Mehr offene als geklärte Fragen beim digitalen Abendmahl

(Beitragsbild gefunden via Twitter bei @AmhKlassen; Urheber*in unbekannt.)

Neben brisanten ethischen Fragen wirft die gegenwärtige, durch das Coronavirus Sars-CoV-2, seine rapide Ausbreitung und notwendige Bekämpfung ausgelöste Krise für uns als Kirche auch die Frage nach der angemessenen Feier des Abendmahls auf.

Wortgottesdienste und Tauffeiern sind derzeit ausgesetzt. Mit dem Verbot gottesdienstlicher und andere Zusammenkünfte ist den Kirchen auch die Feier des Abendmahls in seiner üblichen Form faktisch untersagt. Wenn nun die Kirche – auch protestantisch – als sakramentale Wirklichkeit bezeichnet werden kann, ist diese Einschränkung gravierend, sofern sie an ein Lebensprinzip der Kirche als sichtbarer Manifestation des Leibes Christi in der Welt rührt. Denn unser Glaube lebt aus dem Versprechen, dass Jesus Christus insbesondere dort wirksam und erfahrbar gegenwärtig ist, wo wir als Gemeinde sein Gründonnerstagsgebot erfüllen. Wir setzen im Abendmahl Jesu Mahlgemeinschaft mit den Sündern fort, hören die Einsetzungsworte als konzentrierte Form des Evangeliums, teilen Brot und Wein. In diesem Vollzug bezeugen wir seinen Heilstod in der Welt und erwarten das ewige Freudenmahl.

Gerade jetzt, während der für viele Menschen beängstigenden und mit Einschränkungen verbundenen Krise, läuft das Kirchenjahr auf die höchsten christlichen Festtage zu: das Ende der Passionszeit und das Osterfest. Das Bedürfnis der Glaubenden, das Mahl Jesu Christi zu feiern, ist dort, wo es besteht und geäußert wird, ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist sehr verständlich, dass die Frage nach alternativen Formen der Abendmahlsfeier aufbricht und in der Pfarrerschaft sowie den Gemeinden kontrovers diskutiert wird. Dabei kreist die Diskussion vielerorts um die Kernfrage, ob das Abendmahl trotz vermittelt durch digitale Medien gefeiert werden kann. Das seelsorgerliche Interesse ist ernstzunehmen, schon deshalb ist die Beschäftigung mit dieser Frage nicht einfach als theologische Selbstbeschäftigung abzutun.

Nicht ausreichend geklärt erscheint mir dabei bei vielen Beiträgen, ob sie sich als seelsorgerlich begründete Notordnung verstehen oder eine grundsätzliche Entwicklung im Abendmahlsverständnis und der liturgischen Praxis anstreben. Aber diesbezüglich ist eine Klärung notwendig, weil die Tragweite einer solchen Entscheidung unter Umständen beeinflusst, welche Entscheidungen man persönlich mittragen möchte oder nicht. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass es kaum angemessen wäre, gerade jetzt im Windschatten der Krise eine theologische Agenda zur Entkoppelung von Ortsgemeinde, Gottesdienst und Kirche voranzutreiben…

Unerlässlich für eine sachgemäße Behandlung der Fragen ist, dass die Theologie von den Suche nach biblisch begründeten Wesensmerkmalen der Abendmahlsfeier ausgeht. Man kann leider derzeit den Eindruck bekommen, dass viele Stellungnahmen sich primär am – tatsächlichen oder vermuteten – Bedürfnis orientieren und auf dieses hin passende Begründungen konstruieren. Wenn für so eine Begründung einzelne Bibelstellen aus dem Kontext der Schrift isoliert und mit fragwürdiger Bedeutung aufgeladen, wenn Bekenntnisse einer abstrakt-buchstäblichen Lesart unterzogen werden, ist das keine hinreichende Grundlage. Bevor auf so einer Grundlage liturgische Fakten geschaffen werden, ist die Frage lieber offenzulassen und in Hoffnung auf eine künftige Klärung den Gewissen der Einzelnen freizustellen.

Zentrales Kriterium muss bleiben, ob das Mahl stiftungsgemäß, das heißt: mit all seinen wesentlichen Grundzügen gefeiert wird. Innerhalb dieses Rahmens sind bereits viele Varianten der Abendmahlfeier üblich, die sich zum Teil auch aus hygienischen Bedenken herleiten. Wenn man nun aber von einer theologischen Bestimmung des Abendmahls und der üblichen liturgischen Praxis der evangelischen Kirchen ausgeht, stellen sich hinsichtlich digital vermittelter Formen des Abendmahls einige noch nicht hinreichend beantwortete Fragen.

Unstrittig dürfte sein, dass für eine Abendmahlsfeier die gesprochenen Einsetzungsworte ebenso unverzichtbar sind wie der tatsächliche Verzehr von Brot und Wein (bzw. Traubensaft).

Mit guten Gründen spendet sich nun in den evangelischen Kirchen – unabhängig von der Form der Feier – normalerweise niemand selbst das Abendmahl. Wenn der Gabecharakter der Elemente („für euch gegeben“) zeichenhaft für die Hingabe Jesu Christi und das radikale Empfangen des Glaubens zu verstehen sein sollte, dann stellt sich die Frage, ob diese Zeichenhandlung angemessen realisiert ist, wenn jede Person sich selbst vor dem Monitor die Elemente bereitet und zu sich nimmt. Dabei wird faktisch auch das Sprechen der Einsetzungsworte stärker aufgeladen, insofern auf diesen Worten allein und ohne Geste der Austeilung die wirksame Vergegenwärtigung zu ruhen scheint.

Wenn die Deutung des einen Brotes und des einen Kelchs auf die Einheit und Gemeinschaft der christlichen Gemeinde, die Paulus in 1Kor 10,16f. vornimmt, theologisch noch immer plausibel ist, dann stellt sich die Frage, ob diese Gemeinschaft in den alternativen, medial vermittelten Formen angemessen zur Darstellung kommt. Tritt hier nicht diese Einheit so weit zurück, dass sie gar nicht mehr erfahrbar ist? Ist der Beschwörung digitaler Gemeinschaftlichkeit, die der Gemeinschaft der Ortsgemeinde gleichwertig (oder gar überlegen) sei, zu trauen?

Diese beide Punkte ergeben zusammen eine kritische Sicht auf die digitale Abendmahlsfeier: Die nur medial versammelte Gemeinde handelt hier nicht als das eine Subjekt der Feier, aus der sich eine besonders beauftragte Person heraushebt. Stattdessen handelt eine Person, woraufhin andere Person reagieren. Um auf dieses Problem zu reagieren, müsste die Einsetzung und digital vermittelte Leitung zumindest durch mehrere Personen vollzogen werden. Auch wäre darauf zu achten, dass die Gemeindeglieder in der Feier, die sie gemeinsam vollziehen, wechselseitig füreinander präsent werden. Technisch ist dies nicht so einfach zu realisieren.

Der besondere Wert des Sakraments über die bloße Wortverkündigung hinaus liegt zudem – zumindest nach traditionell-lutherischem Verständnis – in der Leiblichkeit des Vollzugs, der den ganzen Menschen mit Sinnen, Gefühlswelt, Willen und Verstand noch einmal anders einbezieht als die bloße Anrede von Mund zu Ohr. Die Sinnlichkeit des Schmeckens bliebe zwar gewahrt, wenn jede Person einzeln die Elemente zu sich nimmt. Doch stellt sich doch die Frage, ob zur Leiblichkeit des Abendmahls nicht doch auch leibliche Präsenz im Raum gehört. Können einzelne Elemente der liturgischen Handlung – etwa der Friedensgruß oder das Geben der Hände zum Schlusssegen – aus hygienischen Bedenken zweifellos entfallen und das Abendmahl weitgehend „kontaktlos“ gefeiert werden, könnte trotzdem die Vermittlung durch Bildschirme oder Telefone zu viel Distanz bedeuten. Dass die medial vermittelte Selbstinszenierung digitaler Avatare eine Form persönlicher Präsenz darstellt, die von der körperlich vermittelten gar nicht kategorial unterschieden wäre, ist eine zumindest noch der Plausibilisierung bedürftige These.

Wenn schließlich die liturgische Formel „sooft ihr von diesem Brot esst und von dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1Kor 11,16) auf das öffentliche Bekenntnis der Gemeinde vor der Welt verweist, stellt sich hinsichtlich der diskutierten Alternativen die Frage, inwiefern Öffentlichkeit und persönlicher Bekenntnischarakter festgehalten sind. Die Öffentlichkeit ist kaum gewahrt, sollte das Abendmahl in geschlossenen digitalen Räumen (etwa: unter den Abonnenten eines Channels) gefeiert werden. Der Bekenntnischarakter, der im Gottesdienstbesuch schon implizit gesetzt ist, wird fraglich, wenn das Abendmahl zwar in einer digitalen Öffentlichkeit (etwa: bei Twitter unter einem bestimmten Hashtag), aber von einer großen Zahl der Teilnehmer im Modus der Unsichtbarkeit, Anonymität oder Pseudonymität gefeiert wird.

Zusammengenommen ist zu fragen: Kehrt bei vielen, wenn nicht allen derzeit diskutierten Vorschlägen ein grundsätzlich überwundenes, individualistisch auf das Heil des Einzelnen verengtes und dem Bezug auf die Kirche sowie die Welt als Schöpfung Gottes entkleidetes Abendmahlsverständnis wieder? Wird zudem in der oft nur über die Person des oder der Einsetzenden vermittelten Kommunikation nicht auch ein klerikales Verständnis befördert, das die ganze Gemeinde als Subjekt der Mahlfeier zum Verschwinden bringt.

Nimmt man die theologisch gewichtigen Anfragen an die derzeit diskutierten Formen der Abendmahlsfeier zusammen und ist man daneben skeptisch bezüglich der Behauptung eines Bedürfnisses der Glaubenden, welches auf anderem Wege nicht befriedigt werden könne, dann gilt meines Erachtens: Die Praxis des digitalen Abendmahls erscheint mir theologisch derzeit nicht ausreichend durchdacht und begründet. Den Kirchen steht während der gegenwärtigen Ausnahmesituation frei, ihren Amtsträgerinnen, Amtsträgern und Gemeindegliedern eine individuelle Gewissensentscheidung bezüglich digitaler Abendmahlsfeiern zuzugestehen.

Von liturgischer und offizieller Rezeption solcher Vorschläge ist aber abzusehen, solange sich kein theologisch gut begründeter Konsens zugunsten solcher Versuche etablieren lässt.

Pfr. Tobias Graßmann

Die Ethik des social-distancing

Unzusammenhängende Notizen

Von Niklas Schleicher

Es ist ein bisschen mehr als zwei Wochen her, da gab es eine Sitzung zur Vorbereitung der ökumenischen Passionsandachten im Ort, in dem ich Vikar bin. Wir waren zu sechst: Die zwei evangelischen Geistlichen, eine katholische Pastoralreferentin, ein Pastor der Methodistischen Kirche, eine evangelische Gefängnisseelsorgerin und halt ich. Wir haben über Corona gesprochen, damals schien das noch nicht so drastisch, wie es sich jetzt darstellt. Die Gefängnisseelsorgerin äußerte starke Bedenken gegen mögliche Ausgangssperren oder Absagen von Gottesdiensten. Ich versuchte etwas gegenzuhalten, weil ich schon durchaus überzeugt war, dass dieses Virus gefährlich sein könnte. Jene Pfarrerin jedenfalls plädierte vehement dafür, dass wir unsere Freiheitsrechte nicht zu leichtfertig aufgeben sollten. Vielleicht hatte sie ein bisschen recht.

Irgendwie habe ich das Bedürfnis etwas zu schreiben aus der Perspektive theologischer Ethik bezüglich Corona. Klar, ein zusammenhängender Text wäre vielleicht besser. Aber irgendwie fehlt mir dazu der Mut und die Idee, was das Zusammenhängende sein könnte, das jetzt schon zu sagen wäre. Und ich bin halt auch keiner, dem es leicht fällt, irgendwie neue Großtheorien zu verkünden1. Manche sind in sowas einfach besser. Deshalb: Im Folgenden ein paar unzusammenhängende Beobachtungen und Gedanken mit der Möglichkeit das beizeiten fortzusetzen. Und weil ich das ernst nehme mit dem #stayathome, steht hier wieder mal die Twitter-Debatte im Fokus. Sehen wir am Ende, wo wir dann eigentlich stehen werden.

  „Schön ist es auf der Welt zu sein. Sagt die Biene zu dem Stachelschwein“. So der Refrain eines recht bekannten Kinderlieds. Interessanter doch aber die Strophe, wo es darum geht, dass das Schönste an der Schule die Ferien sein und „Das Schönste im Leben ist die Freiheit.“ Nun ja. Schule ist ja erstmal auch vorbei und zur Freiheit gibt es doch in den letzten Tagen einiges zu sagen. Diese ist mittlerweile in Deutschland so eingeschränkt, wie wahrscheinlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und man verstehe mich nicht f alsch, die Maßnahmen sind wahrscheinlich die richtigen. Aber: Es sind nun mal Ausgangssperren und nicht „zeitlich beschränkte Solidaritätsaktionen“.  Und ja, der Witz an Freiheit ist, dass jeder Mensch zunächst und wenn er nicht gegen Gesetze verstößt, selbst entscheiden darf, was er darunter versteht. Mich befremdet es, dass jetzt wieder alle wissen, was der richtige Ausdruck an Freiheit ist. Denn sind wir ehrlich: diesen Freiheitspathos verzeihen wir Protestanten unserem Luther sowieso nie mehr.

Überhaupt wäre etwas mehr Ehrlichkeit schon auch für unsere Blase schön. Ich habe mich vor ein paar Tagen mit einer Freundin unterhalten, die Psychotherapeutin ist. Die sagte, dass das, was da passiert mit diesem social distancing, für Menschen, die in der Therapie sind, extrem gefährlich sein kann. Und dann hier bei mir im Ort: Dort machen nach und nach die Tafeln zu. Da reden wir noch gar nicht von den Menschen an den Grenzen Europas. Ja, die Ausgangssperren und die Einschränkung des öffentlichen Lebens sind wichtig und richtig. Aber: Sie sind eben auch eine Güterabwägung. Eine Güterabwägung, bei der ein paar auf der Strecke bleiben werden. Das sollten wir schon so benennen. Irgendjemand hat im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Corona die Phrase „Whatever it takes“ verwendet. Es war wahrscheinlich Söder [Nein, Niklas, es waren Altmaier/Scholz. Macht aber nichts. Kommentar TG]. Ich weiß nicht, wen der, wenn er es denn war, damit zitiert hat [Mario Draghi, TG]. Aber bei Söder könnte ich mir schon vorstellen, dass er Tony Stark (Iron Man) aus dem letzten Avengers-Film vor Augen hatte [Fürwahr!]. Der Slogan von ihm und seinen Avengers vor dem Endkampf gegen den Super-Bösewicht war eben jenes „Whatever it takes!“. Damit meinten sie aber ihren Leib und ihr Leben. Und nicht das Wohlergehen von Menschen, über die entschieden wird.

Ja, dass wir keine Gottesdienste mehr feiern dürfen, ist schwer. Aber es ist richtig. Und dass viele Pfarrer und Pfarrerinnen nochmal vehement dafür eintreten, sich an dieses Verbot auch zu halten, ist gut. Aber sind, so war es auf Twitter zu lesen, denn diejenigen, die sich an Abstandsgebote nicht halten oder halten wollen, denn Pest- oder Coronaratten? Ich meine, das ist ja nur symptomatisch für eine ganz interessante Beobachtung. Die Beobachtung, dass die (vielen) Wachen auf Twitter und Co. sich sehr schnell über die (vielen) Dummen da draußen auslassen. Einer oder eine hat geschrieben, dass #stayathome auch eine Klassenfrage sei. Vielleicht muss man darüber auch nochmal nachdenken.

Apropos Frei: Ich habe einen ganz guten Bestand an Entwürfen theologischer Ethik daheim rumstehen. Wovon die alle irgendwie frei zu sein scheinen, ist die Behandlung von Triagen2, also der Begutachtung von Patienten nach ihren Lebenschancen im Falle von nicht ausreichenden Ressourcen. Vielleicht dachten wir alle, dass das maximal etwas ist, dass bei philosophischen Gedankenspielen in Dilemmageschichten Verwendung finden sollte. Und vielleicht ist eine Medizinethik, die, bei aller Aufnahme von Ideen aus der feministischen Ethik, immer noch von der Beziehung zweier handelnder Individuen (Arzt und Patient) ausgeht, auch gar nicht in der Lage, dass zu behandeln. Aber allein im Betrauern dieser Tatsache und der gleichzeitigen Abwälzung dieses Problems auf die Ärzteschaft ist es halt auch nicht getan. Auch wenn man damit natürlich wiedermal das erreicht, was gerade die theologische Ethik immer wieder gerne versucht: Sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen.

Dass es jetzt in den letzten Tagen viele philosophisch-rechtliche Guidelines gibt, ist natürlich wichtig und richtig. Aber vielleicht, nur vielleicht, merken wir, dass uns mal eine grundsätzliche Auseinandersetzung damit fehlt, dass das „Leben eines Menschen“ nicht immer als unangreifbar und absolut sakral gelten kann. Und zwar nicht erst dann, wenn es wirklich darum geht, ein Leben gegen ein anderes abzuwägen. Nicht erst, wenn wir sowieso schon mit dem Rücken zur Wand stehen.

Das Wort „Grausam“ ist schwer zu definieren. Man kann aber, so sinngemäß ein Aufsatz von Johannes Fischer, Situationen erzählen, auf die diese Definition zutrifft. Auch wenn mir da vielleicht nicht alle zustimmen, würde ich es als grausam bezeichnen, wenn Menschen bestattet werden müssen und bei der Trauerfeier von vornherein nicht mehr als 10 Menschen dabei sein dürfen. So ist jedenfalls die Regelung in Württemberg. Bei dem Tod eines Elternteils von mir wären das nicht mal diejenigen Personen, die ich als Kernfamilie bezeichnen würde. Klar, in diesem eigenen Falle würde mich das wahrscheinlich nicht stören – aber das sich dagegen nicht Widerstand erhebt, sondern, dass das sogar begrüßt wird, auch von uns Kirchenmenschen, finde ich schon ein bisschen verstörend.

Nochmal zurück zur evangelischen Theologie und zur Philosophie: Ein Paradigma der letzten Jahre war doch irgendwie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und in unterschiedlichen Schulen die Bedeutung von menschlichen Beziehungen für das Person-Sein. Mensch sein vollzieht sich dementsprechend immer in Beziehungen. Haben wir eigentlich darüber nachgedacht, was wir tun, wenn wir widerspruchslos hinnehmen, dass wir nun einige Menschen von Beziehungen abschneiden? Klar, viele von uns leben in Familien oder festen Beziehungen. Und viele nutzen die neuen Medien, um Kontakt zu halten. Und wieder andere werden von Menschen aus ihren Kontexten kontaktiert durch unterschiedliche Mittel. Aber es gibt sie eben auch, diejenigen, deren Kontakt darin besteht, samstags auf den Markt zu gehen, oder mittwochs ins Wirtshaus. Und es wäre vermessen und dumm, anzunehmen, dass man die schon irgendwie anders erreicht. Hieran und an weiteren Beispielen wird dieses Paradigma des Mensch-Seins in Beziehungen irgendwie doch auch deutlich. Vielleicht sollte man sich künftig Corona vor Augen führen und was man da von dieser Tatsache gehalten hat, wenn man wieder mal die Bedeutung von menschlichen Beziehungen im palliativmedizinischen Kontext betont, vor allem wenn es darum geht, das gegen Sterbehilfe auszuspielen. Aber das führt jetzt sehr weit weg…

Man könnte zu jedem dieser Punkte noch deutlich mehr und deutlich kohärenter schreiben. Aber das dürfen dann andere machen. Und vielleicht kommen in ein paar Wochen noch ein paar Punkte dazu. Ansonsten bleibe ich weiter, zumal als schon irgendwie auch nicht ganz ohne Risiko, im #socialdistancing und beobachte den unaufhaltsamen Aufstieg des Markus Söders. Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

2 Zu Triagen erscheint in den kommenden Tagen ein Text von mir auf: https://eulemagazin.de/.

Natürlich brauchen wir Fresh expression!

von Tobias Graßmann (@luthvind)

Я хочу велосипед и чистой футболкой
Падать, падать, падать, падать в грязь
– Монеточка –

Übs.: Ich will ein Fahrrad und ein reinweißes T-Shirt
Stürzen, stürzen, stürzen, in den Schlamm stürzen

Jüngst wurde in der digitalen Kirche bekannt, dass das in vieler Hinsicht prägende Projekt „Kirche hoch zwei“ – zumindest in dieser Form – zu einem Ende kommt. Überraschend kam dies nicht zuletzt, weil Sandra Bils als eine der beiden Zentralfiguren des Projekts noch dieses Jahr eine viel beachtete Predigt auf dem Kirchentag gehalten hatte (man erinnere sich an die #Gurkentruppe). Mittlerweile liegt auch eine Stellungnahme und persönliche Bilanz von Maria Herrmann vor, die neben Sandra Bils der programmatische Kopf hinter „Kirche hoch zwei“ ist.

„Kirche hoch zwei“ hat sich inspirieren lassen von den Fresh Expressions of Church, wie missionarische Aufbrüche insbesondere in der englischen und schottischen Kirche genannt werden. Diese sammeln sich unter dem Programm einer mission shaped church: eine Kirche, die ihre Gestalt von ihrer Sendung in die Welt her empfängt. Die Geschichte hinter diesen Begriffen ist hier nicht zu erzählen. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass solche Impulse auch in unseren deutschen Kirchen dringend benötigt werden! Die Nachrichten zu „Kirche hoch zwei“ regen daher auch mich, der ich dem Projekt aus der Ferne in eher kritischer Solidarität verbunden war, zu Überlegungen an.i Wie sollte es nun weitergehen auf der Suche nach Fresh Expressions?

Das Projekt „Kirche hoch zwei“ hat im losen Netzwerk der digitalen Kirche viel angestoßen. Kaum jemand scheint noch zu bezweifeln: Wir brauchen die Suche nach neuen Formen, wie man heute als Gemeinde leben und die christliche Botschaft verkündigen kann. Lebensnah und gegenwartshungrig, manchmal unkonventionell und darin auch irgendwie unerhört. Wir brauchen dazu Experimente, wir brauchen den Mut zum Risiko, ja auch zum Scheitern. Wir brauchen Institutionen, die sich solche Experimente einfach mal leisten und Personen nicht auf Misserfolge festzuschreiben, sondern die gute Idee im misslungenen Versuch würdigen. Wir brauchen in der Kirche eine neue Kultur, in der man auch von Erfolgen reden darf. Und, meinetwegen, auch ein paar griffige Slogans aus der Kreativwirtschaft. Das alles kann man dann von mir aus Start-Up-Kultur nennen. Also ja, wir brauchen Mission, die unsere Kirche in neue Formen überführt – Mission abseits der Zerrbilder, die man damit landläufig so verbindet.

Aber sind am Ende dieser initialen Phase, die so stark von „Kirche hoch zwei“ geprägt war, vielleicht auch Kurskorrekturen vorzunehmen? Was können wir als Kirche und Theologie aus den Erfahrungen lernen, die Maria Herrmann schon einmal rückblickend von der Kommandobrücke aus reflektiert hat? Ich versuche – nun ganz persönlich! –, ein paar für mich weiterführende Gedanken zu formulieren.

„Kirche hoch zwei“ – das sollte für Kirche in einer neuen Dimension stehen. Oft und selbstbewusst wurde daher der Anspruch erhoben, auf diesem Wege eine geeinte Christenheit zu verwirklichen. Maria Herrmann wünscht sich: Einen Geist, der neue Formen der Ökumene feiert und sie als Gründungsnetzwerk der Kirche (Singular!) versteht.ii Und man kann ja auf dem Standpunkt stehen: Dieser Singular allein sei einer Gegenwart angemessen, die kein Gespür für konfessionelle Pluralität mehr hat und auch wenig Verständnis für diese Unterschiede aufbringt. Unbestreitbar ist damit eine christliche Sehnsucht nach sichtbarer Einheit treffend erfasst.

Aber ist es wirklich nötig, die Suche nach FreshX mit dieser Ökumenekonzeption zu belasten? Gewiss, es lassen sich viele Projekte denken, bei denen die konfessionelle Herkunft der Beteiligten, der Initiatoren und Zielgruppe einfach keine Rolle mehr spielen. Gleichzeitig könnte es sein, dass sich gerade aus dem Schatz der einzelnen Konfessionen und ihrer Frömmigkeit neue Impulse entwickeln lassen. Diese könnten dann wiederum nicht zuletzt von Menschen anderer Konfessionen (oder Nicht-Christinnen*) als neue, für sie interessante Formen entdeckt werden. Wenn das so ist – und faktisch scheint mir „Kirche hoch zwei“ diesen Weg beschritten zu haben! – , dann spricht das eher für ein dialogisches Verhältnis der Konfessionen, das die Spannung produktiv verwandelt. Sollte dagegen der Verdacht aufkommen, es werde offiziell jenseits der Konfessionen und im Namen der Ökumene unter der Hand doch eine einseitig-konfessionelle Frömmigkeit propagiert, wäre dies schade.

Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Ortsgemeinden und etablierten kirchlichen Strukturen sagen. Die Selbstbezeichnung FreshX – wiederholt wurde darauf hingewiesen – verleitet schon semantisch dazu, in den Ortsgemeinden und ihren traditionellen Gottesdienstformen nur die veralteten, absterbenden, eben nicht mehr frischen und lebendigen Gestalten von Kirche zu sehen. Manchmal erschien mir der eigene Anspruch, Grenzen zu sprengen und das schlechthin Neue zu bringen, dann doch so zugespitzt, dass die traditionellen Kirchengemeinden eher als Hindernis des göttlichen Geistes erscheinen mussten. Das aber tut all denen Unrecht, die sich innerhalb der traditionellen Strukturen nach Kräften bemühen, das Evangelium zu verkünden und den Menschen zu dienen. Und was soll eigentlich das Ziel dieser Frontstellung sein? Faktisch wird das Überleben experimenteller Formen noch auf lange Sicht von diesen traditionellen, gewachsenen Strukturen abhängen. Nur sie können die Ermöglichungsräume tragen, personell, finanziell und vielleicht auch spirituell. Gerade in den Kerngemeinden sind auch viele Unterstützer zu gewinnen, die an etablierten Formen hängen und sich zugleich nach Aufbrüchen sehnen. Dort sind Schultern, die mittragen können und wollen! Und müsste man nicht auch darauf hoffen, dass sich an den Rändern der beackerten Gemeindeflächen ein Wildwuchs neuer Formen bildet, weil Menschen sich von den gewagteren Aufbrüchen inspirieren lassen, ohne der StartUp-Kultur in allem nachzueifern?

Irgendwie schwierig gestaltet sich bisher auch das Verhältnis zur akademischen Theologie. Aber gesetzt, es gäbe an den Fakultäten Theologinnen und Theologen, die thematisch neue Wege beschreiten, Theoriehorizonte weiten und alte Fragestellungen neu konfigurieren – müsste man hier nicht die Verbindung suchen? Zu stark, scheint mir, hat man sich mit einer bestimmten Ehrenamtstheologie belastet, die professionell-kirchliche Ausbildung und wissenschaftsförmige Theologie im Kern abwertet. Dabei zeigen nicht zuletzt die Zentralfiguren von „Kirche hoch zwei“, die selbst ihre akademischen Meriten erworben haben bzw. noch anstreben, dass es meistens den Umweg über die Theorie braucht, um die scheinbar selbstverständliche Praxis in neuem Licht zu sehen.

Speziell aus der Perspektive der Praktischen Theologie stellt sich die Frage, wie man es eigentlich mit der eigenen Zielgruppe hält. Oft wurde und wird in der Kirche die Orientierung an Zielgruppen beschworen. Von außen betrachtet meldet sich die Kritik an, ob man sich diese Zielgruppe nicht mitunter zu sehr nach dem eigenen Bild erschaffen hat. Viele FreshX-Projekte scheinen sich in einer sehr schmalen Nische zu drängeln, der Lebenswelt junger, urbaner Akademikerinnen und Akademiker, auf der Suche nach sich im Prozess der Ablösung vom kirchlichen Herkunftsmilieu. Diese Spezialisierung ist legitim, aber vielleicht einfach nicht breit genug. Vielleicht wäre es doch wichtig, den alten Anspruch der Volkskirche mitzuführen – also stärker in Sozialräumen und von gesellschaftlichen Bedürfnissen aus zu denken als in persönlichen Begabungen und Neigungen. Gerade, wenn man den Anspruch einer göttlichen Sendung hinaus in die Welt ernst nimmt!

Vielleicht ist für die Initiatorinnen und Initiatoren künftiger Projekte auch die biblische Leitfigur der Prophetin nicht nur glücklich. Möglicherweise sind hier und da weniger charismatische Anführer gefragt als unauffällige Ermöglicher – also mission shaped ministry im Wortsinn. Menschen, die diskret ihren Dienst leisten am Wort und am Nächsten, jenseits der breiten Pfade, aber auch ohne knallige Ästhetik und hochtönende Verheißungen. Möglicherweise lässt sich beides auch kritisch in der Schwebe halten. Bescheidene, diskrete Prophetie, ist so etwas denkbar? Mit dem Auge für Lücken und Risse in der Sozialstruktur, die Menschen im Dienst des Evangeliums füllen können. Vielleicht muss man alles noch viel kleiner, kurzfristiger, dezentraler denken. Vielleicht muss man das Tau der großen Bewegung wieder in ein Netz von Einzelfäden auflösen.

Es ist zu wünschen, dass das Experiment „Kirche hoch zwei“ nicht das letzte seiner Art und schon gar nicht Ende der kirchlichen Suchbewegungen war. Es bleibt der Dank an „Kirche hoch zwei“ für unermüdliche Arbeit und so manche fruchtbare Provokation. Lassen wir uns von der eigenen Sendung her verwandeln!


Schiffbruch, Profil und Konzentration

(Quelle: http://www.pixabay.com Lizenz: CC0)

von Tobias Graßmann (@luthvind)

Im erbitterten Streit, den er mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze um die Bedeutung der Heiligen Schrift führt, versucht der Aufklärungsdichter Lessing, seinen Gegner mit einem kleinen Gedankenexperiment in Bedrängnis zu bringen. So erzählt er eine unerhörte und erfundene, aber doch mögliche Begebenheit. Diese kleine, hintersinnige Modellerzählung, lässt sich in Kürze folgendermaßen zusammenfassen:

Ein lutherischer Pfarrer, der zur Auswanderung gezwungen ist, strandet schiffbrüchig mit seiner Familie auf einem kleinen Karibikatoll. Angeschwemmt wird er mit nur ein paar Besitztümern und einem Buch: Luthers kleinem Katechismus. Mit diesem unterweist er seine Kinder und Enkel. Sie lernen die Worte auswendig und geben sie mündlich weiter, auch wenn bald niemand mehr lesen kann. Die Gruppe pflanzt sich fort und lebt nach der Lehre des Katechismus, die ihren Alltag und ihre Sprache prägt. Bald ist das Büchlein bis auf die Buchdeckel zerlesen, die als eine Art Reliquie aufbewahrt werden. Nach mehreren Generationen verirrt sich schließlich ein Prediger auf die Insel und trifft auf dieses „nackte, fröhliche Völkchen“.

Nun stellt Lessing seinem Gegenüber eine Fangfrage: Kann der Prediger diese Menschen  wohl als Christen erkennen? Wo sie doch keine Bibel haben?

Man kann in Goeze durchaus einen aufrechten Verteidiger seiner Kirche sehen. Man muss auch Lessings argumentative Zielsetzung nicht befürworten, die lutherische Katechismusfrömmigkeit und die Lehre von der Heilswirksamkeit der Bibel gegeneinander auszuspielen. Aber unmittelbar – darauf setzt Lessings Gedankenspiel und darauf kommt es mir an! – ist man wohl geneigt, diese Inselbewohner mit Lessing als Christinnen und Christen anzusehen.

Der Verweis auf den Katechismus Luthers liegt im Streit mit einem spätorthodoxen Pastor natürlich nahe. Hier könnte man stattdessen auch an ein Gesangbuch oder ein heutiges Religionslehrbuch denken. Wäre das Ergebnis vergleichbar? Vermutlich schon. Aber wie sähe es eigentlich aus, wenn der Pfarrer mit einem Tischkicker aus seinem Jugendraum angeschwemmt worden wäre? Mit dem Kaffeeservice des Seniorenkreises? Mit einer Posaune vom Posaunenchor, ein paar Orgelpfeifen oder auch einem Stapel Kirchenvorstandsprotokolle?

Ich finde: All die Menschen, die an kirchlichen Strukturprozessen wie dem bayerischen Profil und Konzentration (PuK) beteiligt sind, sollten sich einmal gemeinsam die Zeit nehmen, über Lessings kleines Gedankenspiel nachzudenken! Vielleicht würde sich endlich der Fokus von den nachrangigen Organisationsfragen auf die wesentlichen Aufgaben der Kirche verschieben!

Denn die Beteiligten müssten dann, so meine ich, erkennen, dass es bei allen Diskussionen um die Zukunft der Kirche im Kern um diese eine Frage geht: Wie geben wir die christliche Lehre – man könnte auch von einer christlichen Elementarbildung sprechen – an unsere Nachkommen weiter?

Was muss alles gegeben sein, dass Menschen wie die Inselbewohner Lessings unmittelbar als Christinnen und Christen erkannt werden können? Welche Geschichten und Texte, welche Formeln und Gebete, welche Praktiken und Überzeugungen gehören zum Kernbestand? Und in welcher Form werden diese Gehalte am Besten vermittelt? Über all das ist damit ja noch nichts ausgemacht. Aber für die Reformatoren, ja noch für Lessing und seinen Kontrahenten waren diese Fragen schlechthin zentral. Sie wussten, dass es hier ums Ganze geht.

Warum werden sie dann, allem Anschein nach, in den entsprechenden Gesprächsprozessen kaum gestellt? Das hängt wahrscheinlich auch mit einer langen Tradition an Begründungsversuchen zusammen, warum Ballpumpen und Kaffeemaschinen für den Auftrag der Kirche mindestens ebenso wichtig sind wie Bibel und Bekenntnis. Lessings Gedankenexperiment führt die Haltlosigkeit dieser Versuche vor. Dennoch gehe ich auf ein paar typische Erwiderungen ein.

Geht es nicht eigentlich um den Glauben? Ja, aber dieser Glaube ist für kirchliches Handeln strikt unverfügbar. Wir können keinen Glauben vermitteln. Was wir als Kirche tun können und müssen, ist, unsere Lehre weiterzugeben. Für den Glauben sorgt der Heilige Geist, wann und wo er will.

Geht es nicht eigentlich um Ethik und Gemeinschaft? Jein. Die christliche Ethik ist eben eine solche, die an der Bergpredigt und den Paulusbriefen, an der Geschichte vom Samariter oder von der Ehebrecherin geschult ist. Und eine Gemeinschaft ist christlich, weil und insofern sie in diesem Horizont der christlichen Lehre lebt.

Aber läuft Lehre nicht darauf hinaus, Menschen nach theoretischen Bestimmungen ihr Christsein abzusprechen? Nein. Es mag durchaus Menschen geben, die auf nahezu alles verzichten können, was der Theologie an Lehrgehalten vorschwebt, und die trotzdem „ihren Glauben“ haben. Es gibt gar keinen Grund und kein Recht, ihnen das Christsein abzusprechen. Aber diese Fälle sind die Ausnahme, nicht die Regel und schon gar nicht der Maßstab für kirchliches Handeln! Warum sollte ein abstrakter Minimalbestand an Christlichkeit uns das Ziel vorgeben?

Wenn man die Frage nach der christlichen Lehre und ihrer Vermittlung ins Zentrum rückt, dann lassen sich die Zuständigkeit, der Auftrag, das Profil der Kirche endlich klar bestimmen. Damit ergibt sich aber die notwendige und gewünschte Konzentrationen fast schon von alleine. Die Prioritäten rücken sich zurecht. Konzentrationsprozesse werden dann nicht mehr danach geplant, wer im Vorfeld besonders furchterregend auftritt und mutmaßlich den meisten Schaden anrichtet, sollte man seine kirchlich finanzierte Spielwiese antasten. Und die Gesprächsprozesse kreisen auch nicht primär um die Bedürfnisse der Amtsträgerinnen und Amtsträger sowie die Ängste der Kerngemeinde.

Was mit Blick auf die Vermittlung der christlichen Lehre an die folgenden Generationen nichts oder wenig austrägt, ist für uns als Kirche nachrangig. So einfach ist das! Kindergottesdienst und Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht und Glaubenskurse treten dann neben Verkündigung und Liturgie in die vorderste Reihe. Es kann von diesem Standpunkt aus nur verwundern, dass auch viele Theologinnen und Theologen den Religionsunterricht lieber heute als morgen in allgemeine Religions- und Wertekunde auflösen würden!

Die Kritik betrifft bei weitem nicht nur das sogenannte „Gemeindehausleben“ oder den bürokratischen Apparat der Kirchenämter. Alle kirchlichen Handlungsfelder muss man kritisch durchleuchten, auch grundsätzlich in Frage stellen oder gegebenenfalls umgestalten: Was muss Kirche selbst machen? Und was können Christinnen und Christen jenseits kirchlicher Strukturen genauso leisten?

Warum bieten wir etwa offene Jugendarbeit an, wenn die Stadt mit ihrem Jugendzentrum die besseren Räume hat und breitere Zielgruppen anspricht? Wollen wir die kirchliche Presselandschaft erhalten oder stärker darauf setzen, dass bei den großen Zeitungen Journalistinnen mit Kirchenbindung und theologischer Bildung schreiben? Verstehen wir Kirchenleitungen als politische Taktgeber oder braucht es nicht vielmehr Politikerinnen und Politiker in den Parteien, die sich zum Christentum bekennen und danach handeln? Wo unterhalten wir diakonische Unternehmen, welches christliche Profil können wir der Marktlogik abtrotzen und wie stärken wir Christinnen und Christen, die bei nichtkirchlichen Arbeitgebern ihren Beruf und tätige Nächstenliebe ausüben?

Die Orientierung an der Lehre schafft Raum, solche Fragen zu stellen. Und wir müssen diese Fragen jetzt stellen. Wir müssen sie viel radikaler stellen, als das bisher geschieht! Betrachten wir uns als Schiffbrüchige! Damit in ein-, zweihundert Jahren ein verirrter Prediger – vielleicht aus Afrika, China oder Indien – in Deutschland auf Menschen treffen müsste, die er unmittelbar als Christinnen und Christen wiedererkennt!

Über religiöse Menschen. An die vermeintlich Gebildeten unter ihren Spöttern

 

Ein Kommentar von Claudia Kühner-Graßmann

 

Als christlich-religiöser Mensch hat man es zur Zeit wahrlich nicht leicht: vom alljährlichen Angriff an Karfreitag, ausgelöst durch das sog. Tanzverbot, über das Urteil des EuGH zum kirchlichen Arbeitsrecht bis zur bayerischen Kreuzaffäre. Neben viel berechtigter Kritik und richtig gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat kommt es dabei immer auch zu einer Abrechnung mit der Religion, vornehmlich mit der christlichen (konfessionsindifferent). In maßloser Überheblichkeit wird die intellektuelle Unterlegenheit von Religion und damit ineins die eigene Überlegenheit herausgekehrt. Man selbst habe ja keine Vorurteile – im Gegensatz zu den Religionen; wie blöd müsse man sein, um einen Menschen zu betrauern, der vor 2000 Jahren gekreuzigt wurde und der behauptet, Gottes Sohn zu sein; wie uncool sei man bitte, wenn man in diese Kirche geht.

Ich nehme diese Polemik vor allem aus eher gebildeten Kreisen wahr, so wird etwa auch die Wissenschaftlichkeit der eigenen areligiösen Position besonders hervorgehoben. Wenn gegen Kirche, Religion und immer wieder auch Geistliche gewettert wird, scheint es um Stellvertreterkämpfe zu gehen, denn das, was die Damen und Herren beschreiben, hat mit meiner Wahrnehmung religiöser Menschen wenig zu tun. Gut, ich bin ja auch mittendrin und sogar Theologin! Deutlich wird, dass es oft in irgendeiner Form mehr oder weniger schlimme, vielleicht eher lächerliche Erfahrungen mit Kirche und religiösen Verwandten gegeben hat. Das tut mir Leid, aber die Verallgemeinerung und das Projizieren eigener Erfahrungen auf alle lebende Christinnen und Christen zeugt nicht gerade von differenziertem Reflexionsvermögen – was ja gerade in Anspruch genommen wird. Zudem gibt es immer diffuse Ausnahmen, weil der ein oder die andere Religiöse dann doch eigentlich ganz ok ist. Ich könnte so weiter machen, aber mein Punkt dürfte deutlich geworden sein.

Ich nehme zudem wahr, dass das, was die Kritiker an unterstufiger Religiosität der Gegenseite unterstellen, nicht über die Ebene eines „Kinderglaubens“ hinausgekommen ist. Hierbei kann und vermutlich muss man Versagen beim kirchlichen Katechumenat, v.a. in seiner Form als Religions- und Konfirmandenunterricht konstatieren. Aber, und darauf kommt es mir wiederum an, das hat halt mit dem, was in vielen Gottesdiensten (jaja, es gibt auch da andere!) verbreitet wird und was viele Erwachsene glauben, doch überraschend wenig zu tun. Glaube wird irgendwie auch erwachsen.

Es zeugt also nicht gerade von Intellekt, wenn auf dieser undifferenzierten Grundlage eine ganze Gruppe von Menschen angegangen wird. Es ist mühselig, auf dieser Grundlage das Gespräch zu suchen und zu führen. Man bleibt halt doch in einer Verteidigungshaltung gefangen. Aber warum? Gerade wir Theologinnen und Theologen brauchen uns eigentlich nicht zu verstecken!  Unser Studium ist so breit angelegt, dass wir – nicht ohne Stolz – von uns behaupten können, Generalisten zu sein. Wir lernen zudem eine wichtige Sache: die Reflexion auf unsere eigenen Voraussetzungen. Im besten Fall sind wir dazu fähig, über unseren Glauben einigermaßen allgemeinverständlich Auskunft geben zu können. Pfarrerinnen und Pfarrer sollten diesen katechetischen Aspekt auch in ihren Predigten bedenken, um der Gemeinde Hilfe zur eigenen Sprachfähigkeit zu geben.

Ich, und das ist meine persönliche Meinung, halte viele Spielarten des Atheismus und Humanismus für deutlich unterstufiger, weil diese Reflexion über die eigenen Voraussetzungen und Grundlagen ausbleibt. Die eigenen Ansichten werden als so evident betrachtet, dass Kritik und Prüfung ausbleiben können (das ist übrigens auch ein Grund, warum ich den Laizismus für einen Trugschluss halte: wir alle leben im Horizont solcher Voraussetzungen, die auch thematisiert werden müssen). Häufig sind dazu Ersatz-Glaubenshandlungen zu beobachten, wenn etwa das Schicksal oder Murphy’s Law für das Wetter, das kaputte Auto o.ä. verantwortlich gemacht werden – immer ironisch gemeint, versteht sich…

Liebe Spötter: mir ist es im Grunde egal, ob ihr glaubt oder nicht glaubt. Wirklich. Aus meiner christlichen Sicht mag das bedauerlich sein, aber ich weiß ja auch, dass der Geist weht wie und wo er will. Aber unterlasst doch bitte diese unterstufige Kritik an allen religiösen Menschen. Ihr fühlt euch intellektuell überlegen? Dann zeigt das doch bitte auch. Reflektiert Eure Motive und Eure eigenen weltanschaulichen Grundlagen.

Liebe Theologinnen und Theologen, liebe Christinnen und Christen: bitte seid nicht immer so apologetisch. Versucht nicht immer zu zeigen, dass Ihr cooler und klüger seid als „die“ Kirche, da springt Ihr doch nur auf diesen Zug auf (abgesehen davon, dass ihr ebenfalls „die“ Kirche seid). Konzentrieren wir uns doch darauf, unseren Glauben reflektiert darzustellen und uns selbstbewusst des Evangeliums nicht zu schämen!

Denn, ich zitiere einen Tweet von @hrmnn01:

https://twitter.com/hrmnn01/status/803343103176409090

 

Ist die bischöfliche Parteinahme für die Große Koalition angemessen?

 

Quelle Bild: BR-Mainfranken/Marcus Filzek

Hintergrund und Anlass dieses Klärungsversuchs

Kaum ein Lehrstück des lutherischen Protestantismus hat in den letzten fünfzig Jahren soviel Kritik erfahren wie die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre. Diese besagt, ganz grob, dass Gottes Weltregierung zwei Regimenter, also Regierweisen kennt. Ein geistliches Regiment zur Rechten, welches dazu da ist, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, und daneben das weltliche Regiment zur Linken, welches dazu da ist, die allgemeine Ordnung und den Frieden aufrecht zu erhalten. Wird das geistliche Regiment in der und durch die Kirche ausgeübt, so kann das weltliche Regiment mehr oder weniger direkt mit der Staatsgewalt identifiziert werden.

Die Kritik an diesem Lehrstück entzündete sich vor allem im Rückblick auf die Erfahrungen während der Herrschaft der Nationalsozialisten im sog. „Dritten Reich“, wobei die Bekennende Kirche der Zwei-Reiche-Lehre das Gegenmodell einer universalen Königsherrschaft Christi entgegengehalten hatte: Es gebe keine zwei unterscheidbaren Sphären, durch die Gott seinen ordnenden Einfluss ausübt, sondern auch die staatliche Macht unterstehe direkt seiner Autorität.

Hier soll es jetzt nicht darum gehen, ob die Deutschen Christen Luther sachgemäß interpretiert haben (eher nicht) oder ob sich die Zwei-Reiche-Lehre in Luthers Sinne so stark von der Lehre der Königsherrschaft Christi unterscheidet (eher nicht). Was jedenfalls während des Kaiserreichs, im sog. „Dritten Reich“ und auch später von konservativen Lutheranern (nach dem zweiten Weltkrieg am deutlichsten: Walter Künneth) vertreten wurde, ist folgende Sicht auf das Verhältnis von Kirche und Politik: Die Kirche und die kirchliche Öffentlichkeit haben sich politischer Äußerungen zu enthalten, denn: Das Reich zur Linken sei eben auch von Gott eingesetzt. Dagegen setzten die Theologen, die sich in der Nachfolge der Bekennenden Kirche wussten, unter anderem die aus Hes 33,1-9 stammende Vorstellung eines kirchlichen Wächteramts: Kirchliche Stellungnahmen dienen demzufolge dazu, die Politik von allem abzuhalten, was wider Gottes Willen und die Prinzipien des christlichen Glaubens steht.

Beide Positionen werden in dieser Reinform heute eher nicht mehr vertreten. Sowohl die Öffentliche Theologie, die sich in der Nachfolge Wolfgang Hubers sieht, als auch andere ethische Schulen, die etwa mehr der Linie Trutz Rendtorffs folgen, sind sich – ganz grob – darin einig, dass weder politische Enthaltsamkeit, noch die Vorstellung einer religiösen „Oberaufsicht“ über die Politik sachgemäß sind. Ja, selbst parteipolitisches Engagement sei nicht mehr in jedem Fall unschicklich für Menschen, die als Pfarrer und Pfarrerinnen arbeiten. Dabei wird auch deutlich: Es gibt nicht die eine christliche Position, die politisch zu vertreten ist. Vielmehr sind die je Einzelnen zur Verantwortung und zur Stellungnahme gerufen, wobei es freilich Positionen geben kann, die jenseits des Korridors liegen, welchen der christliche Glaube vorgibt. Dass wiederum eine solche Grenzbestimmung theologisches und ethisches Nachdenken erfordert, bedarf wohl keiner gesonderten Begründung.

Nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen schrieb nun der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm auf Facebook:

„Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis geführt haben, auf das sich alle beteiligten Parteien einigen konnten. Alle, die nun über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben, müssen gründlich abwägen, wie sie ihrer Verantwortung am besten gerecht werden können. Denn Verantwortung ist jetzt gefragt. Es geht nicht darum, wie man sich persönlich besser fühlt, sondern es geht darum, wie den Menschen, um die es geht, insbesondere den Schwächsten und Verletzlichsten, am besten geholfen ist. Es kann jetzt auch nicht zuerst um Parteiinteressen gehen sondern es geht um Verantwortung für das ganze Land, für Europa und, gerade im Hinblick auf die uns so wichtigen globalen Gerechtigkeitsfragen, auch für die Welt. Wer jetzt eine verantwortliche Entscheidung zu treffen hat, muss sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind und bei welcher der Alternativen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass Schritte in die richtige Richtung getan werden. Jetzt wünsche ich denen, die die Nacht durchverhandelt haben, aber vor allem eine dicke Portion Schlaf!“

Eigentlich entspricht dieses Posting auf den ersten Blick genau dem, was soeben skizziert wurde: Bedford-Strohm lobt den politischen Kompromiss und empfiehlt die Abwägung des Koalitionsvertrags durch diejenigen, die darüber zu entscheiden haben. Er spricht sich auf den ersten Blick nicht für eine Richtung aus, sondern appelliert an die Verantwortung des Einzelnen. Spätestens beim zweiten Lesen kam bei uns allerdings die Intuition auf, dass hier etwas durcheinander geht.

Zunächst: Wer sind die Angesprochenen? Bedford-Strohm spricht zu denen, die „über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben“. Dies sind natürlich bei den Unionsparteien die Parteispitzen. Diese haben allerdings den Vertrag mit ausgehandelt, eine Ablehnung erscheint somit eher ausgeschlossen. Also richtet sich der Beitrag mehr oder weniger explizit an die Parteibasis der SPD, die in einer Mitgliederbefragung über Ja oder Nein zum Vertrag entscheiden darf.

Im zweiten Argumentationsschritt nennt er dann die Verantwortung als Maßstab für die Entscheidung, und zwar Verantwortung für die Schwächsten und Verletzlichsten – in nationaler und globaler Perspektive. Diese und nicht persönliche Befindlichkeiten oder „Parteiinteressen“ sollen im Vordergrund stehen. Wer allerdings dann gegen den Koalitionsvertrag stimmt, müsse „sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind“.

Der implizite Argumentationsgang ist deutlich: Verantwortung sei zu übernehmen, diese benötige eine handlungsfähige Regierung, alles außerhalb der GroKo scheint dabei nicht denkbar oder zumindest nicht realistisch und von daher sei diese alternativlos. Im Ergebnis wird eine Ablehnung der GroKo zumindest in die Nähe der Verantwortungslosigkeit gerückt.

Dies wird alles vorgetragen über den offiziellen Account des Bischofs und in einem Sprachduktus, der in seiner emotionalen Rhetorik und moralischen Verbindlichkeit nicht zu unterscheiden ist von geistlichen Worten des Bischofs. So wird in einer vordergründigen Unparteilichkeit doch deutlich für eine Richtung argumentiert. Versucht der Bischof hier etwa, die Gewissen der evangelischen Christinnen und Christen in der SPD zu binden?

Zurück zum Anfang: Es ist für uns unbestritten, dass sich Vertreter der Kirche politisch äußern dürfen und sollen – zum Beispiel, wenn es darum geht, Menschlichkeit in der Politik anzumahnen. Es ist für uns auch klar, dass sich Kirchenvertreterinnen und -vertreter durchaus parteipolitisch betätigen dürfen. Das allerdings sollten sie in der gleichen Art und Weise tun, wie andere Akteure des politischen Diskurses – sich also hier nicht aufgrund ihres Amts eine höhere Legitimation zuweisen. Wenn Kirchenvertreter für eine ganz bestimmte parteipolitische Entscheidung in einer Art und Weise das Wort ergreifen, die nicht von anderen Äußerungen unterscheidbar ist, ja, die in gewisser Weise als Verlautbarung ihres Amts und nicht ihrer Person zu verstehen ist, dann widerspricht dies einer grundlegenden Auffassung protestantischer Ethik: Nämlich derjenigen, dass die Entscheidung über eine politische Option etwas ist, das der Einzelne zu verantworten hat, und dass es für diese keinen durch die Kirchenleitung vorgegebenen ‚richtigen‘ Weg gibt. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht die Kraft kirchlicher Stellungnahmen gegenüber der Politik geschwächt wird, wenn solche Kommentare und implizite Weisungen in zu vielen, auch – wie wir meinen – eher undramatischen, Fällen ergehen.

Ob nun dem Koalitionsvertrag zuzustimmen ist, muss jede Protestantin und jeder Protestant, der Mitglied der SPD ist, selbst entscheiden. Es gibt sowohl gute Gründe dafür als auch gute Gründe dagegen. Die Parteinahme für die Schwachen und Schutzbedürftigen taugt hier gerade nicht als eindeutige Orientierung, wie viele kritische Stimmen zum Koalitionsvertrag etwa aus den Reihen der Pflege oder der Flüchtlingshilfe dokumentieren. Das Votum des Bischofs, das ganz deutlich eine Richtung präferiert, ist jedenfalls nach unserem protestantischen Verständnis nicht die maßgebliche Instanz der Entscheidungsfindung und vermischt in problematischer Weise private politische Stellungnahmen, geistliches Wort und kirchenamtliche Verlautbarung.

Niklas Schleicher

Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik

Vor diesem Hintergrund gelangen wir zu folgenden zehn Thesen zur Verhältnisbestimmung von Theologie, kirchenleitendem Amt und Politik:

1. Wir vertreten die Ansicht, dass Kirche und Theologie immer und unausweichlich politisch Stellung beziehen.

2. Prophetische Kritik an Gesellschaft und Politik gehört zur Aufgaben der Verkündigung, die allen Christenmenschen gemeinsam aufgetragen ist und von den Amtsträgern in diesem Sinne gestaltet wird.

3. Eine politische Enthaltsamkeit durch Kirche und Theologie läuft faktisch auf eine religiöse Legitimation für die jeweils hegemoniale Politik hinaus.

4. Daraus ziehen wir die Konsequenz, dass Theologinnen und Theologen zu politischem, auch parteipolitischem Engagement durchaus zu ermutigen sind.

5. Bedingung ist, dass dieses Engagement transparent gemacht wird und der Verantwortung für den Frieden in der Kirche nicht zuwider läuft.

6. Aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verbietet sich jeder Versuch, die Lehre der Kirche und das Evangelium Jesu Christi einem politischen Projekt unterzuordnen und so für politische Zwecke zu missbrauchen.

7. Politische Betätigung von Amtsträgern darf nicht zu einer verschleierten politischen Missionierung führen, sondern sollte vielmehr die eigenständige Meinungsbildung anregen und politische Streitkultur innerhalb wie außerhalb der Kirche fördern.

8. Zurückgewiesen wird jeder Anspruch einer Partei, die allein zulässige christliche Position in politischen Fragen zu vertreten.

9. Wenn einzelne Theologinnen oder Theologen bzw. die Kirchenleitung ausdrücklich und unmittelbar zu politischen Themen Stellung nehmen, so treten sie nicht allein als Dienerinnen und Diener des Verkündigungswortes, sondern als politische Akteure auf.

9. Solche Stellungnahmen sind nicht den Regeln des politischen Diskurses enthoben und ihre Meinung ist nicht in besonderem Maße vor Kritik geschützt, sondern anderen weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Stellungnahmen prinzipiell gleichgestellt.

10. Niemand ist befugt, mit theologischen oder kirchenleitenden Stellungnahmen die Gewissen in politischen Entscheidungen binden zu wollen.

Niklas Schleicher und Tobias Graßmann

Kritische Bewertung der zitierten Stellungnahme

Auf der Grundlage unserer Thesen sowie in Bekräftigung der lutherischen Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment kommen wir zu folgender Feststellung:

Die Einflussnahme des Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm auf den Mitgliederentscheid der SPD verwischt tendenziell die Unterscheidung der Regimenter. Eine so direkte Einflussnahme der Kirchenleitung auf die Politik wäre unseres Erachtens nur geboten in Fällen, in denen die freie Religionsausübung oder die Menschenwürde unmittelbar gefährdet sind. Dies ist im Fall der aktuellen Bemühungen um eine Koalitionsbildung nicht gegeben.

Wir sehen daher bei Herr Bedford-Strohm kein hinreichendes Mandat für die Einmischung in den Mitgliederentscheid der SPD. Wir warnen vor einer Interpretation des prophetischen Wächteramts der Kirche, welche das Amt des oder der leitenden Geistlichen mit einem politischen Repräsentationsamt verwechselbar macht. Wir kritisieren ein Verständnis von öffentlicher Theologie, demzufolge nahezu jede politische Einzelentscheidung (und entsprechend auch die Verfahren der innerparteilichen Willensbildung) in den Bereich kirchenleitender Weisungen fallen. Angesichts solcher Grenzverwischungen befürchten wir langfristig eine verhängnisvolle Vermischung von kirchlicher und politischer Sphäre auf der Ebene der Kirchenleitung.

Es steht Herrn Bedford-Strohm selbstverständlich die Möglichkeit offen, als Theologe, Christenmensch und Sozialdemokrat mit ruhender Parteimitgliedschaft seine eigene Meinung zum Mitgliederentscheid kundzutun. Dabei hätte er unseres Erachtens aber einen Kommunikationsweg zu wählen, der klar von einer offiziellen kirchenleitenden Verlautbarung unterschieden ist, sowie seine Sprache ihres bischöflichen Ornats zu entkleiden.

Tobias Graßmann

Für diesen Beitrag zeichnen:

Tobias Graßmann, Pfarrer der ELKB, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Dogmatik) in Göttingen und Sozialdemokrat

Tobias Jammerthal MA (Dunelm.), theologischer Doktorand in
Tübingen und Sozialdemokrat

Claudia Kühner-Graßmann, Doktorandin der ev. Theologie, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Sozialdemokratin

Julian Scharpf, Vikar der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und Sozialdemokrat

Niklas Schleicher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Ev-Theol. Fakultät der LMU und Sozialdemokrat

 

Weitere Unterstützer:

Philipp Kurowski, Dr.theol., Pastor der ev.-luth. Kirchengemeinde Großsolt-Kleinsolt, Nordkirche

Die Kirche des Worts gegen die Bilder im Kopf

von Tobias Graßmann (@luthvind)

Es ist nun schon etwas Zeit vergangen, seit ein kurzes Zitat einer Bischöfin auf Twitter Diskussionen ausgelöst hat. Auch wenn eine kurze Internetrecherche ausreichen sollte, um das Zitat zuzuordnen, kann die Person hier ungenannt bleiben, da es mir nicht um eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Amtsträgerin einer fremden Landeskirche geht. Von verschiedener Seite wurde mir versichert, dass die betreffende Person mit der hier vertretenen Position in weiten Teilen übereinstimmen würde. Gerade das scheint mir freilich typisch für ein Problem zu sein, auf das ich in den Tagen vor Weihnachten einmal die Aufmerksamkeit lenken will. Ich greife also diese Äußerung als ein prägnantes Beispiel heraus, um den Blick auf ein grundlegendes Problem zu lenken.

Das betreffende Zitat stammt aus einem Segenswort, formuliert im Rückblick auf das Reformationsjubiläum und die abschließenden Gottesdienste zum Reformationstag. Es wird die Frage aufgeworfen, „wie’s denn mit der Kirche weitergeht und mit dem Glauben“. Als Antwortversuch formuliert die Bischöfin:

„Heißt: wir müssen runtersteigen von den Kanzeln und Bühnen, eher fragen und zuhören als antworten, predigen oder gar belehren. Uns hinwenden und suchen, was verloren gegangen ist.“

Was mich daran unmittelbar geärgert hat, ist natürlich nicht der positive Vorsatz: mehr fragen und zuhören, sich zu Menschen hinwenden. Es geht mir um das Bild von Kirche und Verkündigung, das diesem Vorsatz als dunkle Kontrastfolie unterlegt ist. Es ist das Bild einer Kirche, die normalerweise von oben herab antwortet, predigt und belehrt.

Verzichtbare Negativfolien

In Abgrenzung wird so ein durchaus verbreitetes Bild von Kirche aufgegriffen. Ein Bild, das in der Vergangenheit wohl einmal schlechthin bestimmend und vielleicht auch angemessen war. Eines, mit dem sich viele Pfarrerinnen und Pfarrer heute aber nicht mehr identifizieren können und wollen.

Indem dieses Bild von der Bischöfin als Folie für ihre positiven Anliegen verwendet wird, setzt sie es faktisch ins Recht. Der unbefangene Hörer muss verstehen: Es gibt in der Kirche einen Normalzustand, der sich als Belehrung von der Kanzel herab beschreiben lässt. Aber hier tritt eine Einzelperson an, die sich gegen diesen Normalzustand stellt. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass es offenbar nicht um konkrete blinde Flecken, bestimmte Anliegen oder Sorgen geht, die überhört werden. Das Problem bleibt unkonkret – und damit tendenziell allgegenwärtig!

Diese Abgrenzungsfigur begegnet mir häufiger, und zwar nicht nur als gesprochenes Wort. Ich bin immer wieder irritiert über die vielen Kolleginnen und Kollegen, deren gesamtes Auftreten vor allem die Botschaft senden soll: Ich bin kein typischer Pastor, keine typische Pastorin. So wird im eigenen Auftreten die Negativfolie eines Pastorenbildes mitgeschleppt: „langweilig“, „konservativ“, „weltfremd“, „verknöchert“ und „verkopft“. Aber an welchen Kollegen ist dabei eigentlich gedacht? Wen trifft die Beschreibung, wen möchte man in einer Pfarrkonferenz mit diesem Vorwurf konfrontieren? Dieser Unhold im Talar hat keinen Namen und keine Adresse, so dass man vermuten muss: Er treibt eigentlich überall sein Unwesen. Nur hier nicht!

Ich glaube ja nicht, dass die Bilder, die so in der Fantasie der Menschen aufgerufen und fortgepflanzt werden, die Wirklichkeit unserer Gemeinden angemessen widerspiegeln. Vor allem aber meine ich, dass wir uns als Kirche so jede Chance nehmen, diese Bilder endlich loszuwerden. Wollen wir in einer Zeit, in der viele Menschen gar keine klaren Erwartungen an Kirche und nur noch vage Bilder von Pastoren haben, selbst unsere Negativklischees mitschleppen und weiterverbreiten?

Futter für das Vorurteil

Es gibt noch einen weiteren Punkt, der mein Unbehagen weckt. Das Zitat ist nämlich dazu geeignet, eine verbreitete anti-theologische Stimmung zu bedienen. Ich glaube, dass nur in seltenen Fällen diese Ressentiments bewusst geschürt werden. Aber da sie nun einmal in den Köpfen vorhanden sind, passiert es fast unvermeidlich, dass die Negativfolie der belehrenden Kirche mit bestimmten Klischees von Universitätstheologie verschmilzt.

Denn in kirchlichen Kontexten, besonders im Internet, begegnet mir häufig eine Erzählung, die sich etwas überspitzt so zusammenfassen lässt: Gefragt für das Pfarramt wären „normale“ Menschen, die freundlich und interessiert, lebensnah und zugewandt sind. Das Studium an der Universität bringe nun aber eine Kaste blutleerer Streber hervor, die sich mit alten Sprachen und kirchengeschichtlichen Daten und dogmatischen Lehrgebäuden auskennen, aber die echten Menschen aus dem Blick verloren haben. Ja, sie verstehen weder deren Fragen noch können sie sich ihnen verständlich machen. Daher der himmelweite Abstand zwischen der Kanzel, dem Außenposten des akademischen Elfenbeinturms, und dem Leben der Menschen – die aus diesem nachvollziehbaren Grund wegbleiben.

Wie verbreitet solche Bilder der akademischen Ausbildung sind, illustriert nicht nur ein jüngst veröffentlichter Text von Pastorin Carola Scherf, sondern auch ein Erlebnis, das ich mit einem Oberkirchenrat hatte. Der Mann schleuderte mir den überraschend ehrlichen Satz entgegen: „Ich kann der Synode nicht erklären, warum Leute an der Uni rumhängen, während in Oberfranken Pfarrstellen unbesetzt bleiben!“ Könnte die Theologie an der Universität irgendwie damit zu tun haben, dass ländliche Pfarrstellen mit kompetenten Menschen besetzt werden? Nun, ein Zitat wie das eingangs zitierte ist kaum geeignet, Synodale und Oberkirchenräte von der Unverzichtbarkeit theologischer Ausbildung zu überzeugen.

Natürlich kann man bei Kritik an der verkopften Unitheologie immer mit Zustimmung rechnen, mit dem Applaus so mancher Pastoren und dem Kopfnicken vieler Gemeindeglieder. Schnell sind ein paar Beispiele für die Praxisferne der Ausbildung zusammengetragen. Aber diese Kritik tut nicht nur vielen Theologinnen und Theologen unrecht, die sich ernsthaft bemühen, ihre Forschung und die kirchliche Praxis fruchtbar zu verknüpfen. Sie ist auch falsch. Denn ein Theologiestudium entfremdet Menschen nicht dem wahren Leben. Stattdessen bedeutet es meistens eine Horizonterweiterung.

Der Mythos des sinkenden Theologiebedarfs

Wer ein theologisches Studium durchläuft, begegnet Texten, Personen, Lebensproblemen und philosophischen Argumenten aus etwa 3000 Jahren. Mit den Sprachen sind tiefe Einblicke in andere Kulturen verbunden. Sie oder er hat im Idealfall gelernt, die Fremdheit der biblischen Texte anzuerkennen und sie dennoch fruchtbar auf das eigene Leben zu beziehen. Theologinnen und Theologen haben sich kritisch mit dem eigenen Glauben auseinandergesetzt. Sie haben sich klar gemacht, dass schon unter Christen viele ihrer religiösen und moralischen Überzeugungen alles andere als unhinterfragbar sind. Sie laufen weniger Gefahr, die eigene Ortsgemeinde mit der ganzen Kirche Jesu Christi zu verwechseln. All das wird ihnen in der Begegnung mit Menschen eher helfen als schaden.

Ich glaube daher nicht an einen inneren Zusammenhang von Theologiestudium, Weltfremdheit und pastoraler Selbstherrlichkeit. Ebenso wenig überzeugt mich die Einschätzung, dass heute sowieso kaum mehr Bedarf an Theologie besteht und bloße Mitmenschlichkeit genügt. Ich meine eher: Theologieverachtung kann man sich vielleicht leisten, wenn man von einer überwiegend kirchlich geprägten Kultur ausgeht. Wenn die Autorität der Kirche und ihrer Amtspersonen unhinterfragt ist, kommt man mit einem Minimum an Theologie aus. Wenn jede und jeder als guter Christenmensch erzogen ist und das Wort des Pastors sowieso Gesetz, dann dürften Menschenkenntnis und christliche Allgemeinbildung tatsächlich ausreichen.

Aber heute brauchen wir eher mehr Theologie als früher. Die Selbstverständlichkeit ist dahin. Wir müssen unsere christlichen Überzeugungen erklären und begründen. Wir haben es ständig mit anderen Weltbildern, Religionen und Konfessionen zu tun. Vielen Menschen fehlt eine eigene Sprache für die religiösen Bedürfnisse, mit denen sie zu uns kommen. So muss oft erst einmal Verstehensarbeit geleistet werden. Theologie meint nicht Belehrung, die an die Gemeinde weiterzugeben wäre – sie schult Wahrnehmung und Sprachfähigkeit.

Kompass im Dickicht menschlicher Bedürfnisse

Pastorinnen und Pastoren werden heute nicht mehr dazu ausgebildet, von der Kanzel herab die Massen zu belehren. Von ihnen wird erwartet, die Bedürfnisse der Menschen wahrzunehmen. Das ist gut so. Aber diese Bedürfnisse gehen weit auseinander und sind in der Summe unmöglich zu bedienen. Manchen Menschen reicht tatsächlich ein offenes Ohr – für die Sorgen ihres Alltags oder ihre Thesen zum Islam. Andere wollen selbst erst einmal hören und suchen Worte für einen Glauben, der irgendwie verschüttet oder gerade erst im Wachsen ist. Wieder andere erhoffen sich Rat in Lebensfragen. Und manche interessieren sich für die Wurzeln unserer Kultur oder die Welt der Bibel. Die Liste ließe sich fortsetzen. Im Pfarramt braucht es kommunikative Kompetenz, aber auch einen klaren theologischen Kompass, um bezüglich der Fülle von Erwartungen sinnvolle Prioritäten zu setzen.

Deshalb ist mir ein Leitbild kirchlichen Handelns zu dünn, das sich auf Zuhören und Fragen beschränkt. Deshalb wünsche ich mir, dass die Kirchenleitung sich klar zur Theologie bekennt. Und es wäre schön, wenn man auf manche der gängigen Negativfolien verzichten könnte. Auf die Abgrenzung von den Kolleginnen und Kollegen, auf die beliebten Klischees von akademischer Theologie.

Warum nicht einfach so: Ich will Fragen stellen, zu schnelle Antworten vermeiden, den Menschen genau zuhören und das Verlorene suchen. Und in diesem Geist predigen und lehren.

Zur Störung im Betriebsablauf

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Anmerkungen zu „Vom Wandern und Wundern“ (hg. von Maria Herrmann und Sandra Bils)

von Niklas Schleicher (@megadakka)

Was für eine Zeit! Was für, was für eine Zeit!
Was für, was für eine Zeit, um am Leben zu sein!
(Zugezogen Maskulin)

Ich muss gestehen, dass es durchaus oft vorkommt, dass ich Menschen und ihre Ideen grundsätzlich falsch einschätze und ohne Evidenz, nur durch Intuition negativ bewerte. Dann werde ich sarkastisch, zynisch, also mitunter recht verletzend und zurecht angepfiffen. Ich dachte: Möglicherweise geht es mir ja mit der Initiative Kirche² und verwandten Projekten auch so und ich tue den Protagonisten und Protagonistinnen in Worten, aber vor allem auch in Gedanken unrecht und ihre Ideen sind eigentlich ganz richtig und von großem Wert für die Kirche – natürlich spricht man in diesem Kontext immer von Kirche im Singular, konfessionelle Unterschiede sind in der Postmoderne doch eh überholt. Vielleicht müsste ich meine Meinung mal revidieren, Abbitte leisten und zugeben: „Ich habe mich geirrt, ihr liegt nicht so fundamental daneben.“ So einen Gesinnungswechsel könnte durchaus machbar sein, vor allem, weil jetzt einzelne Menschen, die ich nur aus kurzen Tweets oder Blogbeiträgen kannte, ihre Gedanken in einem Sammelband veröffentlicht haben. Und hey, ich als verkopfter Universitätstheologe lese nun mal gerne Bücher. Also habe ich das Buch, wie viele Andere es auch getan haben, bestellt. Ich habe zwar kein Bild vom Auspacken gemacht und getwittert, aber dafür gleich angefangen zu lesen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich muss meine Meinung ändern.

Das Buch heißt „Vom Wandern und Wundern“ und trägt den Untertitel „Fremdsein und prophetische Ungeduld in der Kirche“. Herausgegeben wird es von Maria Herrmann und Sandra Bils, beide arbeiten für das Projekt Kirche². Die einzelnen Beiträge erzählen, mehr oder weniger, von jeweils eigenen Erfahrungen der Fremdheit in der Kirche und leiten daraus Ideen für Kirche von morgen ab.

Maria Herrmann schafft es auf der dritten Seite ihres Eröffnungsbeitrags die Verfasser und Verfasserinnen in eine Reihe mit „Franziskus, einer Teresa, eines Dietrich Bonhoeffer, einer Madleine Delbrel oder einer Dorothee Sölle“(9) zu stellen. Die Fallhöhe ist also denkbar hoch, waren doch jedenfalls Franziskus, Bonhoeffer und Sölle (die anderen beiden kenne ich zu wenig) hochgradig reflektierte und damit inspirierende Theologen*. Nun gut. Was also bekommt man in den einzelnen Beiträgen zu lesen?

Astrid Adler skizziert, nach einer kurzen persönlichen Anekdote, die Geschichte der Heilung des Gelähmten als Bild für Kirche. Sie ist „keine studierte Theologin“ aber „kann mit Menschen über Jesus reden“ (S. 20). Bei mir ist es ja andersherum. Ich bin zwar studierter Theologe, würde mir aber niemals selbst die Gabe bescheinigen, dass ich über Jesus reden kann. Jedenfalls nicht so, dass ich mir sicher wäre, dass „das Letzte was Jesus vor seiner Verhaftung getan hat, […] für die Einheit der Christen zu beten“ (29) war. Gut, ich bin vielleicht in diesem Zusammenhang auch eher den Schriftgelehrten zuzuordnen, denjenigen, „die mahnen und wachen über dem, was ihnen heilig ist“ (24).

Es wird besser. Hanna Buiting liefert im nächsten Beitrag eine autobiographische Skizze, über ihren Weg zur und mit der Kirche als Beispiel für produktive Fremdheit. Mit 24. Eine autobiographische Skizze. Neben der Forderung nach „richtig guten Kaffeemaschine[n]“ (38) für den Gottesdienstraum [sic!] schwingt sie sich am Schluss zu wahren Höhen auf, wenn Sie beschreibt, was ihre Gabe ist, nämlich das Schreiben: „Mehr als einmal musste ich mich zurückerinnern, wie glücklich mich das Schreiben gemacht hatte. […] Mein Gottes-Dienst war erfüllt. Heilige Momente lagen längst hinter mir[…] Texte voll Güte und voll Gnade entstanden so, voll Hoffnung und voll Heimat. […] In meiner Timeline, bei Facebook und Twitter tummelten sich zunehmend Christinnen und Christen, aus dem Rahmen gefallen, auf der Suche. Sie wurden zu meiner Leserschaft, meiner Netzgemeinde, meinen Stichwortgebenden und Nächsten“ (43). Mit 24. Hier nur ein vermessener Hinweis von mir: Eine solche Überhöhung des eigenen Tuns ist mir ja weder von Bonhoeffer noch von Sölle noch von Teresa geläufig. Aber gut, diese sind halt vielleicht auch schriftstellerisch nicht so begabt gewesen.

Mara Feßmann liefert im nächsten Beitrag eine autobiographische Skizze über ihren Weg zur Theologie, die, so jedenfalls die Überschrift, Punktheologie sei. Wer nun hofft, hier interessante oder kreative theologische Einsichten lesen zu dürfen, wird sich wundern. Das Thema ist auch hier vor allem die Autorin selbst, deren große Auszeichnung ist, dass sie neben Theologie auch Politkwissenschaften und Soziologie studiert, also einen viel weiteren Horizont als so normale Theologen wie ich hat.

Mathias Albracht beginnt mit einer kurzen Anekdote und liefert dann (Überraschung!) eine kurze autobiographische Skizze über seinen Weg in der Theologie und der Kirche. Immerhin werden hier wenigstens einige Stichwortgeber genannt: Lyotard, Levinas und einige Kirchenväter. Wer allerdings erwartet, dass jetzt unter Rückgriff auf Levinas das Fremde, das Andere reflektiert wird, wird auch hier eher enttäuscht, ist der Ertrag des Ganzen doch schlicht, dass der Verfasser kein Priester geworden ist, sondern als Laienseelsorger einen anderen Weg gegangen ist. Ach ja, und auch hier: Lyotard schrieb zwar „Das postmoderne Wissen“, den Begriff selbst hat er allerdings nicht entwickelt (71). Ja, ich weiß, jetzt bin ich wieder der spielverderbende Schriftgelehrte.

Steffi Krapf schreibt über ihre Theaterarbeit als Weg, Kirche und Gemeinschaft zu bauen. Im Theater können Menschen die Freiheit erfahren, die auch für den christlichen Glauben gilt. Sie können „einfach sein“ (90) und „spontan“ agieren. Das Theater könne so ein Ort der Präsenz Gottes sein: „Der Heilige Geist als Abgesandter Gottes zeigt sich für mich übrigens in der Spontaneität und Kreativität. Er wirkt wie Brausepulver, wobei wir Menschen das Wasser sind, und wenn er durch uns fährt, prickelt es so schön!“ (92) Die einzige Frage, die sich mir hier stellt, ist doch: Kann man dieses Brausepulver auch in gutem Kaffee (s.o.) auflösen?

In diesem Stil gehen die anderen Beiträge weiter. Ein kleines Anekdötchen am Anfang, dann ganz viel über sich selbst erzählen und diese eigene Erfahrung als Anker für gutes und neues Denken von Kirche hinstellen[1]. Dass es dafür dann, wie Sebastian Baer-Henney schreibt, eigentlich nicht unbedingt theologische Ausbildung braucht, sondern dass „geleistete Arbeit“ (149) als Einstieg in den hauptamtlichen Dienst in der Kirche reichen sollte, versteht sich dabei fast von selbst. Dass Kirche am besten, so er weiter, ein „Grundvertrauen darauf [hat], dass –  so unverständlich manche der neuen Wege auch sind – der Pionier weiß was er tut“ (153), ist dann in diesem Zusammenhang auch absolut klar.

Was ich, in meinem verklebten Universitäts- und Amtskirchen-Theologen-Sein, also bei der Lektüre gelernt habe, ist Folgendes: Im Kern des Aufbruchs der Kirche stehen einzelne Menschen, die sich selbst eine gewisse Autorität zuschreiben, die auf ihre eigenen Gaben verweisen, sich selbst als Propheten stilisieren und sich zu Pionieren machen. Eine Ausbildung oder wenigstens die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion braucht es offensichtlich nicht. Hautpsache, man hat etwas Neues beizutragen. Worin dieses Neue besteht?  Im Aufbrechen der alten Formen jedenfalls, in der Feier des Eigenen, in gutem Kaffee. Christliche Inhalte sind nur dann relevant, wenn Sie sich in die Form eines Lifestyles bringen lassen: ja, Christentum muss in diesem Zusammenhang irgendwie hygge[2] sein. Den Rest können wir einfach kappen. Schließlich waren ja Bonhoeffer und Sölle und so auch einfach „Wandernde und Wundernde ihrer Zeit, mit einer heiligen Unruhe versehen und der Erfahrung einer Fremde“ (9). Sie waren eben im Prinzip genauso wie Herrmann und Buiting, Feßmann und Baer-Kenney. Und wenn Bonhoeffer nicht gegen die Nazis hätte Opposition ergreifen müssen und Sölle nicht gegen den Nato-Doppelbeschluss kämpfen wollen, dann hätten die bestimmt auch für besseren Kaffee und mehr Feier des Lebens Partei ergriffen.

Ich muss also, um nochmal zu Anfang zurück zu kommen, meine Meinung tatsächlich ändern. Bis jetzt hielt ich das Ganze irgendwie für eine seltsame Form, die mir nicht entspricht und die ich für nicht ganz richtig halte. Jetzt ist mir völlig klar, dass bloße Skepsis die falsche Antwort ist. Dieser ungefilterte Narzissmus, der sich mit dem Fehlen theologischer (oder irgendwelcher) Tiefe paart, und als Konsequenz das belanglose Feiern des Eigenen propagiert, sich dann dabei auch noch mit prophetischer Autorität versieht, hat nichts Anderes verdient als: Opposition und Widerspruch. Dann bin ich halt weiter ein arroganter Universitätstheologe, der kein Gespür für das Neue mitbringt. Damit kann ich leben, weil „[j]emand muss es tun.“Vielleicht liege ich auch komplett falsch. Kann sein. Aber jedenfalls werde ich mir keine guten Zitate aus meinen Texten auf T-Shirts drucken lassen.

Ein weiser Mann schrieb lange vor mir:

„Hass, damit das endlich klar ist, bedeutet Wahrheit – und etwas mehr Ehrlichkeit. Hass, so wie ich ihn verstehe, hilft unterscheiden: zwischen Gut und Böse, Freund und Feind. Wer diese Unterscheidung nicht will, kennt keine Moral und keine Prinzipien. Dem ist egal, wer an seinem Tisch sitzt, wer ihn unterrichtet, wer sein Land regiert. Der interessiert sich in Wahrheit nur für sich selbst“.
(Maxim Biller)

Diese Selbstbezüglichkeit wenigstens soll man mir nicht vorwerfen.

 

 

 

[1]Um die Herausgeberin zu zitieren: „So sind sie [die Aufsätze] auch als fragmentarische Momentaufnahmen im Prozessgeschehen zu verstehen, die zu großen Teilen fragil und in hohem Maße vergänglich aufmerksam machen auf konkrete Facetten der Veränderungsprozesse der Kirche. Daher lassen sich die Aufsätze untereinander kaum vergleichen und sind exemplarisch für einen Teil von gemachten Erfahrungen mit dem Wandern und Wundern.“ (14) Keine weiteren Fragen, euer Ehren.

[2]http://www.hygge-magazin.de/

Might also be ethics, honey!

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(Noch eine Anmerkung zu “It’s the theology, stupid!”)

Gastbeitrag von Christian Stritzelberger, Tübingen

 

Vorweg: Die offene Diskussion über Theologie und Kirche ist großartig! Denn wenn wir als evangelische Kirche einen Vorwurf nicht loswerden, dann den der Beliebigkeit oder Belanglosigkeit. Was kann die Theologie belanglos machen? Und wie kann bei Pfarrerinnen und Pfarrern der Eindruck entstehen, sie hätten theologisch nichts gelernt, was ihnen weiterhilft? Zu dieser Debatte hier eine, hoffentlich weiterführende, Ergänzung.

 

„Sprachfähigkeit“ ist so etwas wie ein Grundwert des Protestantismus. Die Kirche soll zum Leben, zur Wirklichkeit etwas zu sagen haben. Dafür werden Pfarrerinnen theologisch ausgebildet. Aber welche Wirklichkeit ist das eigentlich, in der sie sich auskennen sollen?

Die für die heutige Theologie immer noch unverzichtbare „dialektische“ Theologie, auch z. B. die einst zum Grundinventar gezählte Seelsorgetheorie nach Thurneysen verbindet man (zu Recht oder zu Unrecht) mit dem Anspruch, eine „wirklichere“ Wirklichkeit zu durchschauen, die uns dann auch die alltägliche Wirklichkeit überhaupt erst verständlich macht.

Diese harte Alternative von „Wirklichkeit Gottes“ und dem, was „der kleine Mann“ für sich als Wirklichkeit erlebt, hatte natürlich gerade in Deutschland ihre historische Berechtigung. Wenn jeder im Land im Stechschritt in die falsche Richtung marschiert, muss man notfalls eben auf dem Wasser gehen, um nicht mitgeschleift zu werden. Diese Sicht ist aber für die evangelische Theologie auch gefährlich, wenn sie zur Grundhaltung wird. Schnell wird dann die „normale“ Wirklichkeit ignoriert, weil nur die „theologische“ wirklich zählt. So wird die beste Christologie, die klarste Trinitätslehre zum Herrschaftswissen: Würde ich das nur verstehen, dann könnte ich auch den Leuten in meiner Gemeinde helfen. Und so geht man dann nach dem Studium frustriert in eine Wirklichkeit, zu der man nichts zu sagen hat.

Wem ist aber überhaupt geholfen, wenn man die Probleme ihres Lebens als Unterthema der Christologie erklärt? Sicher Einigen, wenn das wirklich die Frage war. Ist es aber nicht immer. Und dann ist es mit einer Wirklichkeitsverschiebung nicht getan, denn das Problem liegt dann in dieser Wirklichkeit, in der wir nun einmal alle leben. Will man dazu etwas sagen, dann braucht es auch andere Mittel. Ein zentrales nennt man „Ethik“.

Wir stecken alle, als Theologinnen und als Christen überhaupt, schon im Leben. Und das besteht nicht nur aus Meditationen darüber, was das alles bedeutet. Das besteht auch aus Entscheidungen, ob man das eine oder das andere tut. Ob man eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen muss, ob man Kinderkrankenpfleger werden darf, wenn auf der Station auch Abtreibungen geschehen, ob man Kinder haben sollte, und so weiter. Das Auftragen von Bibelstellenextrakten auf solche ethischen Entzündungen lindert kaum. Vor allem, weil man nicht einfach so schon weiß, wo eigentlich die Stelle ist, die man behandeln müsste; was Symptom und was Auslöser ist.

Menschliche Wünsche, Absichten und die damit verwobenen Glaubensvorstellungen schaffen die Wirklichkeit, die sich jeden Tag ereignet. Um Krankheiten in dieser Wirklichkeit mit dem richtigen Mittel verarzten zu können, braucht man oft erst einmal eine gute Anatomie des Handelns – sprich: „Ethik“. Anders gesagt: Man muss in der Lage sein, zu entwirren, was einen Menschen umtreibt. Und ob das eine Entscheidung bräuchte, oder einen „Zuspruch des Evangeliums“. Wer aber nur verkündigen kann, degradiert alle anderen leicht zu permanenten Zuhörern – als hätten sie kein Leben zu führen.

Für ihre theologische Arbeit müssen Pfarrerinnen sich also (auch!) gut und bequem in der Ethik auskennen, so die These. Das ist nicht mit einer Reclam-Lektüre von Mills „Utilitarismus“ fürs Examen erledigt. Was man mit der Ethik lernt ist nämlich nicht bloß Theorie, oder eine Sammlung von fertigen Inhalten, sondern vor allem eine geübte Fertigkeit, technische Kompetenz. Es ist die Kunst, nachzuvollziehen und handhabbar zu machen, was im Leben verworren daherkommt. Schon deshalb geht Ethik also nicht mit dem Gestus der wirklicheren Wirklichkeit, sondern nur gut lutherisch mit dem Wissen, Gott und die Welt am Ende nicht verstehen zu können – und trotzdem ernsthaft drin zu stecken. Ohne Herrschaftswissen oder Sonderoffenbarungen darüber, was nun gerade richtig ist.

Das ist nicht fakultativ. Ethik gibt keine „Extrapunkte“ für den Wahlbereich. Im Gegenteil: Wer das nicht kann, riskiert, an völlig falschen Stellen mit dem Evangelium um sich zu werfen. Wenn da der Eindruck entsteht, Theologie sei irgendwie bedeutungslos, muss sich keiner wundern. Im falschen Licht scheint die schönste Dogmatik fahl, und schlechte Ethik lässt dümmstenfalls das Evangelium gleich mit schlecht aussehen. Besser also, wenn es da aufscheinen kann, wo es wirklich strahlt. Das kann durchaus in ethischen Diskussionen passieren – muss es aber nicht.

Kurz gesagt hat man als Berufstheologe ein echtes theologisches Defizit, wenn man nur Evangelium „kann“, aber keine Ethik. Das ist eine Herausforderung für die Universitäten, aber auch für die Studierenden. Das heißt nämlich für die Studienplanung, über der Begeisterung für raffinierte Dogmatik nicht die echte Auseinandersetzung mit der „gutbürgerlichen“ Ethik zu vergessen. Beide, das letztlich unbegreifliche Evangelium und die im Leben unvermeidbare Verantwortung, machen evangelische Theologie aus. Gut also, wenn man mit ihr lernt, zu beiden etwas zu sagen zu haben.

 

Christian Strizelberger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie II/Ethik (Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt) in Tübingen.

Study of Theology Revisited

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Randnotizen zu „It’s the theology, stupid

von Niklas Schleicher (@megadakka)

Tobias Graßmann hat auf nthk.de neulich einen Kommentar zu einer Debatte verfasst, woran es der Kirche eigentlich krankt. Der Artikel stieß und stößt auf viel Zustimmung, und an seiner Analyse ist nicht nur nichts verkehrt, sondern es ist ihr zuzustimmen: Theologie ist das, was Menschen (auch) erwarten, wenn sie Gottesdienste unserer Kirchen besuchen. Theologie als Arbeit an Lebens- und Glaubensproblemen ist es, was gerade auch die reformatorische Tradition auszeichnen sollte. Und es ist richtig: Ein Problem der Kirche ist es, dass es im Gottesdienst (aber nicht nur dort) an Theologie fehlt. Auch wenn mehr Theologie nicht alle Probleme auf einmal löst, ist es doch ein Schritt in die richtige Richtung. Die Forderung nach mehr Theologie steht im Raum und weist auf ein Problem hin: Anscheinend mangelt es an solcher. Hier ist der Punkt, an dem im Folgenden nochmal kurz anzusetzen ist.

Denn freilich: Oftmals ist es der Zwang des Berufs und eine gewisse Prioritätensetzung, die es Pfarrern und Pfarrerinnen schwermacht, Theologie zu treiben und ‚drin im Fach‘ zu bleiben. Dies ist ein entscheidender Punkt, lässt aber wohl doch nur darauf schließen, dass im Studium und in der Phase des Vikariats nicht deutlich genug wurde, dass der Beruf auch und ganz entscheidend von Theologie lebt. Dies ist natürlich auch deshalb eine interessante Diagnose, weil es der Evangelischen Kirche an vielen mangelt, aber sicher nicht an Ausbildungsorten, die Theologie und theologische Wissenschaft groß schreiben. Ohne Zweifel ist die deutschsprachige akademische Theologie immer noch sehr gut ausgestattet und sollte alles bereitstellen, um zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen theologisch so zuzurüsten, dass diese aus ihrer Ausbildung für ihre zukünftige Praxis profitieren können.

Nun ist es doch aber so, dass genau von dieser theologischen Ausbildung, die alle Pfarrerinnen und Pfarrer erfahren, bei vielen wenig hängen bleibt. Meines Erachtens liegt das an mindestens drei unterschiedlichen Gruppen, die mit der theologischen Ausbildung zu tun haben. Möglicherweise kann man, wenn man gewillt ist, an diesen Stellschrauben drehen, um die Analyse von Tobias Graßmann mit ein paar praktischen Forderungen zu ergänzen.

Zunächst zu den Studierenden. Es ist faktisch so, dass viele Menschen, die das Studium der Theologie beginnen, dies mit dem Ziel tun, später Pfarrer oder Pfarrerin zu werden. Anders formuliert: Der Berufswunsch steht zuerst und das Studium ist der Weg, diesen Wunsch zu erfüllen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber: Im Studium muss irgendwann der Punkt kommen, an dem man ein eigenes Interesse an theologischen Fragen und Themen entwickelt. Es muss zum eigenen Anliegen werden, zu verstehen, wieso man denn jetzt dieses Fach studieren muss. Man muss selbst Schwerpunkte setzen und sich vertiefen, denn nur so kann man eigenes theologisches Denken lernen. Freilich, der Einwand, der unter gegenwärtigen Bedingungen naheliegt, beginnt mit „B“ und endet mit „olonga“. Zugegebenermaßen ist die Modularisierung der Theologie nicht und ich wage zu behaupten auch sonst keinem geisteswissenschaftlichen Studium angemessen, aber genauso wenig kann sie eine Ausrede sein, eigenes theologisches Denken zu vermeiden. In jedem Seminar, in jeder Vorlesung, egal wie gut oder wie schlecht der Dozierende ist, geht es um theologische Fragen, um das Nachdenken darüber, wie einzelne Inhalte des christlichen Glaubens gedacht werden und wurden. Es ist das Mindeste und nicht zu viel verlangt, von Studierenden zu fordern, diese Gedanken nachzuvollziehen, sich dazu eigene Gedanken zu machen und sich auf das gemeinsame Denken einzulassen. Das fordert hier noch keine große Textlektüre, ist aber der Eingangspunkt zur eigenen theologischen Existenz. Denn auch wenn es nützlich und wichtig ist, über das Seminar hinaus theologische Literatur zu lesen, ist das nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist schlicht und ergreifend: Den eigenen Kopf einzuschalten.

Nun schreibe ich diesen Text quasi von der anderen Seite des Seminarraums und arbeite an der theologischen Ausbildung als Dozierender mit. Auch wir Dozierenden tragen entscheidend dazu bei, dass zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen Theologen sind und bleiben. Zwei Punkte sind hier anzudeuten, die miteinander zusammenhängen und an denen es durchaus mangelt. Erstens: Wir müssen deutlich machen können, wieso unser theologisches Fach, das Seminar oder die Übung, die wir gerade geben, von Bedeutung für die theologische Existenz und damit für den Beruf des zukünftigen Pfarrers ist. Es mag nämlich freilich für die Seminararbeit oder für das Examen reichen, wenn ich z.B. nach der Lektüre von Ritschls „Unterricht“ nachzeichnen kann, was denn nun seine Reich-Gottes-Vorstellungen für den Kulturprotestantismus des 19. Jhd. bedeutet und wo sich seine Lehre von der „klassischen“ Eschatologie unterscheidet. Für die eigene theologische Existenz bringt es aber überhaupt nichts, wenn man keine Idee davon bekommt, wie sich das zum christlichen Glauben verhält und inwieweit uns Ritschl hilft, mit „Glaubens- und Lebensfragen“ umzugehen. Für mich ganz konkret im Seminar bedeutet das, genau diese Art des Nachdenkens zu fördern. Denn freilich: Der erste Schritt ist das Verstehen des Textes, der zweite ist seine Interpretation, der dritte aber muss darin bestehen, wenigstens in Ansätzen darüber nachzudenken, inwieweit dieses Konzept hier und heute für meine Theologie, also mein reflektiertes Reden über Gott hilft. Und, auch wenn ich hier aus der Warte des Systematikers spreche, würde ich diese Forderung unumwunden auch an die anderen Fächer erheben.

Dies führt zu dem zweiten Punkt: Wir brauchen wenigstens eine Idee, was die Sache der Theologie ist. Man kann es nicht oft genug sagen: Die Differenzierung in unterschiedliche Fächer und Fachkulturen ist für die Professionalisierung der Theologie ein Segen. Aber gerade für den Beruf des Pfarrers oder der Pfarrerin, also für den Beruf eines „Allgemein-Theologen“, ist es notwendig, eine Idee zu haben, wie sich die unterschiedlichen Fächer gegenseitig beeinflussen. Es bedeutet eben für mein Reden vom Reich Gottes in der Dogmatik etwas, wenn meine Beschäftigung mit dem Neuen Testament ergibt, dass die Reich-Gottes-Predigt Jesu von der Naherwartung geprägt war usw. Das ist keine einfache Aufgabe, aber für eine ordentliche theologische Grundausbildung halte ich es für unumgänglich, dass wir uns wieder Gedanken um dasjenige Teilfach machen, dass den Zusammenhang der theologischen Fächer untersucht: Wir brauchen eine Wiedergewinnung der theologischen Enzyklopädie.

Neben der Studierendenschaft und der Dozierendenseite ist eine dritte Partei in die theologische Ausbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen involviert: Die Landeskirchen. Hier möchte ich gar nicht groß argumentieren, sondern das Ganze etwas offener formulieren. Ich gewinne den Eindruck, dass die Kirchen zwar irgendwie das erste Examen wollen und auch Zeit in die Prüfungen investieren, danach aber die theologische Weiterbildung (und auch Forschung) rein in der Hand und vor allem in der Freizeit der Pfarrerinnen und Pfarrer liegen sehen. Vielleicht muss man hieran auch weiterdenken, dass Theologie und theologische Weiterbildung nicht der Privatspaß der Pfarrer und Pfarrerinnen ist (Spaß macht es hoffentlich auch!), sondern für den Beruf jedenfalls, wenn das stimmt, was Tobias Graßmann schreibt von eminenter Bedeutung zu sein scheint. Man muss hier gar nicht unbedingt große neue Programme schaffen, die gibt es mit Studienseminaren wie das der VELKD in Pullach oder anderen bereits. Sondern man muss Pfarrer und Pfarrerinnen ermutigen, es ihnen ermöglichen, aber auch fordern, dass sie in ihr Berufsleben Theologie integrieren.

Wenn die drei angesprochenen Gruppen kooperativ und ernsthaft an der Sache arbeiten, dann gelingt es vielleicht, dass der Beruf des Pfarrers, der Pfarrerin wieder zu einem sogenannten theologischen Beruf wird. Hinsichtlich der Herausforderungen, vor die die Kirche gestellt ist, wäre das zu begrüßen.