Bild von Gerd Altmann (Pixabay)

Die Ethik des social-distancing

Unzusammenhängende Notizen

Von Niklas Schleicher

Es ist ein bisschen mehr als zwei Wochen her, da gab es eine Sitzung zur Vorbereitung der ökumenischen Passionsandachten im Ort, in dem ich Vikar bin. Wir waren zu sechst: Die zwei evangelischen Geistlichen, eine katholische Pastoralreferentin, ein Pastor der Methodistischen Kirche, eine evangelische Gefängnisseelsorgerin und halt ich. Wir haben über Corona gesprochen, damals schien das noch nicht so drastisch, wie es sich jetzt darstellt. Die Gefängnisseelsorgerin äußerte starke Bedenken gegen mögliche Ausgangssperren oder Absagen von Gottesdiensten. Ich versuchte etwas gegenzuhalten, weil ich schon durchaus überzeugt war, dass dieses Virus gefährlich sein könnte. Jene Pfarrerin jedenfalls plädierte vehement dafür, dass wir unsere Freiheitsrechte nicht zu leichtfertig aufgeben sollten. Vielleicht hatte sie ein bisschen recht.

Irgendwie habe ich das Bedürfnis etwas zu schreiben aus der Perspektive theologischer Ethik bezüglich Corona. Klar, ein zusammenhängender Text wäre vielleicht besser. Aber irgendwie fehlt mir dazu der Mut und die Idee, was das Zusammenhängende sein könnte, das jetzt schon zu sagen wäre. Und ich bin halt auch keiner, dem es leicht fällt, irgendwie neue Großtheorien zu verkünden1. Manche sind in sowas einfach besser. Deshalb: Im Folgenden ein paar unzusammenhängende Beobachtungen und Gedanken mit der Möglichkeit das beizeiten fortzusetzen. Und weil ich das ernst nehme mit dem #stayathome, steht hier wieder mal die Twitter-Debatte im Fokus. Sehen wir am Ende, wo wir dann eigentlich stehen werden.

  „Schön ist es auf der Welt zu sein. Sagt die Biene zu dem Stachelschwein“. So der Refrain eines recht bekannten Kinderlieds. Interessanter doch aber die Strophe, wo es darum geht, dass das Schönste an der Schule die Ferien sein und „Das Schönste im Leben ist die Freiheit.“ Nun ja. Schule ist ja erstmal auch vorbei und zur Freiheit gibt es doch in den letzten Tagen einiges zu sagen. Diese ist mittlerweile in Deutschland so eingeschränkt, wie wahrscheinlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und man verstehe mich nicht f alsch, die Maßnahmen sind wahrscheinlich die richtigen. Aber: Es sind nun mal Ausgangssperren und nicht „zeitlich beschränkte Solidaritätsaktionen“.  Und ja, der Witz an Freiheit ist, dass jeder Mensch zunächst und wenn er nicht gegen Gesetze verstößt, selbst entscheiden darf, was er darunter versteht. Mich befremdet es, dass jetzt wieder alle wissen, was der richtige Ausdruck an Freiheit ist. Denn sind wir ehrlich: diesen Freiheitspathos verzeihen wir Protestanten unserem Luther sowieso nie mehr.

Überhaupt wäre etwas mehr Ehrlichkeit schon auch für unsere Blase schön. Ich habe mich vor ein paar Tagen mit einer Freundin unterhalten, die Psychotherapeutin ist. Die sagte, dass das, was da passiert mit diesem social distancing, für Menschen, die in der Therapie sind, extrem gefährlich sein kann. Und dann hier bei mir im Ort: Dort machen nach und nach die Tafeln zu. Da reden wir noch gar nicht von den Menschen an den Grenzen Europas. Ja, die Ausgangssperren und die Einschränkung des öffentlichen Lebens sind wichtig und richtig. Aber: Sie sind eben auch eine Güterabwägung. Eine Güterabwägung, bei der ein paar auf der Strecke bleiben werden. Das sollten wir schon so benennen. Irgendjemand hat im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Corona die Phrase „Whatever it takes“ verwendet. Es war wahrscheinlich Söder [Nein, Niklas, es waren Altmaier/Scholz. Macht aber nichts. Kommentar TG]. Ich weiß nicht, wen der, wenn er es denn war, damit zitiert hat [Mario Draghi, TG]. Aber bei Söder könnte ich mir schon vorstellen, dass er Tony Stark (Iron Man) aus dem letzten Avengers-Film vor Augen hatte [Fürwahr!]. Der Slogan von ihm und seinen Avengers vor dem Endkampf gegen den Super-Bösewicht war eben jenes „Whatever it takes!“. Damit meinten sie aber ihren Leib und ihr Leben. Und nicht das Wohlergehen von Menschen, über die entschieden wird.

Ja, dass wir keine Gottesdienste mehr feiern dürfen, ist schwer. Aber es ist richtig. Und dass viele Pfarrer und Pfarrerinnen nochmal vehement dafür eintreten, sich an dieses Verbot auch zu halten, ist gut. Aber sind, so war es auf Twitter zu lesen, denn diejenigen, die sich an Abstandsgebote nicht halten oder halten wollen, denn Pest- oder Coronaratten? Ich meine, das ist ja nur symptomatisch für eine ganz interessante Beobachtung. Die Beobachtung, dass die (vielen) Wachen auf Twitter und Co. sich sehr schnell über die (vielen) Dummen da draußen auslassen. Einer oder eine hat geschrieben, dass #stayathome auch eine Klassenfrage sei. Vielleicht muss man darüber auch nochmal nachdenken.

Apropos Frei: Ich habe einen ganz guten Bestand an Entwürfen theologischer Ethik daheim rumstehen. Wovon die alle irgendwie frei zu sein scheinen, ist die Behandlung von Triagen2, also der Begutachtung von Patienten nach ihren Lebenschancen im Falle von nicht ausreichenden Ressourcen. Vielleicht dachten wir alle, dass das maximal etwas ist, dass bei philosophischen Gedankenspielen in Dilemmageschichten Verwendung finden sollte. Und vielleicht ist eine Medizinethik, die, bei aller Aufnahme von Ideen aus der feministischen Ethik, immer noch von der Beziehung zweier handelnder Individuen (Arzt und Patient) ausgeht, auch gar nicht in der Lage, dass zu behandeln. Aber allein im Betrauern dieser Tatsache und der gleichzeitigen Abwälzung dieses Problems auf die Ärzteschaft ist es halt auch nicht getan. Auch wenn man damit natürlich wiedermal das erreicht, was gerade die theologische Ethik immer wieder gerne versucht: Sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen.

Dass es jetzt in den letzten Tagen viele philosophisch-rechtliche Guidelines gibt, ist natürlich wichtig und richtig. Aber vielleicht, nur vielleicht, merken wir, dass uns mal eine grundsätzliche Auseinandersetzung damit fehlt, dass das „Leben eines Menschen“ nicht immer als unangreifbar und absolut sakral gelten kann. Und zwar nicht erst dann, wenn es wirklich darum geht, ein Leben gegen ein anderes abzuwägen. Nicht erst, wenn wir sowieso schon mit dem Rücken zur Wand stehen.

Das Wort „Grausam“ ist schwer zu definieren. Man kann aber, so sinngemäß ein Aufsatz von Johannes Fischer, Situationen erzählen, auf die diese Definition zutrifft. Auch wenn mir da vielleicht nicht alle zustimmen, würde ich es als grausam bezeichnen, wenn Menschen bestattet werden müssen und bei der Trauerfeier von vornherein nicht mehr als 10 Menschen dabei sein dürfen. So ist jedenfalls die Regelung in Württemberg. Bei dem Tod eines Elternteils von mir wären das nicht mal diejenigen Personen, die ich als Kernfamilie bezeichnen würde. Klar, in diesem eigenen Falle würde mich das wahrscheinlich nicht stören – aber das sich dagegen nicht Widerstand erhebt, sondern, dass das sogar begrüßt wird, auch von uns Kirchenmenschen, finde ich schon ein bisschen verstörend.

Nochmal zurück zur evangelischen Theologie und zur Philosophie: Ein Paradigma der letzten Jahre war doch irgendwie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und in unterschiedlichen Schulen die Bedeutung von menschlichen Beziehungen für das Person-Sein. Mensch sein vollzieht sich dementsprechend immer in Beziehungen. Haben wir eigentlich darüber nachgedacht, was wir tun, wenn wir widerspruchslos hinnehmen, dass wir nun einige Menschen von Beziehungen abschneiden? Klar, viele von uns leben in Familien oder festen Beziehungen. Und viele nutzen die neuen Medien, um Kontakt zu halten. Und wieder andere werden von Menschen aus ihren Kontexten kontaktiert durch unterschiedliche Mittel. Aber es gibt sie eben auch, diejenigen, deren Kontakt darin besteht, samstags auf den Markt zu gehen, oder mittwochs ins Wirtshaus. Und es wäre vermessen und dumm, anzunehmen, dass man die schon irgendwie anders erreicht. Hieran und an weiteren Beispielen wird dieses Paradigma des Mensch-Seins in Beziehungen irgendwie doch auch deutlich. Vielleicht sollte man sich künftig Corona vor Augen führen und was man da von dieser Tatsache gehalten hat, wenn man wieder mal die Bedeutung von menschlichen Beziehungen im palliativmedizinischen Kontext betont, vor allem wenn es darum geht, das gegen Sterbehilfe auszuspielen. Aber das führt jetzt sehr weit weg…

Man könnte zu jedem dieser Punkte noch deutlich mehr und deutlich kohärenter schreiben. Aber das dürfen dann andere machen. Und vielleicht kommen in ein paar Wochen noch ein paar Punkte dazu. Ansonsten bleibe ich weiter, zumal als schon irgendwie auch nicht ganz ohne Risiko, im #socialdistancing und beobachte den unaufhaltsamen Aufstieg des Markus Söders. Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

2 Zu Triagen erscheint in den kommenden Tagen ein Text von mir auf: https://eulemagazin.de/.

Hinterlasse einen Kommentar