einer grundsätzlich korrumpierbaren Moralisierung zu verfallen, sondern mit der essentiellen Einsicht in die Unterscheidung von Religion und Moral die Hoffnung auf Gottes Zukunft wach zu halten, die dem Menschen einen bis dato unbekannten Möglichkeitsraum jenseits seiner eigenen Handlungsspielräume – gerade in seinem politischen Streben und Handeln – eröffne.

Körtners Studie liest sie sehr erfrischend und bereichernd, da er sich nicht scheut, eine klare Position zu beziehen und diese systematisch klug zu untermauern. Die besondere tagespolitische Bezugnahme der Studie erweist sich dabei als ihre Stärke und ihre Schwäche. Die Schwäche dort, wo er genau jene tagespolitischen Ereignisse im Genre eines politischen Feuilletonisten zu bewerten sucht und teilweise etwas ermüdende, weil altbekannte Worthülsen und Vorschläge liefert. Die Stärke dort, wo er anhand der aktuellen Ereignisse grundsätzliche systematische Fragen des Verhältnisses von Politik und Kirche als unterschiedliche Möglichkeitsräume in der selben Wirklichkeit beleuchten kann.

Körtner offeriert ein Plädoyer. Das Plädoyer mit »engagierter Vernunft« sich der Aufgabe zu stellen »der Stadt Bestes zu suchen (Jer 29,7), […] in der rechten Verhältnisbestimmung von Glaube, Hoffnung und Liebe, von Herz und Verstand, politischer und theologischer Vernunft« (161).

Martin Böger ist Pfarrer und Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen.

Veröffentlicht auf www.nthk.de am 19.09.2017

Fußnoten zu Leitlein

Quelle Foto: http://www.ekhn.de

Eine Replik von Tobias Graßmann (@luthvind)

Hannes Leitlein hat zusammen mit Fabian Klask einen Blick auf die Veranstaltungen des Reformationssommers 2017 geworfen und ausgehen davon 9 beziehungsweise 9,5 Thesen formuliert. Auf Twitter habe ich angemerkt, dass ich diesen Thesen grundsätzlich zustimme, aber den Beschreibungen im Detail widersprechen sowie vermutlich andere Konsequenzen ziehen würde. Aus dem Urlaub in Südtirol antworte ich daher mit ein paar hastig hingeworfenen Zeilen.

Was Leitlein betrifft, so schreibt dieser mittlerweile sehr regelmäßig für Christ&Welt sowie Die Zeit. Wer etwa seinem Twitter-Account folgt (#ff @hannesleitlein), der erkennt, dass er sich als engagierter Vertreter einem urbanen, linken Moralprotestantismus zuordnen lässt. Neben dieser klaren Positionierung bemerke ich bei ihm allerdings ein journalistisches Ethos, das sich um jene Unparteilichkeit bemüht, die man Objektivität nennen könnte. Es ist diese Spannung zwischen Idealen und journalistischer Sorgfaltspflicht, die Leitlein zu einer interessanten Figur macht. Ob wir es hier mit der künftigen Evelyn Finger zu tun haben oder er doch irgendwann ein Start-Up für Lastenfahrräder gründet, vermag ich nicht zu prognostizieren – ich tauge auch wenig als Prophet. Aber jedenfalls ist er ein protestantischer Akteur, bei dem es sich lohnt, ihn auf dem Schirm zu behalten.

Nun zu den Thesen, die Leitlein zusammen mit Klask formuliert hat: Was die Leitsätze selbst (die ja eigentlich keine Thesen. sondern Imperative sind) betrifft, so sollten diese uneingeschränkt zustimmungsfähig sein. Grundsätzlich, so meine ich, haben die Autoren die Lage recht präzise erfasst und der Protestantismus sollte sich ihre Anregungen zu Herzen nehmen. Aber bei unter den konkreten Ausführungen zu den Imperativen scheint mir doch manches fragwürdig, anderes reizt mich zu Widerspruch.

So etwa die Aussage, dass die evangelische Kirche wenig zu lachen habe und vor allem nie über sich selbst lache (These 1). Sicher, man kann über den komödiantischen Wert des Kirchenkabaretts streiten, wie es etwa vom weißblauen Beffchen seit Urzeiten verkörpert wird. Auch über den der zahlreichen, mehr oder minder stark sächselnden Lutherparodien, die ich in den letzten Jahren erleben durfte und bei denen ja auch immer sehr gegenwärtige Pfarrherlichkeit verhandelt wird. Ob alles zum Lachen ist, was in der evangelischen Kirche witzig gemeint ist? Nun ja, eher nicht. Aber wer die Bereitschaft, über sich selbst zu lachen, grundlegend in Frage stellt, ist entweder der Konfessionspropaganda des rheinischen Katholizismus aufgesessen oder treibt sich in den falschen Diakonissenkonventen rum. Was nicht bedeuten soll, dass in Sachen Humor und Selbstironie keine Luft nach oben wäre!

Die Kirche sollte, so die Autoren, angesichts der Kritik von Seiten der „spießigen Sprachpolizisten“ (These 3) vom Verein Deutsche Sprache höchstens belustigt mit den Achseln zucken. Dem ist zuzustimmen. Keine Scheu vor Anglizismen, wo sie griffig sind und Wiedererkennungswert haben! Gleichzeitig ist ein Anglizismus allein natürlich noch kein Garant dafür, dass etwas frisch, modern und weltläufig klingt. Aber das dürfte mittlerweile allen außer ein paar in die Jahre gekommenen Jugendpfarrern bewusst sein. Ich sehe allerdings die Gefahr eher von einer anderen Seite und rechne dabei mit wenig Zustimmung bei Leitlein, der ja erklärter Fan der Bibel in gerechter Sprache ist. Denn der „Klartext“, den die Autoren fordern, ist nicht nur bedroht durch spießigen Sprachpurismus oder den „Jargon der Betroffenheit“ (E. Flügge). Aktuell ist es auch das Bemühen um inklusive und geschlechtsneutrale Sprache, das verlässlich eine bürokratisch-abstrakte Diktion hervorbringt und aus einer Rede schnell eine unfreiwillig komische Kaskade mitgelesener Sonderzeichen und gestelzter Partizipialkonstruktionen macht. In diesen Zusammenhang gehört auch das Liederheft des letzten Kirchentages, dessen Eingriffe in den Text traditioneller Lieder vielen unmotiviert schienen oder schlicht zu weit gingen. Dabei sind – das sei hier noch einmal betont – die Anliegen der „gerechten“ Sprache ja berechtigt: Eine Sprache, die etwa Frauen lediglich „mitmeint“, entspricht nicht unseren gesellschaftlichen Verhältnissen. Aber es geht eben auch um Verständlichkeit, Schönheit und nicht zuletzt Verhältnismäßigkeit – nicht um möglichst umfassende Sprachregelungen, an die man sich hoffentlich irgendwann schon gewöhnen wird. Oft kann die Predigerin mit einfachen Mitteln eingeschliffene Hörgewohnheiten irritieren, Geschlechterstereotype oder andere Vorurteile unterlaufen, ohne dass die Eleganz der Sprache leidet. Hier die richtige Balance zu finden, ist eine Kunst. Sprachbereinigung ist dagegen auch da ein Ärgernis, wo sie nicht reaktionär, sondern progressiv daherkommt!

Was den Personenkult (These 5) betrifft, so scheint mir die Beobachtung prinzipiell richtig, aber auch eine Engführung zu sein: Es muss nicht immer Personenkult sein, sondern es geht allgemein um Konkretheit und Greifbarkeit in der Erinnerungs- und Feierkultur. Man muss also nicht immer Dr. Lutherus in den Mittelpunkt stellen, aber in Wittenberg liegt ein Fokus auf Luther, sein Leben und die Ursprünge der Reformation eben nahe. An anderen Erinnerungsorten lassen sich jeweils andere Gestalten, Ereignisse und Themen aufgreifen, in Szene setzen und mit Leben füllen. Aber immer gilt: Für breite Menschengruppen jenseits des Fachpublikums wird Geschichte greifbar, wenn man sie an symbolkräftigen Orten und mit konkreten Identifikationsangeboten zum Thema macht. Diesen Effekt sollte man nicht überdehnen, indem man zu viel oder Gegenläufiges erreichen will.

Das Bekenntnis zum Osten (These 4) und zur Provinz (These 6), das die Autoren von der Kirche einfordern, trifft auf meine volle Zustimmung. Gerne wüsste ich nun, wie die Autoren vor diesem Hintergrund die – wie mir scheint, immer stärkere – Tendenz der jüngeren Pfarrerschaft bewerten, ihre Präferenzen für einen urbanen Lebensstil über den Dienstgedanken und faktisch das Wohl der Gemeinden abseits der Metropolregionen zu stellen. So kommt es dazu, dass die Provinz und die gerade östlichen Landeskirchen mit ihren vergleichsweise unattraktiven Arbeitsbedingungen voll unter dem Pfarrermangel zu leiden haben, während sich auf den freizeitfreundlichen Funktionsstellen und in den Innenstadtgemeinden die Leute drängeln. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage bedeutet: Je weniger Pfarrerinnen und Pfarrer es gibt, desto stärker kann die Pfarrerlobby ihre Interessen durchsetzen. Gegensteuern ließe sich nur durch eine Kombination aus Solidaritätsprinzip, sanftem Druck und echten Anreizen. Denn nein – es wird wohl kaum reichen, einfach eine Ideologie des Ehrenamts an die Stelle der Personalplanung zu setzen. Die Gemeinden werden es kaum als neuartige Chance für das Priestertum aller Getauften sehen, wenn Frau Müller aus dem Singkreis auch die Geschäftsführung und alle zwei Wochen einen Gottesdienst macht.

Die Thesen 7 und 8 sind meines Erachtens voll und ganz zu unterstützen.

Am stärksten dürften die Autoren und ich voneinander abweichen bezüglich der Konsequenzen, die aus der 9. und letzten These zu ziehen sind. Ich würde den Appell „Seid nicht so nett!“ zunächst als Aufforderung interpretieren, etwas mehr theologisches Profil zu wagen und sich nicht immer den Erwartungen vorzugreifen, welche man in Teilen der Gesellschaft zu spüren meint. Auch würde ich daraus die Lehre ableiten, innerkirchlich mehr Diskurs und offenen Streit zuzulassen. Wie oft wird unter dem Mantel einer alle Differenzen deckenden Nettigkeit jede Diskussion im Keim erstickt, um dann hinter dem Rücken der anderen zu lästern, zu intrigieren oder ihre Vorhaben zu blockieren? Das ist kein Verhalten, das einer christlichen Kirche gut ansteht – aber leider weit verbreitet, wie mir scheint!

Klask und Leitlein dagegen geht es weniger um den innerkirchlichen Umgang miteinander als um eine Kirche, die sich in Politik und Wirtschaft einmischt. Dagegen ist nun auch nichts einzuwenden, im Gegenteil! Doch dass sie gerade das berüchtigte Afghanistan-Diktum der früheren Bischöfin und Ratsvorsitzenden Käßmann als positives Beispiel anführen, verwundert dann schon.

Käßmann-Bashing liegt mir fern. Aber der Satz, der da als „präzise kritisch“ gelobt wird, steht doch eher für die Unkultur einer Kirche, die moralisch unangreifbar sein will und deshalb die Untiefen der Politik scheut. Keiner hat von der EKD verlangt, eine Entscheidung über mögliche Bündnisverpflichtungen Deutschlands zu treffen. Man kann von Käßmann auch nicht erwarten, sich ein detailliertes Bild von der Lage am Hindukusch zu machen und eine Antwort darauf zu finden, wie mit der instabilen Sicherheitslage, den Verbündeten und ihren Interessen sowie dem Leiden der Zivilbevölkerung umzugehen ist. Wenn aber seither der Bundestag den betreffenden Einsatz über die Grenzen mehrerer Fraktionen hinweg regelmäßig verlängert hat, weist das wohl darauf hin, dass es ganz so einfach eben nicht ist. Käßmanns Leistung besteht darin, ihr moralisches Gefühl, das sich als solches um Grautöne naturgemäß nicht zu scheren braucht, in eine bildzeitungsgerechte Kurzformel gebracht zu haben. Mit fragwürdigen Erfolg. Denn es wurde keine Wende zum Guten in der Afghanistanpolitik herbeigeführt, sondern lediglich der überwunden geglaubten Gegensatz von Gesinnungs-und Verantwortungsethik wiederbelebt. Schönen Dank auch!

Hier kann nun nicht im Detail aufgezeigt werden, wie politisches Handeln der Kirche aussehen kann und soll, das sich nicht auf moralische Weisungen der Kirchenprominenz beschränkt, sondern eine lebendige politische Kultur innerhalb der Kirche zur Basids hat. Es wäre sicher lohnenswert, dem einen oder mehrere Artikel zu widmen und dabei auch die neuesten Impulse der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung zu diskutieren. So Gott will findet sich jemand, der sich für nthk.de dieser Aufgabe annimmt.

Doch vielleicht hilft hier vorerst ein positives Beispiel, das ich dem Käßmann-Diktum entgegenstellen möchte. Als ein solches steht mir aktuell das Handeln der Kirchen angesichts der sog. Flüchtlingskrise vor Augen. Jenseits der Stellungnahmen von Seiten der Kirchenleitung – diese dürften manches befördert haben – sehe ich dabei die große Leistung bei den Gemeinden. Dort hatten notwendige gesellschaftliche Debatten einen Raum, die hier auch über die Grenzen der politischen Lager hinweg geführt wurden. So wurden bei vielen Menschen Vorurteile und Ängste sichtbar gemacht, bearbeitet und abgebaut. Schließlich hat man vielerorts ganz praktisch die Verantwortung übernommen für Flüchtlinge und deren Integration hier in Deutschland. Menschen haben sich für das Gemeinwohl eingebracht und sind dabei überzeugend für ihren Glauben eingestanden. Dabei wurde, wie die Reaktionen einiger meist konservativer Politiker zeigen, durchaus auch mit den Erwartungen von Seiten des Staates und der Politik gebrochen. Insofern ist den Autoren zuzustimmen: Nur Nettigkeit führt nicht weiter!

Grundsätzlich sollten sich die evangelischen Kirchen in politischen Fragen zunächst darauf besinnen, was ihnen von ihrem Auftrag und von ihrer Botschaft her aufgetragen ist. Dazu braucht es einen lebendigen Diskurs, der auch kontroverse Positionen zulässt. Nur auf dieser Grundlage lässt sich dann eine breite Mehrheit der Mitglieder für ein bestimmtes Vorgehen gewinnen und mobilisieren. Die Verständigung über das, was hier und heute geboten ist, dauert vielleicht einmal etwas länger als wünschenswert. Es könnte sein, dass sich in manchen Fragen keine eindeutige kirchliche Position gewinnen lässt. Aber wäre das so schlimm? Vielleicht ist gerade das ein wichtiger Beitrag zur politischen Kultur unserer Gesellschaft. Die Fähigkeit, Spannungen und Meinungsverschiedenheiten auszuhalten, scheint mir durchaus ausbaufähig.

Ach, und was den Segensroboter und die Aufforderung „Traut euch!“ (These 2) betrifft: Mit Blick auf die kommende Bundestagswahl melde ich Interesse an bezüglich eines Roboters, der Klagepsalmen rezitiert…

Might also be ethics, honey!

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(Noch eine Anmerkung zu “It’s the theology, stupid!”)

Gastbeitrag von Christian Stritzelberger, Tübingen

 

Vorweg: Die offene Diskussion über Theologie und Kirche ist großartig! Denn wenn wir als evangelische Kirche einen Vorwurf nicht loswerden, dann den der Beliebigkeit oder Belanglosigkeit. Was kann die Theologie belanglos machen? Und wie kann bei Pfarrerinnen und Pfarrern der Eindruck entstehen, sie hätten theologisch nichts gelernt, was ihnen weiterhilft? Zu dieser Debatte hier eine, hoffentlich weiterführende, Ergänzung.

 

„Sprachfähigkeit“ ist so etwas wie ein Grundwert des Protestantismus. Die Kirche soll zum Leben, zur Wirklichkeit etwas zu sagen haben. Dafür werden Pfarrerinnen theologisch ausgebildet. Aber welche Wirklichkeit ist das eigentlich, in der sie sich auskennen sollen?

Die für die heutige Theologie immer noch unverzichtbare „dialektische“ Theologie, auch z. B. die einst zum Grundinventar gezählte Seelsorgetheorie nach Thurneysen verbindet man (zu Recht oder zu Unrecht) mit dem Anspruch, eine „wirklichere“ Wirklichkeit zu durchschauen, die uns dann auch die alltägliche Wirklichkeit überhaupt erst verständlich macht.

Diese harte Alternative von „Wirklichkeit Gottes“ und dem, was „der kleine Mann“ für sich als Wirklichkeit erlebt, hatte natürlich gerade in Deutschland ihre historische Berechtigung. Wenn jeder im Land im Stechschritt in die falsche Richtung marschiert, muss man notfalls eben auf dem Wasser gehen, um nicht mitgeschleift zu werden. Diese Sicht ist aber für die evangelische Theologie auch gefährlich, wenn sie zur Grundhaltung wird. Schnell wird dann die „normale“ Wirklichkeit ignoriert, weil nur die „theologische“ wirklich zählt. So wird die beste Christologie, die klarste Trinitätslehre zum Herrschaftswissen: Würde ich das nur verstehen, dann könnte ich auch den Leuten in meiner Gemeinde helfen. Und so geht man dann nach dem Studium frustriert in eine Wirklichkeit, zu der man nichts zu sagen hat.

Wem ist aber überhaupt geholfen, wenn man die Probleme ihres Lebens als Unterthema der Christologie erklärt? Sicher Einigen, wenn das wirklich die Frage war. Ist es aber nicht immer. Und dann ist es mit einer Wirklichkeitsverschiebung nicht getan, denn das Problem liegt dann in dieser Wirklichkeit, in der wir nun einmal alle leben. Will man dazu etwas sagen, dann braucht es auch andere Mittel. Ein zentrales nennt man „Ethik“.

Wir stecken alle, als Theologinnen und als Christen überhaupt, schon im Leben. Und das besteht nicht nur aus Meditationen darüber, was das alles bedeutet. Das besteht auch aus Entscheidungen, ob man das eine oder das andere tut. Ob man eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen muss, ob man Kinderkrankenpfleger werden darf, wenn auf der Station auch Abtreibungen geschehen, ob man Kinder haben sollte, und so weiter. Das Auftragen von Bibelstellenextrakten auf solche ethischen Entzündungen lindert kaum. Vor allem, weil man nicht einfach so schon weiß, wo eigentlich die Stelle ist, die man behandeln müsste; was Symptom und was Auslöser ist.

Menschliche Wünsche, Absichten und die damit verwobenen Glaubensvorstellungen schaffen die Wirklichkeit, die sich jeden Tag ereignet. Um Krankheiten in dieser Wirklichkeit mit dem richtigen Mittel verarzten zu können, braucht man oft erst einmal eine gute Anatomie des Handelns – sprich: „Ethik“. Anders gesagt: Man muss in der Lage sein, zu entwirren, was einen Menschen umtreibt. Und ob das eine Entscheidung bräuchte, oder einen „Zuspruch des Evangeliums“. Wer aber nur verkündigen kann, degradiert alle anderen leicht zu permanenten Zuhörern – als hätten sie kein Leben zu führen.

Für ihre theologische Arbeit müssen Pfarrerinnen sich also (auch!) gut und bequem in der Ethik auskennen, so die These. Das ist nicht mit einer Reclam-Lektüre von Mills „Utilitarismus“ fürs Examen erledigt. Was man mit der Ethik lernt ist nämlich nicht bloß Theorie, oder eine Sammlung von fertigen Inhalten, sondern vor allem eine geübte Fertigkeit, technische Kompetenz. Es ist die Kunst, nachzuvollziehen und handhabbar zu machen, was im Leben verworren daherkommt. Schon deshalb geht Ethik also nicht mit dem Gestus der wirklicheren Wirklichkeit, sondern nur gut lutherisch mit dem Wissen, Gott und die Welt am Ende nicht verstehen zu können – und trotzdem ernsthaft drin zu stecken. Ohne Herrschaftswissen oder Sonderoffenbarungen darüber, was nun gerade richtig ist.

Das ist nicht fakultativ. Ethik gibt keine „Extrapunkte“ für den Wahlbereich. Im Gegenteil: Wer das nicht kann, riskiert, an völlig falschen Stellen mit dem Evangelium um sich zu werfen. Wenn da der Eindruck entsteht, Theologie sei irgendwie bedeutungslos, muss sich keiner wundern. Im falschen Licht scheint die schönste Dogmatik fahl, und schlechte Ethik lässt dümmstenfalls das Evangelium gleich mit schlecht aussehen. Besser also, wenn es da aufscheinen kann, wo es wirklich strahlt. Das kann durchaus in ethischen Diskussionen passieren – muss es aber nicht.

Kurz gesagt hat man als Berufstheologe ein echtes theologisches Defizit, wenn man nur Evangelium „kann“, aber keine Ethik. Das ist eine Herausforderung für die Universitäten, aber auch für die Studierenden. Das heißt nämlich für die Studienplanung, über der Begeisterung für raffinierte Dogmatik nicht die echte Auseinandersetzung mit der „gutbürgerlichen“ Ethik zu vergessen. Beide, das letztlich unbegreifliche Evangelium und die im Leben unvermeidbare Verantwortung, machen evangelische Theologie aus. Gut also, wenn man mit ihr lernt, zu beiden etwas zu sagen zu haben.

 

Christian Strizelberger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie II/Ethik (Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt) in Tübingen.

Wandern ohne Stecken und Stab?

Notwendige Anmerkungen zu „Und wie wir wandern im finstern Digital“

von Niklas Schleicher

Ich sitze gerade vor meinem Laptop, und tippe diesen Text. Auf dem zweiten Bildschirm läuft nebenher eine gestreamte Serie. Ich schreibe hier eine Antwort auf einen Text von Hannes Leitlein, der online bei zeit.de (http://www.zeit.de/2017/13/digitalisierung-medien-martin-luther-kirchen-reformation-netz) erschienen ist. Erfahren habe ich von diesem Text per Twitter und mich dann kurz per Telegram mit einem Freund ausgetauscht, ob wir auf nthk.de darauf reagieren sollen. Also auf dem Blog, den ich mitbetreibe. Lange Rede, kurzer Sinn: Auch ich bin mir dem bewusst, dass die digitale Welt bestimmend für unsere Diskurse ist, dass das Internet ein Raum für Kommunikation mit bisher ungekannten Möglichkeiten ist.

Von daher müsste ich Leitlein für diesen Text, der sich wie ein flammendes Plädoyer liest, dass die EKD sich endlich positiv mit der Digitalisierung auseinandersetzt, danken. Ja, möchte man sagen, ja, recht hat er. Der Kommentar von Margot Käßmann bezüglich Facebook und Seelsorge ist wirklich ziemlich peinlich. Und Äußerungen von technologiekritischen Theologen wie z.B. Werner Thiede sind oft auch nicht auf der Höhe der Zeit. Und er trifft auch weitere Punkte, die durchaus richtig sind, die für eine Kirche, die auch in der Gegenwart relevant bleiben will, zu bedenken sind.

Aber, um es etwas pathetisch mit Karl Barth zu formulieren: Nein! So kann das mit der Digitalisierung in der Gesellschaft, aber dann eben auch in Theologie und Kirche nun auch wieder nicht sein.

Der Gedankengang Leitleins ist, soweit ich das richtig interpretiere, folgender: Die digitale Revolution ist analog zu sehen zum Buchdruck und stellt einen tiefgreifenden Wandel unseres Kommunikationsverhaltens dar. Luther hat damals den Buchdruck für seine Reformation nutzen können und wurde erst durch diesen bekannt. Die evangelische Kirche, die sich in seiner Nachfolge sieht, sollte deshalb auch die Digitalisierung würdigen und mit ihr gehen, zumal die Kommunikation im Internet eine Form darstellt, die Ureigenes des Protestantismus zur Geltung bringt. Sie ist nämlich eine Form von Kommunikation, die das Dialogische, das Gespräch miteinander in den Fokus stellt. So entspricht sie dem Priestertum aller1. Von daher lösen sich im Digitalen dann auch Dinge wie geistiges Eigentum und so weiter auf und „Vielfalt, Beziehungen, Netzwerke, Interaktionen und Solidaritäten“ stehen im Vordergrund2. Kritisiert wird dann auch die Art der Internetkommunikation, wie sie z.B. der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm betreibt, da diese noch ganz im Analogen verhaftet bleibt, in dem Sinne, dass Bedford-Strohm zwar viel auf Facebook postet, aber auf Kommentare nicht antwortet3. Die digitale Welt jedenfalls ist etwas, das theologisch gedeutet werden will, über das und mit dem die Kirche gesprächsfähig werden muss. Es gibt freilich schwierige Seiten, z.B. Datenschutz und Barrieren des Zugangs4, aber im Großen und Ganzen eröffnet das Internet eine große Chance für den Menschen. Diese besteht nicht zuletzt darin, die institutionellen Schranken der verfassten Kirche durch eine fluide christliche Community zu ersetzen.

Soweit in aller Kürze das Narrativ, dass ich aus verschiedenen Gründen nicht teile. Ich will nur drei Punkte nennen, an denen zumindest weiterzudenken wäre.

Zum ersten muss man sich nochmal die Interpretation des Priestertums aller Gläubigen näher anschauen, das hier (nicht ganz zu Unrecht) als Kernstück der Reformation bezeichnet wird und das sich anscheinend in der digitalen Welt erst vollends verwirklichen soll. Nun meint das Priestertum aller Gläubigen zunächst folgendes: Es gibt für die Würdigkeit des Christen in Bezug auf sein Gottesverhältnis keinen Unterschied zwischen Priestern, Bischöfen und Mönchen und den Laien. Jeder getaufte Christ hat direkten Zugang zu Gott, kann sich Gott im Gebet nähern und braucht keine Vermittlung durch Geweihte, Priester oder Heilige5. Aber: Für die öffentliche Verkündigung des Evangeliums, also dafür, dass Leute auch die Christusbotschaft hören können, die bei Menschen den Glauben wecken kann, bestimmt die Kirche Ämter. Diese Ämter beinhalten keinen Unterschied in der Würdigkeit, sondern beschreiben Funktionen. Die Amtsträger verkünden das Evangelium öffentlich. Dies sieht Luther übrigens schon recht früh, als Lektüre sei hier z.B. die Adelschrift empfohlen. Aus dem Priestertum aller Gläubigen zu schließen, dass im Internet jeder Christ gleichermaßen zur öffentlichen Verkündigung berufen ist, wäre genauso falsch, wie zu folgern, dass es im Priestertum aller Gläubigen um die Beziehung der Menschen zueinander geht. Dass Leitlein in dieser ganzen Passage zur Reformation ohne irgendeine Idee zum Gottesbezug auskommt, ist wenigstens als sportlich zu bezeichnen.

Zum zweiten wird hier etwas übersehen, dass meine Generation immer wieder gerne übersieht. Das Leben im Digitalen ist für viele selbstverständlich geworden, macht aber auch einigen Menschen Angst und überfordert andere. Die Kirche besteht eben nicht nur aus den jungen 15-40 jährigen, die fordern, dass endlich wieder alles neu werden soll. Einen großen Teil der wirklich Treuen machen eben diejenigen aus, für die das Abrufen einer Mail oder ein Skypekontakt mit dem Enkel schon das Höchste der Gefühle ist. Es ist irritierend, dass diese Menschen in Leitleins Vision von Kirche gar keine Rolle mehr spielen und offensichtlich längst abgeschrieben sind. Hinzu kommt: Nicht nur Menschen dieser Generation bevorzugen eben im Sonntagsgottesdienst eine Predigt, die von der Kanzel vorgetragen wird, und kein digitales Happening in der Twitter-Sphäre. Die digitale Avantgarde überschätzt notorisch ihr eigenes zahlenmäßiges Gewicht, Stichwort: Filterbubble. Gerade die Gottesdienste an Lebensübergängen werden noch immer gerne in Anspruch genommen. Hier ist nun aber die Ritualkompetenz und Verkündigungserfahrung von Spezialisten gefragt. Denn bei aller Liebe: Meine Hochzeit hätte ich nicht gerne im freien Gespräch mit der Gemeinde im Internet gestaltet. Da gehört die gelehrte und emphatische Auslegung des Trauspruches genauso dazu wie der Segen und der Ringetausch vor der im Analogen versammelten Gemeinde. Noch deutlicher wird das Ganze bei Beerdigungen. Bei aller Möglichkeit von Online-Kondolenz-Büchern ist doch hier das analoge Ritual m.M.n. kaum zu ersetzen6.

Und drittens: Wenn wir die digitale Welt theologisch deuten wollen, dann bitte ordentlich. Dann muss man notwendigerweise die Unterscheidung zwischen Schöpfung und Fall machen und darauf hinweisen, dass auch die Person, die digital unterwegs ist, immer simul iustus et peccator bleibt. Die digitale Welt bleibt genauso wie die analoge zwiespältig, es wird dort gute Dinge geben, aber es gibt dort auch schlechte. Mit Bonhoeffer gesprochen: Auch die neue, digitale Welt bleibt im Vorletzten, die digitale Welt der neuen Kirche bleibt immer noch die sichtbare Kirche und wird nicht plötzlich als Ganzes zu derjenigen, die die Dogmatik als unsichtbare Kirche, mithin als Reich Gottes bezeichnet. Es wird also auch in der digitalen Kirche Strukturen geben müssen, die ein gewisses Maß an Ordnung und Verlässlichkeit sichern. Man muss das dann nicht Hierarchie oder Lehramt nennen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass in der digitalen Welt nicht viele Probleme analoger Kirche wiederkehren, meinetwegen in gewandelter Form.

Nochmal zurück zu Luther: Freilich nutzte er die neuen Medien, den Buchdruck für die Verbreitung seiner Reformation. Aber er hatte auch andere Äußerlichkeiten auf seiner Seite: Die politischen Verhältnisse im Reich und gewisse aufstrebende Schichten. Und trotz dieser Äußerlichkeiten brauchte es eben dennoch so jemanden wie Luther (oder Zwingli oder Bucer) der die treibenden Ideen hatte. Auch im Internet entstehen Ideen nicht qua Offenbarung ins Nichts. Und welche Kirche genau „Luther verdient“ hat, entscheidet zum Glück kein Redakteur der Zeit.

Die Digitalisierung ist von Seiten der Kirche als Faktum anzunehmen, kreativ mitzugestalten und keinesfalls kulturpessimistisch zu verteufeln. Aber ob wir die Digitalisierung für die Möglichkeit feiern wollen, die verfasste Kirche mit ihren spezialisierten Ämtern abzuräumen und durch eine Cloud fluider Cybersekten zu ersetzen?

Mit Luthers Bibelübersetzung gesprochen: Das sei ferne!

1Das bei Leitlein nicht vom Priestertum aller Gläubigen bzw. aller Getaufen die Rede ist, könnte ein Flüchtigkeitsfehler sein. Bestimmt meint er „aller Gläubigen“. Oder?

2Hier bin ich persönlich recht angefressen. Freilich kann jemand die Abschaffung geistigen Eigentums als Gewinn bezeichnen, der Geld für seinen Journalismus bekommt. Wissenschaftliche Theologen, die sich mit ihren Veröffentlichungen und entsprechend auch mit ihrer geistigen Arbeit später eventuell auf Stellen bewerben also solche Leute wie ich, sollte ich einmal nicht den Weg ins Pfarramt einschlagen , sind schon ein bisschen drauf angewiesen, dass mit den von ihnen produzierten Texten nicht einfach als beliebiges Allgemeingut umgegangen wird. Oder aber: Wenn wir schon den Kommunismus fordern, dann bitte richtig!

3Nun muss man allerdings auch zugestehen: Wer sich mal die Kommentare unter manchen Posts von Bedford-Strohm angeschaut hat, kommt vielleicht zu dem Ergebnis dass darauf sachlich zu antworten mehr gute Nerven erfordert, als ein Mensch haben kann.

4Das Barrieren übrigens nicht nur Sehbehinderungen betrifft, sondern auch die Tatsache, dass viele Leute sich Internet bzw. die notwendigen Endgeräte immer noch nicht leisten können, nun, dass kann man schon mal übersehen.

5Kann aber, um diese einfache Gegenüberstellung etwas einzuordnen, auch nicht mehr auf die Fürsprache von Heiligen vor Gott bauen. Jede Person ist vor Gott unvertretbar.

6Mich hat bis jetzt noch kein online-basiertes Ritual oder noch keine Form des Online-GDs auch nur halbwegs überzeugt. Mit Blick auf die absoluten Zahlen dürfte sich die Gruppe derer, die solche Angebote regelmäßig in Anspruch nehmen, als recht begrenzt herausstellen. Und es ist kaum zu erwarten, dass sich das in näherer Zukunft kategorial ändert.