Ist die bischöfliche Parteinahme für die Große Koalition angemessen?

 

Quelle Bild: BR-Mainfranken/Marcus Filzek

Hintergrund und Anlass dieses Klärungsversuchs

Kaum ein Lehrstück des lutherischen Protestantismus hat in den letzten fünfzig Jahren soviel Kritik erfahren wie die sogenannte Zwei-Reiche-Lehre. Diese besagt, ganz grob, dass Gottes Weltregierung zwei Regimenter, also Regierweisen kennt. Ein geistliches Regiment zur Rechten, welches dazu da ist, das Evangelium zu verkünden und die Sakramente zu verwalten, und daneben das weltliche Regiment zur Linken, welches dazu da ist, die allgemeine Ordnung und den Frieden aufrecht zu erhalten. Wird das geistliche Regiment in der und durch die Kirche ausgeübt, so kann das weltliche Regiment mehr oder weniger direkt mit der Staatsgewalt identifiziert werden.

Die Kritik an diesem Lehrstück entzündete sich vor allem im Rückblick auf die Erfahrungen während der Herrschaft der Nationalsozialisten im sog. „Dritten Reich“, wobei die Bekennende Kirche der Zwei-Reiche-Lehre das Gegenmodell einer universalen Königsherrschaft Christi entgegengehalten hatte: Es gebe keine zwei unterscheidbaren Sphären, durch die Gott seinen ordnenden Einfluss ausübt, sondern auch die staatliche Macht unterstehe direkt seiner Autorität.

Hier soll es jetzt nicht darum gehen, ob die Deutschen Christen Luther sachgemäß interpretiert haben (eher nicht) oder ob sich die Zwei-Reiche-Lehre in Luthers Sinne so stark von der Lehre der Königsherrschaft Christi unterscheidet (eher nicht). Was jedenfalls während des Kaiserreichs, im sog. „Dritten Reich“ und auch später von konservativen Lutheranern (nach dem zweiten Weltkrieg am deutlichsten: Walter Künneth) vertreten wurde, ist folgende Sicht auf das Verhältnis von Kirche und Politik: Die Kirche und die kirchliche Öffentlichkeit haben sich politischer Äußerungen zu enthalten, denn: Das Reich zur Linken sei eben auch von Gott eingesetzt. Dagegen setzten die Theologen, die sich in der Nachfolge der Bekennenden Kirche wussten, unter anderem die aus Hes 33,1-9 stammende Vorstellung eines kirchlichen Wächteramts: Kirchliche Stellungnahmen dienen demzufolge dazu, die Politik von allem abzuhalten, was wider Gottes Willen und die Prinzipien des christlichen Glaubens steht.

Beide Positionen werden in dieser Reinform heute eher nicht mehr vertreten. Sowohl die Öffentliche Theologie, die sich in der Nachfolge Wolfgang Hubers sieht, als auch andere ethische Schulen, die etwa mehr der Linie Trutz Rendtorffs folgen, sind sich – ganz grob – darin einig, dass weder politische Enthaltsamkeit, noch die Vorstellung einer religiösen „Oberaufsicht“ über die Politik sachgemäß sind. Ja, selbst parteipolitisches Engagement sei nicht mehr in jedem Fall unschicklich für Menschen, die als Pfarrer und Pfarrerinnen arbeiten. Dabei wird auch deutlich: Es gibt nicht die eine christliche Position, die politisch zu vertreten ist. Vielmehr sind die je Einzelnen zur Verantwortung und zur Stellungnahme gerufen, wobei es freilich Positionen geben kann, die jenseits des Korridors liegen, welchen der christliche Glaube vorgibt. Dass wiederum eine solche Grenzbestimmung theologisches und ethisches Nachdenken erfordert, bedarf wohl keiner gesonderten Begründung.

Nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen schrieb nun der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm auf Facebook:

„Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis geführt haben, auf das sich alle beteiligten Parteien einigen konnten. Alle, die nun über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben, müssen gründlich abwägen, wie sie ihrer Verantwortung am besten gerecht werden können. Denn Verantwortung ist jetzt gefragt. Es geht nicht darum, wie man sich persönlich besser fühlt, sondern es geht darum, wie den Menschen, um die es geht, insbesondere den Schwächsten und Verletzlichsten, am besten geholfen ist. Es kann jetzt auch nicht zuerst um Parteiinteressen gehen sondern es geht um Verantwortung für das ganze Land, für Europa und, gerade im Hinblick auf die uns so wichtigen globalen Gerechtigkeitsfragen, auch für die Welt. Wer jetzt eine verantwortliche Entscheidung zu treffen hat, muss sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind und bei welcher der Alternativen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass Schritte in die richtige Richtung getan werden. Jetzt wünsche ich denen, die die Nacht durchverhandelt haben, aber vor allem eine dicke Portion Schlaf!“

Eigentlich entspricht dieses Posting auf den ersten Blick genau dem, was soeben skizziert wurde: Bedford-Strohm lobt den politischen Kompromiss und empfiehlt die Abwägung des Koalitionsvertrags durch diejenigen, die darüber zu entscheiden haben. Er spricht sich auf den ersten Blick nicht für eine Richtung aus, sondern appelliert an die Verantwortung des Einzelnen. Spätestens beim zweiten Lesen kam bei uns allerdings die Intuition auf, dass hier etwas durcheinander geht.

Zunächst: Wer sind die Angesprochenen? Bedford-Strohm spricht zu denen, die „über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben“. Dies sind natürlich bei den Unionsparteien die Parteispitzen. Diese haben allerdings den Vertrag mit ausgehandelt, eine Ablehnung erscheint somit eher ausgeschlossen. Also richtet sich der Beitrag mehr oder weniger explizit an die Parteibasis der SPD, die in einer Mitgliederbefragung über Ja oder Nein zum Vertrag entscheiden darf.

Im zweiten Argumentationsschritt nennt er dann die Verantwortung als Maßstab für die Entscheidung, und zwar Verantwortung für die Schwächsten und Verletzlichsten – in nationaler und globaler Perspektive. Diese und nicht persönliche Befindlichkeiten oder „Parteiinteressen“ sollen im Vordergrund stehen. Wer allerdings dann gegen den Koalitionsvertrag stimmt, müsse „sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind“.

Der implizite Argumentationsgang ist deutlich: Verantwortung sei zu übernehmen, diese benötige eine handlungsfähige Regierung, alles außerhalb der GroKo scheint dabei nicht denkbar oder zumindest nicht realistisch und von daher sei diese alternativlos. Im Ergebnis wird eine Ablehnung der GroKo zumindest in die Nähe der Verantwortungslosigkeit gerückt.

Dies wird alles vorgetragen über den offiziellen Account des Bischofs und in einem Sprachduktus, der in seiner emotionalen Rhetorik und moralischen Verbindlichkeit nicht zu unterscheiden ist von geistlichen Worten des Bischofs. So wird in einer vordergründigen Unparteilichkeit doch deutlich für eine Richtung argumentiert. Versucht der Bischof hier etwa, die Gewissen der evangelischen Christinnen und Christen in der SPD zu binden?

Zurück zum Anfang: Es ist für uns unbestritten, dass sich Vertreter der Kirche politisch äußern dürfen und sollen – zum Beispiel, wenn es darum geht, Menschlichkeit in der Politik anzumahnen. Es ist für uns auch klar, dass sich Kirchenvertreterinnen und -vertreter durchaus parteipolitisch betätigen dürfen. Das allerdings sollten sie in der gleichen Art und Weise tun, wie andere Akteure des politischen Diskurses – sich also hier nicht aufgrund ihres Amts eine höhere Legitimation zuweisen. Wenn Kirchenvertreter für eine ganz bestimmte parteipolitische Entscheidung in einer Art und Weise das Wort ergreifen, die nicht von anderen Äußerungen unterscheidbar ist, ja, die in gewisser Weise als Verlautbarung ihres Amts und nicht ihrer Person zu verstehen ist, dann widerspricht dies einer grundlegenden Auffassung protestantischer Ethik: Nämlich derjenigen, dass die Entscheidung über eine politische Option etwas ist, das der Einzelne zu verantworten hat, und dass es für diese keinen durch die Kirchenleitung vorgegebenen ‚richtigen‘ Weg gibt. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht die Kraft kirchlicher Stellungnahmen gegenüber der Politik geschwächt wird, wenn solche Kommentare und implizite Weisungen in zu vielen, auch – wie wir meinen – eher undramatischen, Fällen ergehen.

Ob nun dem Koalitionsvertrag zuzustimmen ist, muss jede Protestantin und jeder Protestant, der Mitglied der SPD ist, selbst entscheiden. Es gibt sowohl gute Gründe dafür als auch gute Gründe dagegen. Die Parteinahme für die Schwachen und Schutzbedürftigen taugt hier gerade nicht als eindeutige Orientierung, wie viele kritische Stimmen zum Koalitionsvertrag etwa aus den Reihen der Pflege oder der Flüchtlingshilfe dokumentieren. Das Votum des Bischofs, das ganz deutlich eine Richtung präferiert, ist jedenfalls nach unserem protestantischen Verständnis nicht die maßgebliche Instanz der Entscheidungsfindung und vermischt in problematischer Weise private politische Stellungnahmen, geistliches Wort und kirchenamtliche Verlautbarung.

Niklas Schleicher

Verhältnisbestimmung von Theologie und Politik

Vor diesem Hintergrund gelangen wir zu folgenden zehn Thesen zur Verhältnisbestimmung von Theologie, kirchenleitendem Amt und Politik:

1. Wir vertreten die Ansicht, dass Kirche und Theologie immer und unausweichlich politisch Stellung beziehen.

2. Prophetische Kritik an Gesellschaft und Politik gehört zur Aufgaben der Verkündigung, die allen Christenmenschen gemeinsam aufgetragen ist und von den Amtsträgern in diesem Sinne gestaltet wird.

3. Eine politische Enthaltsamkeit durch Kirche und Theologie läuft faktisch auf eine religiöse Legitimation für die jeweils hegemoniale Politik hinaus.

4. Daraus ziehen wir die Konsequenz, dass Theologinnen und Theologen zu politischem, auch parteipolitischem Engagement durchaus zu ermutigen sind.

5. Bedingung ist, dass dieses Engagement transparent gemacht wird und der Verantwortung für den Frieden in der Kirche nicht zuwider läuft.

6. Aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verbietet sich jeder Versuch, die Lehre der Kirche und das Evangelium Jesu Christi einem politischen Projekt unterzuordnen und so für politische Zwecke zu missbrauchen.

7. Politische Betätigung von Amtsträgern darf nicht zu einer verschleierten politischen Missionierung führen, sondern sollte vielmehr die eigenständige Meinungsbildung anregen und politische Streitkultur innerhalb wie außerhalb der Kirche fördern.

8. Zurückgewiesen wird jeder Anspruch einer Partei, die allein zulässige christliche Position in politischen Fragen zu vertreten.

9. Wenn einzelne Theologinnen oder Theologen bzw. die Kirchenleitung ausdrücklich und unmittelbar zu politischen Themen Stellung nehmen, so treten sie nicht allein als Dienerinnen und Diener des Verkündigungswortes, sondern als politische Akteure auf.

9. Solche Stellungnahmen sind nicht den Regeln des politischen Diskurses enthoben und ihre Meinung ist nicht in besonderem Maße vor Kritik geschützt, sondern anderen weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Stellungnahmen prinzipiell gleichgestellt.

10. Niemand ist befugt, mit theologischen oder kirchenleitenden Stellungnahmen die Gewissen in politischen Entscheidungen binden zu wollen.

Niklas Schleicher und Tobias Graßmann

Kritische Bewertung der zitierten Stellungnahme

Auf der Grundlage unserer Thesen sowie in Bekräftigung der lutherischen Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment kommen wir zu folgender Feststellung:

Die Einflussnahme des Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm auf den Mitgliederentscheid der SPD verwischt tendenziell die Unterscheidung der Regimenter. Eine so direkte Einflussnahme der Kirchenleitung auf die Politik wäre unseres Erachtens nur geboten in Fällen, in denen die freie Religionsausübung oder die Menschenwürde unmittelbar gefährdet sind. Dies ist im Fall der aktuellen Bemühungen um eine Koalitionsbildung nicht gegeben.

Wir sehen daher bei Herr Bedford-Strohm kein hinreichendes Mandat für die Einmischung in den Mitgliederentscheid der SPD. Wir warnen vor einer Interpretation des prophetischen Wächteramts der Kirche, welche das Amt des oder der leitenden Geistlichen mit einem politischen Repräsentationsamt verwechselbar macht. Wir kritisieren ein Verständnis von öffentlicher Theologie, demzufolge nahezu jede politische Einzelentscheidung (und entsprechend auch die Verfahren der innerparteilichen Willensbildung) in den Bereich kirchenleitender Weisungen fallen. Angesichts solcher Grenzverwischungen befürchten wir langfristig eine verhängnisvolle Vermischung von kirchlicher und politischer Sphäre auf der Ebene der Kirchenleitung.

Es steht Herrn Bedford-Strohm selbstverständlich die Möglichkeit offen, als Theologe, Christenmensch und Sozialdemokrat mit ruhender Parteimitgliedschaft seine eigene Meinung zum Mitgliederentscheid kundzutun. Dabei hätte er unseres Erachtens aber einen Kommunikationsweg zu wählen, der klar von einer offiziellen kirchenleitenden Verlautbarung unterschieden ist, sowie seine Sprache ihres bischöflichen Ornats zu entkleiden.

Tobias Graßmann

Für diesen Beitrag zeichnen:

Tobias Graßmann, Pfarrer der ELKB, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie (Dogmatik) in Göttingen und Sozialdemokrat

Tobias Jammerthal MA (Dunelm.), theologischer Doktorand in
Tübingen und Sozialdemokrat

Claudia Kühner-Graßmann, Doktorandin der ev. Theologie, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und Sozialdemokratin

Julian Scharpf, Vikar der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und Sozialdemokrat

Niklas Schleicher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Ev-Theol. Fakultät der LMU und Sozialdemokrat

 

Weitere Unterstützer:

Philipp Kurowski, Dr.theol., Pastor der ev.-luth. Kirchengemeinde Großsolt-Kleinsolt, Nordkirche