Freiheit predigen

Der Reformationstag 2021 in fünf Auslegungen

von Martin Böger, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Niklas Schleicher und Julian Scharpf
(ein Klick auf die Namen springt direkt zur jeweiligen Predigt)

Es ist ruhiger im auf dem Blog des Netzwerkes für Theologie in der Kirche geworden. Wenn wir Texte verfassen, dann höchstens ab und an in der „Eule“. Die Ruhe hat mehrere Gründe, einer ist sicherlich, dass wir mittlerweile an unterschiedlichen Orten tätig sind, die gerade mehr Aufmerksamkeit fordern, sei es Vikariat, Pfarramt oder Assistenz an der Universität.

Anyway, der große Teil von uns ist mehr oder weniger regelmäßig sonntags im Einsatz und predigt. Wie es der Zufall so will, haben fünf (also fast alle der Stammmannschaft) am Reformationstag Gottesdienst gehalten und Galater 5, 1-6 ausgelegt. Luthers Anliegen war zunächst wahrscheinlich ein genuin theologisches. Seine Ideen für die Reform der Kirche stammen aus seinen Reflexionen auf die biblischen Büchern. Auch deshalb erscheint es vielleicht interessant, was unsere Gruppe, die sich ja schon im Titel irgendwie der Rolle von Theologie in der kirchlichen Praxis gegeben hat, aus diesem Text zu diesem Tag macht.

Deshalb hier, zwei Tage nach dem Reformationstag: Predigten vom NThK zu Galater 5, 1-6 oder eben: Freiheit predigen. Es geht mal über Checklisten, mal über Pathos, mal über Luther in Worms, mal über Glaube und Werke, mal über staatliche Ordnungen, aber immer geht es um die Frage, was dieser Paulustext, die Reformation und die Freiheit, die in beiden steckt, uns heute noch bedeuten kann. Mögen die Predigten beispielhaft zeigen, was unterschiedliche Zugänge aus ein und demselben Text holen können und wie sie ihn zum Sprechen bringen. Wir freuen uns auf Rückmeldungen.

                                                                       Niklas Schleicher

Martin Böger: „Reformation als Vergewisserung: Gott will freie Menschen“

(gehalten in der Eberhardskirche Tübingen)

Liebe Gemeinde,

manchmal, ja manchmal überkommt mich ein Durst nach etwas Pathetischem. Und manchmal stille ich diesen Durst mit Gesang von Konstantin Wecker, Hannes Wader – mit Arbeiterliedern. Die Internationale, Auf auf zum Kampf oder auch Bella Ciao, Bella Ciao tönt es dann durch unser Haus und besonders aus der Küche heraus. Ich glaube, was mich an diesen Liedern besonders anspricht, ist deren besonderer Sound, deren Patina. Deren unbändiger, ansteckender Ruf nach Freiheit, nach Veränderung. Der Kampf einer kleinen hartgesottenen Gruppe, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengibt, sondern die etwas wagt, die etwas riskiert. Die um Freiheit, Gerechtigkeit und Anerkennung kämpft, ganz egal wie übermächtig und groß die Gegenmächte sind. Und selbstverständlich spricht aus ihnen auch immer eine gewisse Tragik, eine Schwere, eine Ahnung, dass die Wirklichkeit so manchen Visionen im Weg steht. Andere mögen sagen, aus ihnen spricht auch eine gewisse Wirklichkeitsferne, eine verblendete Ideologie – das mag sein. Und doch finde ich ihre Grundstimmung ansteckend, inspirierend und trotzig.

Zu diesen pathetischen, revolutionär-kämpferisch musikalischen Aufrufen passt in gewisser Weise der Predigttext zum heutigen Reformationstag aus dem Galaterbrief im 5. Kapitel, Verse 1-6:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Ich kann es mir beinahe vorstellen, wie Hannes Wader und Konstantin Wecker diese Verse mit Gitarrenmusik schmettern. Und auch ein anderer hat sich von dieser pathetischen, revolutionär- kämpferischen Grundstimmung des Evangeliums anstecken lassen -nur 500 Jahre früher auf dem Wormser Reichstag.

Vor Kaiser und Reichsständen bekannte der junge Augustinereremit Martin Luther, wohlwissend, dass seine Weigerung seine Schriften zu widerrufen ihn am eigenen Leben bedrohen könnte. „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders Gott helfe mir. Amen.“

Paulus und Luther. Zwei christliche Köpfe, an denen man sich reiben kann, die knallhart formulieren und beide in besonderer Weise für ihre Überzeugungen eingestanden sind. Beide unserem Verständnis des Glaubens einen erheblichen Schubs und Drall verpasst haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Um was ging es Paulus in diesen Versen? Es ging Paulus um die Frage der Beschneidung. Müssen sich Männer erst beschneiden lassen, bevor sie Christen werden können? Mit diesen Versen wollte Paulus keine antisemitische Ressentiments bedienen oder eine etwas verquere theologische Grundsatzdiskussion anzetteln, ob Gott sein jüdisches Volk verstoßen haben könnte. Sondern schlicht und einfach darum, wie das, was Gott in Jesus von Nazareth, der Welt offenbart hat, zu deuten ist. Es scheint so, dass die Galater in dieser Frage nicht wirklich entschieden waren. Denn sie verhielten sich einmal so. Dann wieder anders. Sie taktierten. Trafen Entscheidungen situativ. Lavierten sich durch. Und dieses Durchlavieren, dieses mal so mal so, das bringt Paulus auf die Palme. Nicht weil Paulus grundsätzlich und am liebsten schwarz/weiß denken möchte und nicht nachvollziehen könnte, dass es auch Graubereiche des Lebens gibt, wo es kein eindeutiges ja oder nein gibt. Sondern darum, weil an dieser Frage, an diesem herumlavieren das Evangelium an sich in Frage gestellt wird.

Weil das Herumlavieren an dieser Stelle das Tor zu Gedanken, man müsste etwas leisten, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden, weit und unumkehrbar aufstoßen. Und hier ist das Evangelium, die Liebe, die Freiheit in Christus, im Glauben mehr als eindeutig: Gott wertet nicht das Menschsein, stellt keinen Kriterienkatalog auf. Und deshalb stellt das Verhalten der Galater, das Ja, man könnte sich „Ja vielleicht auch einfach beschneiden lassen“ alles in Frage.

Das Evangelium ist an dieser Stelle Freiheit von Erwartungsdruck, Vorbedingungen und einem Kriterienkatalog. Die Freiheit davon, Erfolg haben zu müssen, um als Mensch etwas zu gelten, eine Würde zu haben. Die Freiheit davon, aus dem eigenen Leben und Alltag möglichst das Optimum, das Beste herauszuholen, immer perfekt zu sein müssen. Wir sind alle hineinverstrickt in Geschichten voller Illusion und Lüge, voller Schuld und Unvermögen. Stecken eigentlich in so mancher Unfreiheit und labeln sie als Freiheit. Paulus war überzeugt, kein Mensch kann sich aus eigener Kraft befreien. Die Freiheit, von der Paulus spricht, ist daher eine von Gott geschenkte, durch Christus gewirkte Freiheit. Es ist also eine Freiheit von etwas. Die Freiheit von der Angst um sich selbst. Die Freiheit, den eigenen Unzulänglichkeiten, den Zweifeln an sich selbst liebevoll begegnen zu dürfen. Die Freiheit, nicht unter dem Druck zu stehen, das eigene Leben zum Erfolg führen zu müssen. Wir sind zur Freiheit berufen, wir sind nicht zur Freiheit verdammt. Evangelische Freiheit gründet im Wissen um die Rechtfertigung des Gottlosen. Das heißt, sie gründet nicht in meinem Vermögen oder Unvermögen, nicht in meinem Erfolg und eben auch nicht Misserfolg. Sie weiß um die Abgründe und die Balken im eigenen Auge.

Und in dieser Freiheit ergeben sich neue Blickwinkel auf mich selbst und selbstkritische Überprüfungen, wie ich durchs Leben gehe, an welchen Dingen ich mein Herz aufhänge, welchen Zielen ich nachjage und welche Ketten ich mich unterjoche.

Gott will uns als freie Menschen. Franz Rosenzweig erzählt in seinem großen Werk „Der Stern der Erlösung“ von einer rabbinischen Legende, die von einem Fluss in einem fernen Lande erzählt, der so fromm sei, dass er am Sabbat nicht fließe. Rosenzweig folgert: Wenn dieser Fluss nun durch Frankfurt flösse, dann würde die ganze Judenschaft dort den Sabbat halten. Aber Gott – so Rosenzweig – will das nicht und tut das nicht. Es graut ihm vor dem unausbleiblichen Erfolg: Weil dann die Unfreiesten, die Ängstlichen und Kümmerlichen die „Frömmsten“ wären.

Gott will freie Menschen. Solche, die über ihre Angst und über ihre Anerkennungssehnsüchte hinauswachsen. Solche, die den Himmel schauen und mit offenem, freien Blick den Nächsten, die Nächste neben sich sehen. Ich muss nicht damit hadern, dass ich ein endliches Wesen bin. Ich muss nicht Gott sein. Ich darf Mensch sein. Gott will uns als freie Menschen, weil nur freie Menschen zur Liebe fähig sind. Freiheit so verstanden, ist deshalb kein Standpunkt, sondern ein Weg, auf den uns Gott gesetzt hat. Ein abenteuerlicher und riskanter Weg, der immer wieder an Grenzen führt. Ein Weg, der lebendig erhält und immer wieder auch ins Leben ruft.

Liebe Gemeinde, das Reformationsfest ist nicht nur ein Datum im Kalender. Nicht nur die Erinnerung und der Wunsch nach einer Kirche, die sich nicht eingräbt, sondern sich verändern kann und will. Reformation ist kein Standpunkt, sondern die Vergewisserung auf welchem Weg wir uns befinden und mit wem wir diesen Weg gehen. Mit einem Gott sind wir unterwegs, der uns mit Glaube, Liebe und Hoffnung beschenkt hat und der nicht will, dass wir dieses Geschenk vergraben. Angesteckt durch die Kraft der Freiheit, in die wir hineingenommen sind, die uns lebendig macht, wollen wir es uns nicht nur bequem machen, in den manchmal nur allzu bequemen Ketten, des schon immer so und weiter so. Bereit, etwas zu wagen und zu riskieren. Die aktuellen Herausforderungen für uns als Kirchen der Reformation -auch hier in Tübingen – sind riesig, aber nur gefühlt erdrückend. Evangelische Freiheit bedeutet auch hier, sich vom Druck Erfolg haben zu müssen, befreien zu dürfen und in gewisser Weise angstfreier in die Zukunft zu blicken.

Und so passt dieser Ruf, diese Vergewisserung der geschenkten Freiheit zu der eingangs erwähnten pathetischen Untertönen mancher Arbeiterliedern: als Erinnerung, als Sehnsucht, als Möglichkeit mutig zu sein, trotzig zu sein, sich nicht entmutigen zu lassen, den Spielraum der Freiheit auszuloten. Evangelische, christliche Freiheit hat für mich daher auch etwas mit Lebendigkeit zu tun. Die Freiheit aus Gott lässt uns leben, hoffen, lieben, streiten und gestalten. Gemeinsam. Miteinander. Und Füreinander.

Amen.

Tobias Jammerthal: „Wider dem himmlischen Girokonto, oder: Aus Freiheit tun was zu tun ist“

(gehalten in der Christuskirche Unterrottmannsdorf im Dekanat Ansbach)

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Lasst uns Gott in der Stille um den Segen für sein Wort bitten.

-Stille-

Segne, himmlischer Vater, unser Reden und Hören. Amen.

So steht es im Brief des Paulus an die Galater, im fünften Kapitel:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Herr segne dies Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde!

Am Reformationstag steht heute bei Ihnen ein Reformationshistoriker auf der Kanzel – Luther, Melanchthon und wie sie alle heißen, sind mein wissenschaftliches Spezialgebiet; ihr Denken und ihr Handeln fasziniert mich – und deswegen könnte ich sehr lange darüber reden. Aber in unserer Kirche ist es üblich, dass der Prediger nicht über alles Mögliche spricht, was ihn privat interessiert, sondern über einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift – und das hängt durchaus mit dem zusammen, was wir am Reformationstag feiern: Dass wir nämlich in der Heiligen Schrift alles finden, was wir für unser ewiges Heil wissen müssen. Und dass Predigt keine unverbindliche religiöse Rede ist, sondern Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott. Deshalb also heute kein kirchengeschichtlicher Vortrag über Luther und seine Freunde – sondern Predigt über einen Abschnitt aus dem Galaterbrief. Unser Predigttext ist kurz, aber er hat es in sich. Ich will versuchen, drei Punkte herauszugreifen, die für uns heute besonders wichtig sind: Der erste steht unter der Überschrift „Ganz oder gar nicht“, der zweite handelt vom Glauben und von den Werken, und ein dritter Punkt heißt schlicht, aber bedeutungsschwanger, „Freiheit“. Doch der Reihe nach!

Zum ersten: „Ganz oder gar nicht“. Paulus schreibt an eine Gemeinde aus sogenannten Heidenchristen; das waren also Menschen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, ohne vorher Juden zu sein. Bald nach der Gemeindegründung scheint es dort so gekommen zu sein, dass manche ihre Vorliebe für bestimmte alttestamentliche Vorschriften entdeckt haben. Die neutestamentliche Wissenschaft vermutet, dass es vor allem um Fasten- und Reinheitsgebote ging, also um bestimmte Praktiken der Frömmigkeit, durch die man sich sichtbar von anderen Menschen unterscheiden konnte – klar: Wenn alle außer mir Fleisch essen, bin ich etwas Besonderes, vor allem, wenn ich dann noch sagen kann, dass ich damit Gott gehorche. Der Höhepunkt dieser Frömmigkeit, die sich vor allem daran zeigte, an bestimmten Tagen zu fasten und bestimmte Reinheitsvorschriften zu befolgen, war die Beschneidung. Paulus hat für das alles nichts übrig: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ (V.2f). Wenn ihr euch am antiken Judentum orientieren wollt, ruft er den Galatern zu, dann funktioniert das nicht so, dass ihr euch nur bestimmte Teile davon aussucht – sondern das geht nur ganz oder gar nicht. Ich finde, darin steckt eine wichtige Mahnung gerade auch für uns heute: Immer wieder meinen Christen, sie wären besonders fromm, wenn sie bestimmte alttestamentliche Regeln besonders streng einhalten. Dazu gehört dann meist ein geringschätzender Blick auf alle, die das nicht tun. Paulus erinnert uns aber daran, dass es so nicht funktioniert. Wir können nicht – zum Beispiel – in der Sexualethik bestimmte Stellen aus dem Alten Testament zitieren und gegen andere Menschen ins Feld führen – und auf der anderen Seite am Samstag arbeiten oder nicht zehn Prozent unseres Einkommens spenden oder nur Menschen aus unserem eigenen Dorf heiraten oder auf der Anwendung der Todesstrafe für Ehebrecher bestehen. Wer meint, er müsste die Einhaltung alttestamentlicher Vorschriften zum Kriterium der Gottesbeziehung machen, der muss sich von Paulus anhören, dass er das nur tun kann, wenn er sich auch wirklich an alle diese Vorschriften hält. Aber das ist noch nicht alles: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen… ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (V. 2+4) ruft Paulus uns zu: Wer meint, er wäre besonders fromm, weil er – im Gegensatz zu anderen – auf bestimmte Regeln achte, seien die nun aus dem Alten Testament oder aus dem Bereich der Politik genommen, der hat sich von Christus abgewendet. Das klingt hart, ist aber nur folgerichtig: was hat es noch mit der Liebe Gottes zu tun, die in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn ich mich selbst darüber profilieren will, dass ich Dinge tue, die mich von anderen unterscheiden – und anderen vorwerfe, dass sie dabei nicht mitmachen?

Das ist starker Tobak – für uns heute wie damals für die Galater – aber damit sind wir schon beim zweiten Punkt: Glaube und Werke. Wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Wir erinnern uns dankbar daran, dass eine ganze Reihe von Theologen vor fünfhundert Jahren wirkungsvoll darauf hingewiesen hat, dass unser Seelenheil nicht davon abhängt, was wir tun. Einen der wichtigsten Bibeltexte, auf die sich Martin Luther stützte, haben wir vorhin in der Epistel gehört: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart… So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,21+28) Es gehört zum Kernbestand evangelischen Christentums, dass wir uns das immer wieder sagen lassen – gerade angesichts dessen, dass wir genauso wie alle Anderen immer wieder dazu neigen, dann eben doch Vorschriften darüber aufzustellen, unter welchen Bedingungen jemand „richtig“ Christ ist oder nicht. Aber sobald wir das Seelenheil eines Menschen an irgendwelche Bedingungen knüpfen wollen, erhebt Paulus schärfsten Einspruch – genau das ist ja das Evangelium, die frohe Botschaft, die er den Römern genauso wie den Christen in Galatien und auch uns heute vermitteln will, dass es solche Bedingungen nicht gibt. Den Römern sagt er es im Guten: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) – den Galatern schreibt er es ziemlich vorwurfsvoll ins Stammbuch, wie wir gehört haben: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt“ (Gal 5,4). Das, was wir tun, kann keine Bedingung dafür sein, dass Gott uns in Liebe annimmt. Das, was Christus für uns getan hat, reicht aus dafür, dass Gott uns in seine Gemeinschaft nimmt – wir müssen es nicht durch irgendeine Handlung bestätigen, als ob Gottes Heilshandeln von unserer Zustimmung abhängig wäre.

Soweit, so bekannt – aber hat das, was wir tun, denn wirklich gar keine Folgen für unsere Gottesbeziehung? Hier stellt sich nicht nur die Frage, warum ich mich eigentlich an irgendwelche ethischen Regeln halten sollte: Vorhin in der Evangelienlesung haben wir gehört, dass Christus Menschen, die bestimmte Dinge tun, als „selig“ preist. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. … Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,7+9) und so weiter – ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Paulus schreibt? Paulus schreibt den Galatern und den Römern ins Stammbuch, dass unsere Seligkeit nicht von dem abhängt, was wir tun – und Jesus predigt, dass alle, die bestimmte Dinge tun, selig sind? Hier gilt es, ganz genau hinzuschauen. Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch aussieht, gehört nämlich zusammen. Und den Schlüssel dafür, das zu verstehen, liefert uns unser Predigttext: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Ja: Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Handeln. Ja, was wir glauben und was wir tun, hängt miteinander zusammen – nur eben anders, als wir es auf den ersten Blick meinen. Die naheliegendste Lösung begegnet uns auch in unserer Kirche immer wieder: dass gute Taten nämlich den Glauben zeigen – mit anderen Worten: nur wer Gutes tut, glaubt auch. Und dann ist es, ehe wir uns versehen, eben doch so: Nur diejenigen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sind „richtige“ Christen. Es ist aber genau anders herum: Der Glaube ist durch die Liebe tätig – nicht gute Taten zeigen uns den Glauben. Das klingt spitzfindig – ist aber ein großer Unterschied.

Und damit sind wir beim dritten Punkt: der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) ruft Paulus aus – und das ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, dass sie Gutes tun, ohne dass sie es für irgendeinen eigennützigen Zweck tun müssten. Das ist die Seligkeit, von der Jesus spricht, dass wir aus dem Glauben daran, dass Gott uns bedingungslos liebt, selbst lieben können – ohne damit irgendwelche Nebenabsichten verbinden zu müssen. Wir sind davon befreit, etwas tun zu müssen, um von Gott geliebt zu werden; befreit davon, aus Angst vor Gott etwas tun zu müssen – und befreit dazu, uns unseren Mitmenschen liebevoll zuzuwenden, und das heißt: um ihrer selbst willen. Wenn ich liebe, helfe ich einem Anderen, weil er Hilfe nötig hat – und nicht, weil ich mein himmlisches Girokonto durch eine gute Tat auffüllen muss und Angst habe, dass mein Guthaben eventuell noch nicht reichen könnte für ein Ticket in den Himmel. Christus hat uns dazu befreit, in unseren Mitmenschen nicht Mittel zum Zweck unserer Seligkeit zu sehen – sondern eben Mit-Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das ist unsere Freiheit und deswegen preist Christus uns selig, dass wir aus dem Vertrauen auf den gnädigen und liebenden Gott heraus die Kraft gewinnen, Gutes zu tun. Nicht, weil wir es müssten, sondern weil wir es wollen.

Jedes Mal, wenn wir den Reformationstag feiern, liebe Gemeinde, sollen wir uns das aufs Neue gesagt sein lassen: Dass Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus von allen Zwängen befreit hat. Dass er uns die Freiheit geschenkt hat, uneigennützig zu sein. Und dass es deswegen gar nicht nötig ist, dass wir selbst irgendwelche Bedingungen dafür aufstellen, was ein richtiger Christ ist – egal, ob wir sie aus dem Alten Testament nehmen oder aus einem System politischer Korrektheit. Freuen wir uns lieber daran, was Gott für uns getan hat – und achten wir darauf, wo wir gebraucht werden. Denn nachdem uns die Last von den Schultern genommen ist, dass wir vor Gott irgendwelche Bedingungen erfüllen müssten, können wir uns befreit und kraftvoll dem zuwenden, was zu tun ist, damit die Not anderer Menschen gelindert wird. Ganz irdisch. Ganz im Hier und Jetzt. Zur Freude Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen. Ja: Selig sind diejenigen, die so befreit ans Werk gehen dürfen!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Claudia Kühner-Graßmann: „Zerreißt die Checklisten, oder: Die Freiheit vom Zwang, etwas für unser Heil tun zu müssen“

(gehalten in St.Leonard in Nürnberg)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen

I. Einstieg: Wunderbare Checkliste

Liebe Gemeinde,

erstellen Sie To-Do-Listen? Ich gestehe, ich mag es gerne. Mit so einer Liste hab ich alles im Blick, was ansteht. Bin also gut organisiert und minimiere die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vergessen. Aber das eigentliche Highlight einer solchen Checkliste ist das Abhaken. Es wird ganz sichtbar, was ich alles schon geschafft habe. Und gut, auch das, was ich noch machen muss. Im besten Fall stellt sich ein gutes Gefühl ein, wenn endlich der letzte Punkt abgehakt ist. Der Blick auf das, was geschafft ist. Visualisierung der eigenen Leistung.

Beruhigung und Selbstvergewisserung. Berechnung und Beherrschung des Chaos.

Wie sieht es aus mit einer Checkliste für den Glauben? Paulus hat eine starke Meinung dazu. Ich lese aus dem Brief an die Galater:

II. Predigttext

1Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!  2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

in der Provinz Galatien war was los. Kein Vierteljahrhundert ist das Christentum alt. Mit den Missionsreisen des Paulus breitete es sich weiter aus. Nun waren es nicht mehr nur Judenchristen, also Menschen, die als Juden geboren und im Judentum erzogen worden sind, aus denen sich die Gemeinde Jesu Christi zusammengesetzt hat.

Neben denen, die zuvor schon Juden gewesen waren, traten die Bekehrten anderer Völker und Religionen. Das führte zu Diskussionen. Debatten. Streit. Dabei ging es nicht bloß darum, wer den Ton angibt, was die Zusammensetzung der neuen Glaubensgemeinschaft betrifft. Nicht bloß um die Befriedung einiger weniger Egos. – Darum natürlich immer wieder auch. Aber oft ging es ums Ganze. Die existentielle Dimension, die drängende Bedeutung dieser Debatten lässt sich in dem Ausschnitt, der den Predigttext für heute bildet, spüren. Vordergründiges Thema ist die Beschneidung, die für jüdischen Männern damals wie heute religiös vorgeschrieben war und ist. Damit ist allerdings nicht einfach nur der medizinische Akt der Entfernung der Vorhaut gemeint. Ja, darum geht es schon auch. Aber nicht in dem Sinne, wie die Debatte in unserer Gegenwart immer wieder öffentlich geführt wird. Inklusive antisemitischer Ressentiments.

So macht Paulus das nicht. Dazu ist für ihn die Beschneidung aber auch auf der religiösen Ebene zu bedeutungsvoll. Er selbst ist auch beschnitten. Dieser Ritus drückt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel aus. Daher scheint es auf den ersten Blick zu verwundern, dass Paulus hier so bestimmt reagiert und den Galatern die Beschneidung regelrecht verbietet. 

Wer waren die Gemeindeglieder in der Region Galatien, mitten in der heutigen Türkei? Diese Gemeinden setzen sich aus verschiedenen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identitäten zusammen. Ich weiß nicht, was einige dazu gebracht hat, zu meinen, dass sie den Weg zu Jesus Christus über das Gottesvolk Israel gehen müssten. Ich kann mir vorstellen, dass manche von ihnen einfach alles richtig machen wollten. Es scheint auch verlockend zu sein. Ein sichtbares, körperliches Zeichen, eine formale Zuordnung zu Israel – wie eben viele ihrer Glaubensvorbilder auch. Wie Jesus, Petrus, Paulus. Dann könnte man einen Haken setzen auf der religiösen To-Do-Liste und man hätte da schon mal eine Art Gewissheit. Oder?

Genau an diesem Punkt setzt Paulus ein – und zwar gerade als einer, der diesen ganzen Weg einer frommen jüdischen Erziehung und dann der Neuaufnahme in die Christengemeinde gegangen ist.

2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 

Mit der Autorität seiner Person, seines Namens schreibt er, dass dieser Umweg über die Beschneidung den Galatern nichts bringt. Er schreibt:

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 

Ganz oder gar nicht! Es geht nicht nur um Beschneidung. Denn zum Judesein gehört für Paulus, sich an das ganze Gesetz des Mose zu halten, damit sie was nützt. Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel gibt es nicht anders.

Aber dann gibt es noch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ist frei von diesen religiösen Vorschriften und Regeln, von all diesen Bedingungen. Paulus wettert gerade nicht gegen seine jüdischen Geschwister, erhebt sich nicht über sie. Für ihn und für alle, die an Jesus Christus glauben, ist dieses Gesetz aber überwunden. Hier gilt eine andere Regel: Kein menschliches Handeln, kein Gesetzeskatalog, keine besondere Vorleistung. Allein Jesus Christus und der Glaube an ihn befreien, retten, rechtfertigen.

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

III. Luther

Das klingt ja immer alles sehr schön. Die Befreiung durch Jesus Christus. Allein durch Gnade und allein im Glauben. Und ja, wenn ich diese Zeile höre: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Dann weiß alles in mir, dass das richtig ist. Kopf und Herz stimmen zu, manchmal bekomme ich etwas Gänsehaut. Faust in die Höhe, evangelischer Kampfmodus. Ganze besonders heute am Reformationstag. Und dann gibt es noch die andere Seite in mir. Die, die gerne Checklisten schreibt, sich von außen rückversichern muss. Die Seite, die die Galater nur zu gut versteht, die sich zur Sicherheit lieber beschneiden lassen wollen. Die Seite, die auch manchmal das Bedürfnis hat, einen Katalog abzuarbeiten: Gott, was soll ich machen, damit ich eine gute Christin bin? Ich denke, damit bin ich nicht alleine. Die Geschichte und ganz besonders die Reformationsgeschichte zeigt das ja durchaus.

Da war dieser junge Mönch,  – fast hätte er Jura studiert! –, dem die Ordensregeln wichtig waren und der alles richtig machen wollte. Der alle Vorschriften befolgen wollte und damit eine Zeit lang wohl auch ganz gut zurechtkam. Aber immer wieder diese Zweifel. Das Gewissen. Die Erkenntnis, dass Menschen überhaupt nicht das leisten könnten, was gefordert sein müsste, um vor Gott wirklich gerecht zu werden. Die Worte des Liebesgebotes im Ohr: Liebe deinen Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser ernsthafte Mönch lebte in einer Umwelt, in der es üblich geworden war, sich ein Stück Seelenheil zu erkaufen – durch Geld, Bußübungen, Gebete… Fromme Checklisten: 300 Rosenkränze gebetet. 1000 Gulden bezahlt. Die Reliquie eines Heiligen geküsst.

Nein, ich möchte mich nicht darüber erheben. Es ist für uns Menschen nicht einfach zu begreifen, was Jesus Christus für uns getan hat. Da erscheint es nur zu menschlich, dass man versuchte, sich den Glaubensstand irgendwie berechenbar zu machen. Aber das System frommer Absicherungen, sogenannter Ablässe, wurde damals doch ziemlich pervertiert. Da kam dieser Mönch, getrieben von eigenen Zweifeln –  und ganz plötzlich befreit durch seine Entdeckungen im Text der Bibel.

Martin Luther.

Ein streitbarer Mann. Laut, derb, im vollen Eifer für den Glauben. Er ist mit seiner ganzen Person für die Rechtfertigung allein aus Glauben, für die Befreiung allein durch Jesus Christus eingestanden. Hat dafür sein Leben riskiert – und komplett umgekrempelt. Er hat nicht nur darüber geschrieben, er hat das, was er verkündet hat, auch gelebt. Was mich aber am meisten beeindruckt: Luther kämpfte um der Sache willen. Und er wusste immer um die menschliche Unperfektheit – gerade auch derer, die glauben. Wie Paulus rief Luther immer wieder das ins Gedächtnis, worauf es ankommt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 

Zeitlebens ließen Luther seine die Zweifel nicht los. Aber getragen von der tiefen Zuversicht, vom tiefen Vertrauen in Gottes Wohltat für uns konnte er dem jetzt standhalten.

IV. Paulus und Luther für uns

Paulus und Luther. Zwei Männer mit Mission. Der eine verbreitete die Botschaft von der befreienden Gnade durch Jesus Christus in der ganzen Welt und wurde nicht müde, seinen Gemeinden das weiter zuzusprechen. Der andere fühlte sich erstickt von den Vorgaben seiner Kirche und rief diese Botschaft der Erlösung allein durch Jesus Christus wieder ins Gedächtnis.

Beides prägende Gestalten unseres Glaubens. Vorbilder trotz allem. Gerade, weil sie alles andere als tadellose Superhelden sind. Denn genau das macht ihre Botschaft so eindringlich und glaubwürdig. Und ja, sie wussten beide, dass es schwer ist, die Beziehung zu Gott alleine von Gott her bestimmen zu lassen: nämlich befreit zu sein allein aus Gnade, allein im Glauben an Jesus Christus. Umso wichtiger ist es, diese Botschaft immer wieder zu hören:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Wir machen uns nicht selbst frei. Wir werden befreit. Ohne Gebote, ohne Eigenleistungen, ohne To-Do-Liste. Diese Freiheit wird mir zugesprochen und geschenkt. Ich muss dieses Geschenk nur auspacken, im Glauben annehmen. Und das Beste: auch nachträglich kommt nichts dazu, keine Vertragsbestimmungen, kein Gesetz, kein Verhaltenskodex, nichts, was ich von außen aufgedrängt bekomme. Die Freiheit durch Christus ist kein Vertrag, den ich schließe und im Nachhinein bemerke, dass ich das Kleingedruckte nicht gelesen habe.

Das immer so zu sehen, ist schwer. Umso wichtiger ist es darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus, es von Gott selbst zu hören, sich mit anderen Gläubigen zu versammeln und auszutauschen – gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Nicht als Pflicht, sondern aus innerer Überzeugung, aus tiefem Betroffensein durch Jesus Christus, aus Glauben. Paulus wäscht auch uns den Kopf. Nicht, weil wir auf die konkrete Idee kommen, reihenweise den Umweg über die Beschneidung, über das Gesetz Israels  nehmen zu müssen. Luther ermahnt auch uns. Nicht, weil wir Ablassbriefe kaufen und uns den Platz im Himmel mit Taten verdienen möchten.

Aber Hand aufs Herz: auch bei uns gibt es Versuchungen, sich des  Heilsbesitzes durch die falschen Dinge zu vergewissern. Innerliche Checklisten, die abgearbeitet werden wollen. Was könnte das für uns sein?

Vielleicht die omnipräsenten Mahnungen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Das Versprechen, durch gesunde Ernährung und Sport ins Reine mit sich zu kommen. Meditation, Yoga, Wellness, Fitness… Alles an sich gute Dinge. Aber eines können sie nicht: Durch sie werden wir nicht frei. Vielleicht können wir uns mit ihnen kurzfristig und vorläufig besser fühlen. Aber sie schaffen es nicht, dass wir uns bedingungslos angenommen wissen. Das kann nur einer.

V. Schluss: zerreißt die Checkliste!

Wir Menschen verfallen von Zeit zu Zeit dem Drang nach Vergewisserung von außen. Dem Wunsch, den Glauben sichtbar zu machen. Etwas abhaken zu können. Durch Handeln vielleicht ein bisschen vor sich selbst und anderen den Eindruck zu erzeugen, dass man wirklich ein guter Christ, eine gute Christin ist. Wir errichten Strukturen, die Systeme und Ordnungen, die auch unser Glaubensleben sortieren sollen – ja, vielleicht erstellen wir To-Do-Listen des Glaubens. Checklisten der Glaubensgewissheit. Schön zum Abhaken.

Aber: wir brauchen diese Listen eigentlich nicht. Ja, ich wage zu sagen: sie stehen im Weg. Und sie schaffen schlicht nicht, was wir uns von ihnen erhoffen. Diese Listen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das schon getan ist. Aber: den Haken haben nicht wir gesetzt. Gott hat das ein für allemal abgehakt.

Daher, liebe Gemeinde: lassen Sie uns heute am Reformationstag diese inneren To-Do-Listen des Glaubens, die Checklisten der Glaubensgewissheit zerreißen. Ganz bewusst alles abstreifen, was uns vom Vertrauen abhält: Jesus Christus hat schon alles gemacht. Wir müssen da an nichts mehr denken! Wir sind befreit vom Zwang, etwas leisten zu müssen. Befreit vom Zwang, für unser Heil zu sorgen.

Lassen Sie uns mit Luther ganz bewusst auf den Grund dieser Freiheit schauen: Jesus Christus! Lassen sie uns gemeinsam das ganze Pathos dieses Reformationstags mitnehmen! Hören wir den evangelische Ruf des Paulus  und lassen uns von diesem Gefühl tragen! Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Niklas Schleicher: „Leicht ist es nicht, oder: Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand.“

(gehalten in der Bartholomäuskirche in Tamm im Dekanat Ludwigsburg)

„Freiheit, Wecker, Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. „Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“. So der Liedermacher Konstantin Wecker in seinem Lied Willy über einen Menschen, der sich gegen den Faschismus wehrt und von Nazis umgebracht wird. Freiheit. Was für ein großer Begriff. Und vielleicht ist Weckers Definition treffend. Vielleicht dachte Luther ähnlich. Luther, der heute vor mehr als 500 Jahren seine Thesen veröffentlichte und davor sicherlich die Briefe des Paulus gelesen hatte.

Im Galaterbrief lesen wir:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Man kennt die Geschichte von Luther irgendwie, aber man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen. Da ist eine Kirche, die ziemlich viele Bereiche des Lebens kontrolliert und vor allem: Die für sich in Anspruch nimmt, Vergebung der Sünden verkaufen zu können. Dafür schürt sie die Angst vor dem Fegefeuer. Luther hatte Angst, Angst davor, dass, egal was er tut, es nicht reicht. Er hatte vor Augen: Nach seinem Tod wartet auf ihn das Fegefeuer. Und dann sein Studium der Bibel. Und Stellen die sagen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und zwar auch zur Freiheit vor dem Gesetz. Ja, Freiheit heißt, keine Angst haben, vor nix und niemand.

So tritt Luther auf. Er legt sich mit der Kirche an. Mit Unterstützung von einflussreichen Freunden möchte er die katholische Kirche reformieren. Eine zeitlang steht sein Leben wirklich auf Messers Schneide. Ich weiß es nicht, ob er da noch Angst hatte, aber seine Freiheit kostete ihm sicherlich auch Sicherheit. Er schrieb große Schriften, von der Freiheit eines Christenmenschen ist sicherlich eine der Schönsten. Aber die Freiheit, die er so stark herausarbeitete, hatte sicherlich eine Kehrseite. Die Sicherheit einer Kirche, die zwischen ihm und Gott vermittelte, bricht weg.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Was bedeutet uns eigentlich heute: Freiheit? Wir sind mal ganz einfach formuliert, sehr frei. Corona hat uns gezeigt, wie frei wir eigentlich sind. Vieles empfinden wir, zurecht als Einschränkung, aber im großen und Ganzen leben wir frei. Wir können im Großen und Ganzen entscheiden, wen wir wählen. Wo wir wohnen. Was wir essen. Klar, für vieles braucht man das nötige Kleingeld. Aber es gibt ansonsten wenige äußere Instanzen, die uns hindern.

Ich denke, wir machen uns um unsere Freiheit wenig Gedanken. Oft, sehr oft geben wir die Entscheidung auch ab. Nicht alles, was wir tun, tun wir bewusst. Oft richten wir uns nach anderen oder nach Regeln. Diese Regeln helfen uns. Denn wenn man darüber nachdenkt: Wenn wir bei jeder Entscheidung auf uns gestellt sind, dann artet das in eine Überforderung aus.

Ich habe im August und September ein Praktikum in bei der Gefangenenseelsorge am Hohenasperg gemacht. Dort gibt es neben dem Klinikum ja auch die Sozialtherapeutische Anstalt. Eines fand ich bedrückend: Was ist, wenn einem die Freiheit selbst Angst macht? Menschen, die lange Jahre im Gefängnis waren finden sich draußen oft nicht zurück. Nicht, weil sie es nicht wollen oder weil sie sich nicht redlich bemühen. Es fehlt ihnen die Kontrolle und das Netzwerk, dass sie Gefängnis haben. Die Freiheit, die sie bekommen haben, bekommen sie auf Kosten von Sicherheit. Und dann tun sie draußen etwas, dass gegen ihre Auflagen verstößt und kommen zurück ins Gefängnis. Sie tauschen ihre Freiheit gegen die Sicherheit des Gewohnten.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Selbst Wecker wusste in seinem Lied: So einfach ist es halt nicht. Denn es geht in seinem Lied weiter: „aber san ma doch ehrlich, a bisserl a laus Gfühl habn ma doch damals scho ghabt“. Auch für Luther war es das nicht. Anfechtung. Immer wieder ringen mit Gott. Das hat ihn Zeit seines Lebens begleitet. Gott erschien ihm manchmal fern. Wenn er Leid sah. Und er hatte die Sicherheit aufgegeben, die die katholische Kirche geboten hat. Nämlich etwas tun können für das Seelenheil. Und jemanden zu haben, eine Autorität, die vermitteln können zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Weg ist für Luther versperrt.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Die Freiheit, die mit unserem evangelischem Christentum kommt, ist großartig. Niemand, weder ein Pfarrer, noch eine Theologin, weder ein Bischof, noch ein Ratsvorsitzender stehen zwischen dem Einzelnen, zwischen mir, zwischen dir und Gott. Das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung Luthers: Jeder von uns hat die Freiheit sich Gott so zu nähern, wie man es will. Alles können wir ihm anvertrauen. Denn: In Jesus Christus hat er unsere Schuld, dass was uns trennen kann, überwunden. Ganz simpel gesagt: Alles, was uns beschwert und belastet hat seine Ort vor Gott.

Doch andersherum gilt eben genauso: Es gibt keinen, der mir und dir abnehmen kann, dass wir als Einzelne vor Gott stehen. Wir dürfen mit unseren ganz eigenen Vorstellungen und Anliegen vor Gott kommen, aber: Wir müssen das eben auch. Niemand nimmt es uns ab. Dass wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, vergewissert uns: Wir gehören zu einer Kirche. Aber vor Gott kommen wir dennoch als Einzelne.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Jeder von uns ist einer freier Christenmensch. Einer, der vor nix und niemanden Angst haben muss. Einer, der nicht vertreten werden muss, der aber auch nicht vertreten werden kann. Evangelisches Christentum ist sicherlich manchmal anstrengen. Aber trotz allem lenkt es den Blick auf etwas, das Paulus schon vor 2000 Jahren verdeutlicht hat:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Freiheit. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber das hat ja auch keiner behauptet. Und bei allem und in allem gilt der Satz von Paulus:

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist

Über allem steht Gottes Liebe zu uns. Wenn das klar ist, dann muss man vielleicht wirklich keine Angst mehr haben. Auch nicht vor der Freiheit des Christenmenschen.

Amen

Julian Scharpf: „Von der Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird“

(gehalten in der Lutherkirche Fellbach)

Wie fühlt sich Freiheit an?

Vielleicht so: Das Absetzen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn wir die Kirche verlassen und im Freien sind.
Oder: Wie der erste Montag in der Altersteilzeit, wenn morgens der Wecker nicht mehr klingelt.
Oder: Wenn man einen Babysitter für die Kinder gefunden hat und einen Abend zu zweit vor sich hat.
Oder: Wenn man nach längerer Krankheit die Krücken nicht mehr braucht und wieder laufen kann.
Oder: Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, weil etwas besser gelaufen ist als gedacht.
Oder: Wenn man die innere Freiheit spürt, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird, sondern das, was einem das Gewissen sagt.
Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, dann gibt es einen Moment der inneren Freiheit eines Menschen, der herausragt.

Martin Luthers Freiheitsgeschichte

Worms, im Frühjahr 1521, vor 500 Jahren. Der ganze Saal im Wormser Bischofshof knistert vor Spannung. Fackeln bringen Licht in den Raum, er ist voller Menschen, es ist unfassbar heiß, Martin Luther schwitzt. Zwei Stunden hat er für den kurzen Weg in den Saal gebraucht, es gab Verzögerungen; Schaulustige belagern den Reichstag. Johann von Eck verhört Luther, er stellt ihm am Ende die alles entscheidende Frage: „Martin Luther, widerrufst du oder nicht?“ Seit drei Jahren hat dieser in einer einfachen Mönchskutte vor dem Reichstag stehende Mann das ganze Land in Aufruhr gebracht. Die 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die Schriften wie „von der Freiheit eines Christenmenschen“, die im ganzen Land durch den gerade aufkommenden Buchdruck vervielfältigt werden, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle aus Rom, der Kirchenbann über Luther – all diese aufsehenerregenden Momente waren dieser Eskalation vorausgegangen.  Was wird Luther tun? Die Anspannung ist zu spüren. Martin Luther wird das Wort zugesprochen.  Und:  Er widerruft nicht. Er antwortet:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!

Luther widerruft nicht. Er bietet dem Kaiser die Stirn, weil er der Bibel und seinem Gewissen verpflichtet ist. Da steht ein Mensch, der in der Gefahr ist, seine äußere Freiheit durch die Reichsacht zu verlieren – und strotzt gerade so vor innerer Freiheit. Und es kommt zu der nur scheinbar paradoxen Situation, dass sich Luther gerade, weil er sich „gefangen im Worte Gottes“ empfindet, so frei fühlt wie ein Mensch sich nur fühlen kann.

Dass Luther zu diesem freien Menschen wurde, war kein einfacher Weg. Als Mönch hatte er gespürt, wie unfrei, wie gefangen er damals war, weil er dachte, er müsse sich die Gnade Gottes durch Beten, Arbeiten und gute Werke erst verdienen. Luther war ein 150%er Mönch, tat alles, was aus seiner Sicht nötig war, um Gott gnädig zu stimmen. Bis er durch die genaue Lektüre der Schrift wiederentdeckt, dass die Gnade Gottes unserer Antwort im Glauben immer voraus geht. Er wird durch das Wort Gottes so gefangen genommen, dass er frei gegenüber der Welt wird. Weil er versteht, dass Christus uns Anteil an seiner Gerechtigkeit gibt und wir uns nicht selbst vor Gott rechtfertigen können oder müssen. Luther musste sich nicht mehr selbst erlösen, er war frei geworden.

Und diese Entwicklung wurde mit angestoßen durch die Verse eines Menschen, der in seinem alten Glauben und seinen Überzeugungen auch ein 150%er war: Paulus, der ehemalige Pharisäer, der zum Apostel wurde. Paulus und Luther sind sich in manchem sehr ähnlich. Religiöse Genies ohne große Lust an Kompromissen; Leidenschaftliche Gläubige; auch Menschen mit Fehlern, Problemen, diskussionswürdigen Ansichten. Keine Helden, aber Menschen, die durch das Wort Gottes zutiefst durchdrungen und bewegt waren.
Wir hören die Verse, die Luther inspirierten, aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus, Kapitel 5, Verse 1 bis 6:

Galater 5, 1 – 6

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zum Kontext

Liebe Gemeinde,

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien, weil diese in Unruhe sind. Neue Missionare sind dort angekommen und sind der Überzeugung, dass auch die Männer der christlichen Gemeinde sich beschneiden lassen sollten wie jüdische Männer. Paulus argumentiert leidenschaftlich dagegen, weil er befürchtet, dass die noch junge, christliche Gemeinde durch ihre Verunsicherung wieder Halt in den Traditionen und Gesetzen des Judentums sucht. Und weil Paulus damals ein 150% überzeugter Pharisäer war, gibt es da für ihn keine Kompromisse. Wer sich beschneiden lässt, gehört zum Volk Israel und nicht zu Christus. Das ist im Übrigen für Paulus keine Abwertung der Beschneidung, des Judentums oder der beschnittenen Männer, die Christen wurden. Ihm ist die Unterscheidung wichtig. Der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen gilt, ein für alle Mal und ewig. Das ist für Paulus klar. Wir als Christinnen und Christen sollten uns hüten, uns durch Verse des Apostels für etwas Besseres zu halten. Jesus ist als Jude geboren und gestorben.

Die Freiheit in Christus

Und der ehemalige Pharisäer Paulus erkennt im Glauben an Jesus Christus eine Freiheit, die Freiheit schlechthin:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Diese Freiheit besteht darin, dass Christus uns befreit. Nicht wir selbst befreien uns, Christus befreit uns.
Von unserer Unsicherheit, ob wir Gott gefallen.
Von unserer Unsicherheit, ob wir anderen Menschen gefallen.
Von unseren inneren Zwängen und bangen Fragen, ob Gott uns denn nun gnädig ist oder nicht.
Wir haben vorhin gesungen: Du bist der Blick, der uns ganz durchdringt.
Wir alle hier, die wir hier sitzen, werden liebevoll von Jesus Christus angeschaut, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wer sich geliebt weiß, der atmet freier. Alle Werke und alles Wirken von Paulus und Luther sind ein Fingerzeig auf Jesus Christus, der uns gnädig anschaut.

Im Glauben an Christus, im festen Vertrauen auf seine Liebe und Güte werden wir frei davon, uns selbst zu erlösen, zu rechtfertigen, zu befreien, auf unser Ansehen zu schielen. Diese Gnade ist ein Geschenk und nichts, das wir uns durch gute Werke verdienen müssen. Diese Erkenntnis gab Martin Luthers Leben eine 180 Grad Wende.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Ohne diese Überzeugung hätte Luther nicht auf dem Reichstag stehen können; wäre er nicht standhaft geblieben.

Freiheit heute

Weil Luther für seine Gewissensentscheidung Akzeptanz von den Herrschenden einforderte, liegt darin auch eine Keimzelle unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Die verschiedenen Dimensionen der Freiheit, individuelle, innere Freiheit, Religionsfreiheit, politische Freiheit – durchdringen sich gegenseitig. Man kann durchaus eine Linie vom Freiheitsdenken der Reformatoren über die Religionsfreiheit und die Aufklärung zu unserem heutigen allgemeinen Freiheitsverständnis ziehen. Diese Entwicklung ist geschichtlich auch von ungeheuren Rückschlägen gekennzeichnet.  Unser Grundgesetz in Deutschland heute ist das Ergebnis einer Lerngeschichte der Freiheit.

In den letzten anderthalb Jahren wurde viel um Freiheit und Sicherheit, Grundrecht und Gesundheitsschutz gerungen. Und alle Freiheitseinschränkungen, auch in den letzten anderthalb Jahren müssen sich natürlich vor unserer Verfassung rechtfertigen. Ich bin froh darüber, in einem Land zu leben, in dem diese Gewaltenteilung funktioniert – bei allen Schwierigkeiten, die eine noch nicht gekannte Pandemie-Situation mit sich bringt. Ich bin froh darüber, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung zu leben, gerade wenn ich in die Entwicklung manch anderer Länder blicke. Und wenn wir bei Paulus wie bei Luther hinschauen, sehen wir bei beiden eine große Wertschätzung für eine stabile staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol des Staates. Paulus und Luther waren auf je eigene Weisen freiheitliche Rebellen, aber um das auch klar zu sagen:  Diejenigen, die heute aus ihrer Unzufriedenheit heraus unsere Republik verächtlich machen und bekämpfen, können sich nicht auf die beiden als Kronzeugen berufen.  Dazu liegt beiden zu viel an einer stabilen und respektierten staatlichen Ordnung.

Freiheit und Verantwortung

Und Eines ist auch entscheidend am Freiheitsverständnis bei Paulus wie bei Luther: Freiheit geht bei beiden immer mit Verantwortung einher.

Paulus schreibt:

Denn in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, etwas.

Bei Jesus gelten nicht unsere Äußerlichkeiten, unsere Statussymbole etwas. Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nächstenliebe realisiert. Die Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird. Paulus wie Luther sind davon überzeugt, dass die Freiheit durch Christus nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas ist.

Luther will das so verstanden wissen: Durch das tiefe Vertrauen auf Jesus Christus haben wir die Freiheit, uns um Andere zu kümmern. Wir müssen nicht Nabelschau betreiben und immer unser Seelenheil bangen. Weil wir frei von dieser Sorge sind, können wir Andere in den Blick nehmen. Freiheit bedeutet biblisch und reformatorisch niemals Rücksichtslosigkeit. Freiheit bedeutet Verantwortung. Verantwortung für mich und meine Mitmenschen. Jede errungene Freiheit geht mit Verantwortung einher und das durchzieht alle Dimensionen der Freiheit. Meine Freiheit ist wertlos, wenn ich durch ihr Auskosten die Freiheit eines Anderen beschneide. Meine Freiheit ist wertvoll, wenn ich sie mit Anderen zusammen auskosten kann. Ich wünsche mir, uns allen, Ihnen viele Erfahrungen dieser gemeinsamen Freiheit.
Freiheit, die sich in gegenseitiger Rücksichtnahme realisiert. Freiheit, weil wir dann einmal gemeinsam die Pandemie überwunden haben werden.
Freiheit, weil es irgendwann auch mal wieder ohne Masken geht.
Freiheit im Ruhestand.
Freiheit, weil uns manche Steine vom Herzen fallen.
Freiheit, weil wir wissen, dass Christus uns liebt.
Denn:  Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Amen.

Rezension zu: Reinhard Feldmeier, „Gottes Geist“

Feldmeier, Reinhard: Gottes Geist. Die biblische Rede vom Geist im Kontext der antiken Welt (Tria Corda 13), Tübingen 2020.

Es gibt Bücher, die lesen sich in einem Zuge durch – das hier zu besprechende gehört dazu. Der Göttinger Neutestamentler Reinhard Feldmeier nimmt den Leser mit auf Streifzüge durch das Alte Testament, durch die antike pagane Philosophie, durch das antike Diasporajudentum und durch das Neue Testament – jedes Kapitel dieses insgesamt etwa 200seitigen Textes gleichermaßen material- wie kenntnisreich und dennoch auch ohne Bleistift und Exzerptheft in der Hand gut lesbar und verständlich. Ausgangspunkt von Feldmeiers Beobachtungen ist das Wachstum charismatisch-neupfingstlerischer Bewegungen im sogenannten globalen Süden, wobei er auf direkte persönliche Begegnungen verweisen kann (1–3; vgl. 6f). Das Büchlein ist also gewissermaßen der Versuch, Erlebtes theologisch einzuordnen und dabei grundsätzlich biblisch-theologisch zu arbeiten. In wünschenswerter Offenheit legt Feldmeier offen, dass er Tendenzen zur Verdinglichung des Geistbesitzes und zur Ausprägung von Machtstrukturen in neupfingstlerischen Gruppen für irritierend und problematisch hält, dass er aber zugleich eingestehen muss, „dass Menschen in diesen Gemeinden eine Lebendigkeit erleben, die sie bei den etablierten Kirchen vermissen“ (5), wobei gerade im globalen Süden durchaus Momente der Verselbständigung gegen eine noch immer mächtige koloniale Vergangenheit Teil der Erfolgsgeschichte dieser Gruppen sind.

Um diese Mischung aus Irritation und Anerkennung theologisch weiterführend zu bearbeiten, widmet sich Feldmeier zunächst (in, wie er zugibt, vgl. S. 33, Anm. 1, engem Anschluss an die entsprechenden Passagen der gemeinsam mit Hermann Spieckermann vorgelegten biblischen Gotteslehre „Der Gott der Lebendigen“, Tübingen 32020) den alttestamentlichen Vorstellungen (33–64) und ihrem Fortleben im palästinischen Judentum. Schon hier beobachtet Feldmeier, dass numinose Vorstellungen von einem latent unheimlichen raptus durch höhere Mächte zunehmend theologisch rückgebunden werden – mit der wichtigen Folge, dass der Geist „keine dem Kosmos und dem Menschen inhärente Gegebenheit“ (63), sondern die personifizierte Wirksamkeit des Gottes Israels in der Welt ist, die sich eigenmächtig einstellt, über die der Mensch zu keinem Zeitpunkt verfügt, sondern die vielmehr über ihn verfügt und ihn in seinem Verhältnis zu Gott und zu seiner geschöpflichen Umwelt neu bestimmt. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den hellenistisch-paganen Vorstellungen, auf die Feldmeier nun zu sprechen kommt (65–102). Er konzentriert sich dabei auf Stoa und Mittelplatonismus und konstatiert bei aller Anschlussfähigkeit der damit in den Blick genommenen Konzepte einen wichtigen Unterschied eben in der vom biblischen Zeugnis her zentralen Personalität des Geistes. Dieser Unterschied nötigte jüdische und christliche Protagonisten, „bei der Rezeption philosophischer Geistkonzepte zugleich die Eigenart des biblischen Geistbegriffs zur Geltung zu bringen.“ (102). Spielarten dieses pneumatologischen Weiterdenkens im Kontext des Gesprächs mit Stoa und Mittelplatonismus beschreibt Feldmeier im Kapitel über das Diasporajudentum (103–141). Im Vergleich mit dem zeitgenössischen palästinischen Judentum beobachtet er dabei eine wesentlich weniger eschatologisch geprägte Grundausrichtung: „Vielmehr verkörpert der Geist die Gegenwart des bleibend transzendenten Gottes in der Schöpfung überhaupt und im Menschen im Besonderen.“ (136). Auch ein sehr stark den Anschluss an die contemporäre Philosophie suchender Vertreter des hellenistischen Judentums wie Philo von Alexandrien konnte dabei auf die im Vergleich zu stoischen Vorstellungen stärker transzendenzoffenen Konzepte des Mittelplatonismus zurückgreifen (vgl. 137). Die folgenden neutestamentlichen Beobachtungen (143–194) gruppieren sich um das markinische, das paulinische, das lukanische und das johanneische Schrifttum. Dabei attestiert Feldmeier Markus eine besonders konsequente Aufnahme alttestamentlicher Vorstellungen im Zuge seiner pneumatisch konturierten Christologie (vgl. 147/8), während er bei Paulus vor allem „die Verwandlung der Christgläubigen von versklavten Geschöpfen zu Gottes Söhnen bzw. Kindern“ (148) als Beschreibung des Geistwirkens identifiziert. Wenn er die paulinische Ethik unter diesem Gesichtspunkt als eine Ethik der Liebe beschreibt (vgl. 160–164), deutet Feldmeier bereits mögliche Ansatzpunkte einer Skepsis gegen bestimmte Ausprägungen derjenigen Frömmigkeit an, die den Anstoß zu dieser Studie gegeben hatte. Im lukanischen Doppelwerk werden „die christologische, die soteriologische und die ekklesiologische Dimension … miteinander verwoben“ (167); Lukas ist in Feldmeiers Urteil „origineller Hermeneut und Denker, der die christologisch vermittelte Gegenwart Gottes im Geist zur Grundlage einer Geschichtstheologie macht“ (169) und dabei bereits deutliche trinitätstheologische Ansatzpunkte bietet (vgl. 180–182). Am stärksten personalisiert ist die Geistvorstellung bei Johannes, der besonderen Wert darauf legt, dass der Paraklet nicht in der gläubigen Existenz aufgeht, sondern ihr gleichermaßen ermächtigendes wie normierendes Gegenüber – und damit autonom – bleibt (vgl. 193). Der das Büchlein abschließende Epilog (167–201) bündelt die auf den Streifzügen gesammelten Erkenntnisse und lenkt sie selbstkritisch auf die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zurück. Deutlich wird dabei: Der Rekurs auf biblisch-theologische Geistkonzepte führt zu einer Infragestellung mit doppelter Zielrichtung. Neocharismatische und neupfingstlerische Gruppierungen müssen sich sagen lassen, „dass der Heilige Geist in der Bibel nicht Garant für seelische und körperliche Gesundheit, berufliches Fortkommen und wirtschaftliches Wohlergehen ist, sondern dass er für Gott und den Nächsten in Dienst nimmt“ (199) – die traditionelleren Ausprägungen des Christlichen hingegen müssen sich die Aufforderung gefallen lassen, viel stärker als bisher üblich Ekklesiologie, Ethik und Eschatologie pneumatologisch zusammenzudenken und dabei dem Rechnung zu tragen, „dass es bei der biblischen Botschaft nicht um Bestätigung des Bestehenden geht, sondern um schöpferische Verwandlung der Wirklichkeit durch die von Gottes Geist immer wieder neu bewegten, ja ‚getriebenen‘ Menschen.“ (200).

Dieses Büchlein ist ein Beweis dafür, was passiert, wenn (gerade!) protestantische Theologie und Kirche sich durch das rasante Wachstum charismatischer Formen von Christentum nicht zum Aktionismus oder gar zu unreflektierter epigonaler Übernahme scheinbarer Erfolgsrezepte verleiten lassen – sondern wenn sie sich zum intensiven theologischen Nachdenken anregen lassen, um sich so in der Scheidung der Geister zu üben, die schon Paulus seinen Korinthern ins Stammbuch geschrieben hat (1 Kor 12). Schon allein deshalb sollte es von möglichst vielen Verantwortlichen in Landeskirchen und Gemeinden, aber auch in Fakultäten und sonstigen Aus- und Fortbildungsstätten sorgfältig zur Kenntnis genommen werden.

Rauschenberg, Pfingstmontag 2021

Tobias Jammerthal

Tobias Jammerthal, Dr. theol. (Tübingen), MA in Theology and Religion (Durham/UK), ist Pfarrer und wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Bis 2018 war er der für „Klassiker und Rezensionen“ verantwortliche Redakteur dieser Seite.

Vom Fetisch der fleischlichen Begegnung

Ein Plädoyer für mehr Engagement von #digitaleKirche in der Verwaltung

von Michael Greder (@HerrVikarin)

Seid ihr schon einmal in ein Pfarramtsbüro hineingestolpert und habt bei einem verstohlenen Blick am vergilbten Kastenmonitor vorbei in der Ecke einen kleinen Arbeitsplatz erblickt, auf dem ein sperriges, graues Kästchen stand? Oder musstet ihr schon einmal Formulare für die kirchliche Verwaltung ausfüllen – z.B. die Anmeldung zur Konfirmation? Wer diesem Unterfangen bereits seine Lebenszeit widmen durfte, tat dies sehr wahrscheinlich unter seelischen Schmerzen. „Der Taufspruch des Paten! Für was genau wollen die das jetzt Wissen? Und wie zum Teufel soll meine E-Mailadresse in das zwei Millimeter kleine Kästchen passen?“

Weil man teilweise irgendwie doch nicht auf ein „modernes“ Verwaltungsangebot verzichten möchte, hat sich das Hase-Igel-Verfahren etabliert. Ein PDF kann heruntergeladen, mit dem Stift ausgefüllt, eingescannt und wieder zurückgemailt werden – das Original muss natürlich unterschrieben nur noch eingetütet, frankiert und zur Post gebracht werden.

Wer sich in Bayern für den Vorbereitungsdienst beworben hat, saß vermutlich examenskrank über einem lebenswegentscheidenden Papierbogen, hat mit aller Mühe spätnachts wichtige Entscheidungen eigetragen und sich auf den verdienten Feierabend gefreut. „Aber Moment! Wofür sind die anderen beiden Formulare? Die sehen ja identisch aus! Ich muss alles dreimal handschriftlich ausfüllen? Auch meine persönlichen Daten, die die Landeskirche schon seit Jahr und Tag von mir hat?“ Ja, das muss ich.

Die unleidliche Liste unattraktiver Verwaltungsakte – und deren Anbahnung – ließe sich unschwer fortsetzen. Das Murren und Knurren über Berührungspunkte mit der kirchlichen Verwaltung ist vermutlich so alt wie der Einzug des sprichwörtlichen Preußentums ins bayerische Kirchenwesen. Am Ende des Tages sind wir alle aber doch unendlich dankbar dafür, dass Menschen in der landeskirchlichen Verwaltung und im Pfarramt daran arbeiten, den Laden am Laufen zu halten. Diese meist unsichtbare Arbeit kann gar nicht hochgenug geschätzt werden. Man muss sich nicht gleich Max Webers Überlegungen zur Bürokratie unter das Kopfkissen legen, um einzusehen, dass eine ordentliche Verwaltung Signum landeskirchlicher Praxis ist, die letztlich viele Vorteile bietet. Dies gilt, obgleich die Verwaltung für die Allgemeinheit meist im Verborgenen stattfindet. Wenn die Verwaltung funktioniert, entschwindet sie dem Bewusstsein, sowie der Brief, der im Postkasten landet. Wenn aber ein Problem auftritt, brennt sich dieses umso fester ein. Das ist das Los der Administration.

Im Gegensatz zu Forderungen nach experimentierfreudiger und professioneller Kommunikation der Kirche im Netz, kommt das Thema der Verwaltung äußerst schnöde daher. Allein schon das begleitende Framing mit Worten wie Effizienz legt in kirchlichen Kreisen einen verruchten Mantel über den unbeliebten Komplex.

Ich habe mich in diesem Blog bereits zum Thema #digitaleKirche geäußert und bei meinen Überlegungen die Dimension der Verwaltung bisher ausgespart. Dies lag vor allem an meinem fehlenden Wissen um die pfarramtliche Verwaltungspraxis. Mein gesichertes Wissen ist in den letzten Monaten kaum anstiegen, allerdings konnte ich aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit und vieler Gespräche einige durchwachsene Eindrücke gewinnen. In mir hat sich die Überzeugung verfestigt, dass die #digitaleKirche das Problem an der Wurzel nicht tief genug anpackt. Die Geisteshaltung gegenüber der Digitalisierung wird zuvorderst in der Organisation und Ausstattung der Verwaltung offenbar – nicht in ihrem Umgang mit den Sozialen Medien.

Allzu häufig fordert die #digitaleKirche von Pfarrer:innen mindestens implizit ein Engagement, das dem physischen und psychischen Workload einige Schippen oben draufpackt. Wo soll da die Muße für einen Geisteswandel entstehen, der die digitale Welt als Raum von Möglichkeiten erschließt? Wo soll hier der Platz für das sein, was Pfarrer:innen als „das Eigentliche“ ihrer Arbeit beschreiben und zugeschrieben bekommen. Stattdessen werden sie mit immer weiteren Anforderungen und Erwartungshaltungen konfrontiert, die im Wochenplan einfach keinen Platz finden.

Dabei bietet gerade die #digitaleKirche das Potenzial, für eine effizientere Verwaltung einzutreten und damit Platz für das Eigentliche zu schaffen. An dieser Stelle kann digitalen Abstinenzler:innen die neue Welt in geeigneterer Weise schmackhaft gemacht werden als durch die immer wieder neueingekleideten Diskussionen um die Geist- und Heilswirkung von Telegottesdiensten und Fernsakramenten.

Im Zuge der zahlreichen Beiträge zur pastoralen Verfasstheit der Kirche während der Coronasituation mahnte der Systematiker Lukas Ohly mit Blick ins Netz eine Katholisierung der Glaubenspraxis an.

So gerne ich das von Ohly geschliffene Kantholz in den letzten Wochen im Privaten meinen Gesprächspartner*innen in die Speichen geworfen habe, ist diese Perspektive doch symptomatisch für einen zu engen Blickwinkel auf das unmittelbar Sichtbare. Es geht um Reichweite, Likes und Views, einen zeitlichen Return on Investment und vor allem um die Frage, wie viel von der reformatorischen Lehre dem Fortschritt anheimfällt.

Nicht unbedingt bei Ohly, aber bei vielen anderen Gelegenheiten hat sich im kirchlichen Diskursraum ein Fetisch der fleischlichen Begegnung herausgebildet. Körperliche Nähe wird gleichgesetzt mit Unmittelbarkeit, Authentizität und emotionaler Nähe. Alles Handeln muss sich daran messen wie „nah am Menschen“ Kirche ist – wobei „nah“ hier sehr eng gefasst wird. Die fleischliche Begegnung gilt als Archetyp der kirchlichen Kommunikation und umso weiter (durchaus im geografischen Sinne) sich die Pfarrperson entfernt, desto weniger Qualität wird einer Beziehung beigemessen. Technisch vermittelte Kommunikation kann zur völligen Entfremdung des Menschen gereichen. Handlungen, die sich nicht in vermeintlich unmittelbaren, fleischlichen Begegnung, vollziehen lassen, gelten als unvollständig oder Notlösungen. Man könnte meinen, die fleischliche Begegnung sei alleine sich selbst genüge.

Berüchtigte Zitate von Kirchenvertreter:innen aus den letzten Jahren, die den Geist dieses Fetisch der fleischlichen Begegnung atmeten, riefen jeweils erwartbar heftige Reaktionen der #digitalenKirche hervor. Das digitale Wir wartet nur auf die nächste Gelegenheit, „denen da oben“ wieder Bescheid geben zu können. Das gehört zur Identität von #digitaleKirche, wie das Confiteor zum lutherischen Gottesdienst. Die in diesem Ritus gefeierte Kritik ist verständlich. Greift doch der Fetisch der fleischlichen Begegnung die eigene religiöse Identität an.

Meist haben diese Auseinandersetzungen vermutlich nur zum Ergebnis, dass sich jeder seiner Sache ideologisch noch sicherer ist. Dies ist umso mehr der Fall, wenn die Debatten rein theoretischer Natur sind und die Konsequenzen für die kirchliche Praxis kaum Beachtung finden. Dabei zeitigt die Skepsis am Fortschritt und die ideologisierende Kritik an dieser Skepsis durchaus handfeste Probleme. Der Fetisch der fleischlichen Begegnung führt zum vergilbten Röhrenmonitor im Pfarramt. Die überschwängliche Einverleibung alles Neuen überrollt praktische Notwendigkeiten.

Es ist meiner Meinung nach an der Zeit, konstruktiver mit der Institution und ihren Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Die Bürokratie als ein Arbeitsfeld der Kirchen scheint mir aus den genannten Gründen ein geeigneter Ausgangspunkt dafür zu sein.

Jeder Verwaltungsakt für sich genommen stellt aus Sicht der Antragstellerin letztlich keine große Herausforderung dar. Es muss nun mal gemacht werden, was gemacht werden muss. Die Pfarrämter stehen allerdings inmitten der Gesamtheit der Verwaltungstätigkeiten. Zwischen Erwartungen der Gemeindemitglieder, Regelungen des Dekanats und Ansprüchen der Landeskirche.

Der Fetisch der fleischlichen Begegnung verführt zu falschen Prioritäten, ebenso wie der Drang einer Digitalisierung der Kirche, das Digitale nachgerade als Selbstzweck erscheinen lässt. Das Eigentliche fällt in beiden hinten runter oder geht im Rauschen des organisierenden Geschäfts unter. Das sperrige graue Kästchen – die Schreibmaschine im Pfarramt, deren Farbband noch nicht ausgetrocknet ist, steht mahnend im Raum: War sie einst ein Indiz für den Fortschritt, der mit einem Effizienzversprechen Einzug gehalten hat, steht sie nun als Objekt gewordener Anachronismus dem Eigentlichen im Weg wie es einst die Feder im Tintenfass tat. Den Verkündigungsauftrag ernst zu nehmen, bedeutet nicht nur, auf dem Pfad des Bekenntnisses zu wandeln. Den Verkündigungsauftrag nimmt man vor allem dadurch ernst, dass ihm Zeit eingeräumt wird. Ein kleiner Baustein dabei ist, Taufurkunden nicht mehr an der Schreibmaschine ausfüllen zu müssen.  Eine moderne, effiziente Verwaltung auf allen Ebenen ist dazu ein wichtiger, wenngleich auch nicht so sichtbarer Schritt. Die damit einhergehenden Entlastungen schaffen neuen Raum fürs Eigentliche, wobei die Frage nach online oder doch fleischlich dann sekundär wird.

[Titelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2010-07-27_IBM_Selectric_Kugelkopfschreibmaschine.JPG, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported)

Rezension zu: Erik Flügge, „Nicht heulen, sondern handeln“

Erik Flügge: Nicht heulen, sondern handeln. Thesen für einen mutigen Protestantismus der Zukunft, Kösel-Verlag, München 2019, 90 Seiten, 12,00 Euro.

Diese Rezension erschien zuerst im Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin: MdEZW 83/2 (2020), S. 154–158.

Mit seinem ersten Buch erklomm er die Spiegel-Bestseller-Liste („Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“, 2016), bald folgte eine zweite, ebenfalls viel gelesene Kirchenreformschrift („Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“, 2018, gemeinsam mit David Holte). Im letzten Jahr hat sich der Politikberater und freie Autor Erik Flügge dann ausdrücklich die evangelische Kirche vorgenommen, mit einem schmissigen Plädoyer für einen protestantischen Neuaufbruch. Er findet damit erneut gehörige Resonanz.

Man wird von einem Text dieser Gattung und Kürze keine sorgfältigen Analysen und abgewogenen Urteile erwarten. Hier wird nicht differenziert argumentiert, sondern provokativ zugespitzt. Dabei werden subjektive Beobachtungen, Empfindungen und Ideen im Schwung der Rede zu Behauptungen mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Aber der Duktus apodiktischer Selbstgewissheit ist nicht so sehr Ausdruck von Selbstgefälligkeit als Mittel rhetorischer Verschärfung. Flügge weiß, dass seine Rede Leserinnen und Leser in Teilen „wütend machen“ (15) wird, und er will sie wütend machen.

Dagegen ist wenig einzuwenden. Entscheidend ist, ob es sich um eine produktive Provokation handelt. Warum sollte man sich nicht einmal von den Eindrücken und Einfällen eines jüngeren Zeitgenossen herausfordern lassen, wenn es der Zukunft des Protestantismus dient? Dass Flügge selbst ein „liberaler Katholik“ ist, den ein Faible für das Protestantische zum Schreiben treibt, tut hierin nichts zur Sache. Was also hat er zu sagen, nach Abzug aller dem rhetorischen Effekt geschuldeten Einseitigkeiten, Pauschalisierungen und Überspitzungen?

Der Basissatz seines Thesenbuches lautet, nicht ganz überraschend: Es steht schlecht um den Protestantismus. Diejenige christliche Konfession, die die moderne Welt geprägt hat wie keine andere, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. In den Kirchen herrscht gähnende Leere. Das Alter der wenigen Gottesdienstbesucher ist so hoch wie die atmosphärische Tristesse tief. So versinken die Kirchenleute „in ständiger Trauer über den langsamen Niedergang“ (16). In archivarischer Traditionsfixierung versäumen sie es, endlich nach vorne zu schauen und das Alte „zugunsten des schöpferisch Neuen“ (20) entschieden hinter sich zu lassen. „Wie erhebend wäre jener Moment, in dem sich ein Protestant loslöste von der Vergangenheit und eine Wand einschlüge. Die Wand einer Kirche, damit die Welt von draußen hineinbricht. Damit das geschäftige Treiben auf unseren Einkaufsstraßen in die Kirche hineinbrandet. Damit die Flut der Nachrichten rund um die Welt das Innerste des Kirchenraums durchflutet.“ (20)

Flügges Grunddiagnose ist eine rhetorisch dramatisierte Reformulierung des kirchensoziologischen common sense. Sie ist nicht falsch. Aber dann seine Lösungsparole: die Wand der Kirche einschlagen, damit die Welt hineinbricht, hineinbrandet, hineinflutet. Das Bild scheint direkt dem Programm eines politischen Nachtgebets von 1974 entnommen und gehört zu den abgegriffensten Reformmetaphern der letzten Jahrzehnte.

Es folgen Konkretisierungen. Dabei wird man bald mit einer radikalen These konfrontiert. Flügge ruft den protestantischen Leserinnen und Lesern zu: „Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.“ (30) Seiner Ansicht nach lässt sich dem evangelischen Gottesdienst auch nicht durch irgendwelche Umformatierungen neues Leben einhauchen. Warum nicht? Weil die Kanzelrede obsolet geworden ist. „Warum sollte man einer protestantischen Predigt […] lauschen? – Man erfährt ja nichts Neues, sondern nur mittellauwarm Aufgewärmtes.“ (26f)

Nun ist die Klage über irrelevante Predigten ihrerseits so alt wie die protestantische Predigt selbst. Aber die Begründung der Irrelevanzbehauptung lässt aufhorchen. Gottesdienst und Predigt, so Flügge, sind just durch den Siegeszug des Protestantismus selbst obsolet geworden. Denn kraft der reformatorischen Idee vom Priestertum aller Gläubigen wurden die Menschen zu einer Gottesbeziehung befreit, die keiner priesterlichen Vermittlung mehr bedarf ­– Protestanten können auch im stillen Kämmerlein und in der freien Natur gottinnig sein. Und sie wurden befreit zu einer Mündigkeit, die keine pastorale Belehrung von der Kanzel mehr braucht ­– der protestantische Mensch kann selbst in der Bibel lesen und kann sich seinen eigenen Reim auf Gott und die Welt machen.

Der Erfolg des Protestantismus also hat Gottesdienst und Predigt überflüssig gemacht. Darum spricht Flügge seinen Leserinnen und Lesern tröstend zu, „dass das Ende des Gottesdienstes Sie nicht erschrecken muss, sondern erfreuen könnte“ (34). Es ist dementsprechend endlich die „Möglichkeit eines Protestantismus ohne Gottesdienst“ (31) mutig ins Auge zu fassen und wohlgemut zu bejahen, um sich der beschriebenen Dauerfrustration zu entledigen. Freilich rechnet der Thesenautor mit heftigem Widerstand gegen diese Option. Denn seiner Erfahrung nach wird die Überzeugung vom Gottesdienst als „Mittelpunkt einer Kirche“ (31) von der protestantischen Funktionselite als unantastbares Dogma ins Feld geführt, auch wenn sie durch das Fernbleiben von 97% der Kirchenmitglieder Sonntag für Sonntag als Zeichen einer binnenkirchlichen „Verweigerung der Realität“ (31) entlarvt wird.

Die „Realität“ auf seiner Seite zu wissen, ist immer gut. Und tatsächlich ist die Wirklichkeit der Zahlen ja kein schwaches Argument. Der Gedanke, das Ausbleiben der allermeisten sei ein Beweis für die Verzichtbarkeit des Gottesdienstes, ist nachvollziehbar. Man sollte ihn auch nicht reflexhaft mit der Berufung auf Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses erledigen. Aber sicher genügen die Überzahl der Fernbleibenden und die Ideen Gottunmittelbarkeit und Mündigkeit nicht als Argumente für die Abschaffung. In welchem Verhältnis steht der beträchtliche kirchliche Ressourcenaufwand zu der Erbauung, die der Gottesdienst nicht wenigen Menschen immer noch zu bieten scheint? Welchen Beitrag leisten dazu neben der Predigt die Musik, das gemeinsames Singen und Beten? In welchem Verhältnis steht der Wert des Gottesdienstes für die Anwesenden zu der Relevanz für die Abwesenden, welche Religionssoziologen mit dem Begriff der „stellvertretenden Religion“ (Grace Davie) geltend machen? Lässt sich überhaupt eine Religionsgemeinschaft ohne ein symbolisches Zentrum in einem institutionalisierten Ritus denken? Eine Erwägung dieser komplexen Fragen darf man in dem Provokationsbuch nicht suchen. Aber sie wird von ihm immerhin – provoziert.

Auch im Weiteren überdeckt der Hang zur Radikalität fast die bedenkenswerten Impulse. Denn Flügges Vision eines Protestantismus ohne Gottesdienst ist zwar überspitzt, aber nicht in jeder Hinsicht abwegig. Sie nimmt die alte kulturprotestantische Idee einer Religiosität im Gewand der Kunstandacht auf. „Haben Sie schon einmal auf einem Kirchenkonzert in einer protestantischen Kirche nur die Gesichter beobachtet? Eine stille Zufriedenheit in jedem Menschen, der da ist. Viele Augen geschlossen und ganz konzentriert auf den Moment. Es sind diese Augenblicke, für die ich diese Konfession liebe.“ (37) Wie andere vor und neben ihm macht Flügge darauf aufmerksam, dass es in der Moderne auch eine christliche Religiosität oder „Spiritualität“ jenseits kirchlicher Formen gibt, die als ernstzunehmende Gestalt von Christentum zu würdigen und von der Kirche zu fördern ist. Da der Sinn für die ästhetischen Spielarten des Religiösen durchaus nicht überall anzutreffen ist, kann man diesen neuerlichen Hinweis umstandslos begrüßen. Gleichwohl sind auch hier Rückfragen angebracht: Ist das Besucherpotential bei Kirchenkonzerten wirklich so viel größer als bei Gottesdiensten? Sind nicht die bürgerlichen Bildungsvoraussetzungen eher noch höher als niedriger? Wie oft passiert es außerdem im Konzert, dass sich die kontemplative Innerlichkeit gar nicht einstellen will, weil einem die Tonkunst äußerlich bleibt?

Nach dem Gottesdienst widmet sich der Autor zwei weiteren Identitätsmerkmalen des Protestantismus: dem Rekurs auf die Bibel und auf den Reformator. Wieder legt er den Finger in offene Wunden und fordert damit legitimerweise zur Auseinandersetzung heraus. Seit Antike und Reformation hat sich der Abstand zwischen den biblischen Texten und der Welt der Gegenwart massiv vergrößert. Auch das ist keine neue Einsicht, aber Flügge bringt ein daraus resultierendes Grundproblem gut auf den Punkt. Der konstitutive Schriftbezug macht die protestantische Frömmigkeit umwegig und daher schwergängig: „Weil sich der erklärende Text“, der den Abstand zu überbrücken hat, „immer mehr in die Länge ziehen muss.“ (47) Dazu kommt die distanzierende Wirkung des historischen Bewusstseins, das sich von der Bibel nicht fernhalten lässt. Um ihrem „Relevanzverlust“ (48) entgegenzutreten, fordert Flügge: „Schreiben Sie die Bibel endlich fort.“ (48) Weil dem Protestantismus aber die Aktualisierung im katholischen Modus lehramtlicher Auslegung nicht zu Gebote steht, kann er nur auf die Fortschreibung durch einen neuen Propheten oder eine neue Prophetin hoffen. Sonst droht ihm die Vergreisung.

Luther war einst ein solcher Prophet. Aber: „Luther ist tot.“ (51) Seine Aktualisierung der Schrift hat sich überlebt, weil der geistige Abstand der Gegenwart auch zur Reformationszeit immer größer wird. „Mit jedem Tag, der vergeht, verliert Luther an Aktualität. Egal, wie sehr man die Aktualität Luthers auch als Kirche immer neu beschwört.“ (52) Natürlich ist das wieder provokativ formuliert. Ob sich aber Theologie und Kirche zu oft damit begnügen, lutherische Schlüsselgedanken zu reformulieren und zu erklären, wird man immerhin fragen dürfen. Auch hier trifft es zu: Der dominierende Reformationsbezug macht die protestantische Frömmigkeit schwergängig, weil er immer längere Erläuterungen erfordert.

Sollte sich aber ausgerechnet die Hoffnung auf eine neue Prophetin als Ausweg aus der Vergreisungsgefahr und aus der „Ecken- und Kantenlosigkeit“ (66) der modernen Synoden- und Funktionärskirche empfehlen? Könnte ein solcher Prophet die „innere Ausgebranntheit der gesamten Kirche“ (26) und den von Flügge dafür maßgeblich verantwortlich gemachten Zweifel an der leiblichen Auferstehung überwinden? Und kommt wirklich die vorgeschlagene Direktwahl von Reformimpulsgebern „auf Zeit“ durch alle protestantischen Christen weltweit als ein Mittel zur Prophetenfindung infrage? Flügge ahnt selbst, dass er mit diesen Vorschlägen ins Abwegige gerät. Aber man kann aus ihnen den Appell an die „frei denkenden Menschen“ (74) in Theologie und Kirche ableiten, ohne traditionalistisches Korsett (wohl aber mit Traditionsbewusstsein) nach gegenwartsplausiblen Gestalten von Christentum zu suchen. Dass sie sich dann auch breitenwirksam durchsetzen, steht nicht in der Macht institutioneller Organisation.

Blickt man auf die Lektüre zurück, bleibt das Gesamtbild zwiespältig. Flügges Pathos radikaler Infragestellung ist anstrengend, und es wirkt in seiner Überspanntheit zugleich sehr medienmarktförmig. Aber obgleich die Lösungen zu kurz greifen, enthält das Büchlein doch einige produktive Denkanstöße. Es ist ihm daher trotz allem zu wünschen, dass es noch einige Leserinnen und Leser findet. Bald wird es wieder vergessen sein. Eine Provokation, die Reformen oder gar Reformationen hervorrufen will, braucht mehr Substanz.

Martin Fritz

Unsere Eindrücke vom #bckirche Süd

Koordiniert und zusammengestellt von @andy_h_krumm(Felix Weise).
Mit Beiträgen von: @leiseleben, @FunforTimo, @mein_kla4 und @megadakka

Felix (@andy_h_krumm): Zuerst einmal: Was ist eigentlich ein barcamp?

Wer das schon weiß, kann diesen Abschnitt ja einfach mal überspringen. Ein barcamp ist eine Art Konferenz, die maßgeblich von den Teilnehmenden mitbestimmt wird. In diesem Fall hatten die Landeskirchen in Baden, Bayern und Würrttemberg eingeladen und weder Kosten und Mühen gescheut, um eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Die Anmeldung war kostenfrei, nur um eine Übernachtung musste man sich selbst kümmern. Daneben wurde man hervorragend verpflegt. Kaffee und Brezeln, Bier, Saft, Limonade rund um die Uhr, sowie Mahlzeiten. Und die Räume! Das ganze fand nämlich im wizemann space statt. An der Kleinschreibung erkennt man schon: ein ganz schön hipper Ort. Aber in dem Fall: irgendwie auch ein Ort mit einer tollen Atmosphäre. In diesem Rahmen war es allen Teilnehmenden freigestellt, über das Wochenende irgendwas um die 100 Leute (keine Gewähr für die Zahlen), sessions anzubieten. Eine session kann ganz unterschiedlich sein: Ein vorbereiteter Vortrag, die Vorstellung einer App oder eines Instagram-Konzepts oder einfach das Angebot in einer kleinen Runde eine bestimmte Fragestellung zu diskutieren. Am Anfang des barcamps wird gesammelt, wer welche session anbieten möchte, erhoben, wie viele Leute noch an so einer session interessiert sind und dann ein  Zeitplan erstellt, wann wo welche session stattfindet.

Dann ging es also los. Die Auswahl an Veranstaltungen war fast größer als das Vorlesungsverzeichnis einer guten theologischen Fakultät. Es gab unglaublich viele versierte Menschen, die etwas zum Thema Kirche und Internet zu sagen hatten. Ein paar Blitzlicher findet ihr hier.

Alina (@leiseleben): Hatespeech macht uns nicht mehr sprachlos!

Schätzungsweise 30 Teilnehmende tauschen sich in der Session „Hatespeech macht mich sprachlos“ über Hasskommentare aus. Meist handelt es sich bei Hatespeech um sexistische, rassistische oder antisemitische Nachrichten oder Aufrufe zur Gewalt. Diese richten sich oft gegen einzelne Menschen oder Menschengruppen. In der Session, die von @CBoruttau initiiert und durchgeführt worden ist, wird der Umgang mit Hasskommentaren thematisiert.

Viele Teilnehmende haben die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass das Melden von Hasskommentaren bei Social Media Plattformen meist folgenlos bleibt. Auf der Suche nach Reaktionsmöglichkeiten kamen die Teilnehmenden zu folgenden Ergebnissen:

Ein Weg, gegen massive Hatespeech vorzugehen, ist eine Anzeige bei der Polizei. Hatespeech kann ein Straftatbestand sein (Volksverhetzung § 130 StGB, Bedrohung § 241 StGB oder Öffentliche Aufforderung zu Straftaten, § 111 StGB) und Hater*innen können juristisch belangt werden. @ChBreit rät, am besten Screenshots von den Hasskommentaren zu machen, da diese vor Gericht als Beweismittel verwendet werden können.

Die meisten Teilnehmenden befürworten die Faustregel „Don’t feed the troll!“. Sinngemäß bedeutet das: Diskutiere nicht mit Trollen*. Es kostet Kraft, mit Trollen* und Hater*innen zu diskutieren und: Es ist sinnlos, da die Personen hinter den Hasskommentaren meist ohnehin kein Interesse an konstruktivem Austausch haben. @pfarr_mensch empfiehlt, auf einen Hasskommentar zum Beispiel mit Bildern von süßen Kätzchen zu antworten. Alternativ ginge auch das Jesus-liebt-Hater-GIF.

Ein außergewöhnlicher Tipp kommt von @ChBreit. Wenn man bestimmte Schriftzeichen schreibt, „verlängert“ sich der eigene Kommentar so, dass er die darunter stehende Nachricht überlagert und man jene nicht mehr lesen kann. So könne man Hasskommentare gewissermaßen durch Überschreiben unsichtbar machen.

Insgesamt war die Session für mich sehr lehrreich. Ich habe praktische Tipps mitgenommen – und den Vorsatz, auf Hasskommentare in Zukunft entsprechend zu reagieren.

Felix (@andy_h_krumm): Apps und Nerds

Gleich mehrere sessions gab es zu Apps, die für den Kirchenkontext entwickelt werden oder wurden. Die Stadtjugend in Ludwigshafen arbeitet gerade z.B. an einer App, über die die Jugendarbeit organisiert werden soll. Die App bündelt Terminkalender der Ludwigshafener Jugend, bietet einen eigenen Messenger und beinhaltet ein Spielearchiv. Die Gestaltung ist recht konservativ, dafür so konzipiert, dass sie von anderen Jugendwerken mit wenig großem Aufwand übernommen werden könnte. Aber, und die Frage stellte sich wohl bei jeder von der Kirche entwickelten Platform, wer nutzt das? Ist es realistisch, dass Konfis sich auf einen Messenger, der weit hinter WhatsApp zurücksteht, einlassen und hierüber Kommunikation untereinander und mit dem Jugendwerk entsteht? Im Fall der Evangelischen Jugend Ludwigshafen, so Stadtjugendpfarrerin Florentine Zimmermann (Instagram: @blueten_segen), kam der Wunsch nach Kommunikation und Terminplanung über eine eigene App von den Jugendmitarbeitenden. Und bei der Anzahl der Apps, die man installiert und später wieder löscht, ist zumindest die Hürde, eine EJL-App zu installieren, wohl eher gering. Es fragt sich nur, wie lange sie auf dem Handy bleibt. Im Verlauf des Gesprächs wurde neben der Rückfrage zum Umgang mit Pushnachrichten (werden sie weggelassen, um als Kirche nicht Suchtfaktoren zu unterstützen?), auch nachgefragt, inwiefern ein Nebeneinander von recht ähnlichen Angeboten nicht ressourcenraubend ist. Könnte nicht eine viel stärker aufgestellte App entwickelt werden, wenn sich Projekte wie die EJL-App, communi und KonApp zusammen tun.

Die Apps unterscheiden sich alle ein wenig in ihrem genauen Anwendungsfeld und auch im Funkionsumfang, dennoch bleibt die Frage, warum nicht mehr Kooperation und Bündelung der Kräfte möglich ist. Fallen wir Protestant*innen in der digitalen Welt unserer Freiheitsliebe und dem evangelischen Pluralismus zum Opfer?

Die Frage ist vermutlich noch grundsätzlicher zu stellen. Momentan versuchen viele Projekte noch, an vielen Punkten erfolgreiche Apps zu kopieren und eine kirchliche, sichere Version anzubieten. Die Budgets sind, wenn vorhanden, nicht besonders hoch, das Problem liegt aber eben viel grundlegender: Dort wo die Kirche versucht nachzumachen, was es schon gibt, kann sie meines Erachtens nur verlieren. Darum stechen für mich Projekte wie cantico (keine Ahnung wie erfolgreich die App ist) positiv heraus, weil hier kreativ eine eigene Idee entwickelt wurde. Cantico bietet ein Liederverzeichnis mit Audiodateien zu verschiedensten Gesangbüchern, so dass man auch als wenig musikalisch-praktischer veranlagter Mensch Handwerkszeug hat, um neue Lieder mit Hörproben schnell zu erlernen. Hier wurde nicht einfach eine App mit sehr viel niedrigeren Mitteln als die Großkonzerne zur Verfügung haben, versucht nachzumachen. Mehr Zusammenarbeit, mehr Innovation, und: Krass, wieviel es auch schon gibt, das waren die Eindrücke die vom Barcamp in Bezugs auf Kirchen-Apps mitnahm.

Ein Beispiel, wie man vorhandene Ressourcen im digitalen Bereich für die Kirche nutzbar machen kann bot Steffen Banhardt. Er stellte ein Skript im Textsatzprogramm LaTeX vor, mit der er quasi alle liturgischen Anlässe bestreitet. Seine Skript war für LaTeX-Anfänger wie mich: eine kleine Offenbarung. Es beinhaltete Funktionen wie das automatische Einsetzen von Wochenspruch und Predigttext oder das Einbinden von Liedern in die Gottesdienstvorlage über eine riesige Liederdatenbank. Ade, stundenlanges Formatieren von Liedblättern, weil man das Lied nicht richtig eingebunden bekommt, oder die Überschrift des Gottesdienstabschnitts einfach nicht über den Zeilenumbruch hinaus springen will. Das macht alles LaTeX. Mit Steffens Skript ist jeder Gottesdienstablauf eine Augenweide und er meinte, dass man nach einer etwas zeitintensiveren Einarbeitung, diese Zeit gut wieder reinholt. Diese LaTeX-Lösung ist vermutlich trotzdem ein Bereich der digitalen Kirche, der nur für wenige Menschen fruchtbar sein wird. Trotzdem hat es mir gezeigt, dass Kirche gerade im Bereich von Open-Source-Projekten, wo selbst mitentwickelt werden kann, großes Potential hat. Ein Teilnehmer formulierte: Die Kirche muss endlich aufhören, alles selbst machen zu wollen. Warum investiert sich nicht viel Geld in Open-Source-Projekte, die für die kirchliche Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Hier könnte wirklich Innovation entstehen und die Kirche als ressourcenreicher Player ein wichtiger Akteur werden. Die Partizipativität und Transparenz von Open-Source-Projekten ist darüberhinaus im höchsten Maße anschlussfähig für die Kirche und die christliche Botschaft. Priestertum aller Getauften. Programmierertum aller User.

Timo (@FunforTimo): Pfarrer*innen auf Instagram

Die letzte Session des BC 2019 in Stuttgart behandelte die Frage was Pfarrer*innen in sozialen Netzwerken machen. Die Instagram-Influencer Jörg Niesner (@wasistdermensch) und Nicolai Opifanti (@pfarrerausplastik) stellten ihre Arbeit vor.

Opifanti verwies auf die milieuspezifische Nutzung der sozialen Netzwerke. Name und Gestaltung des Accounts habe Einfluss darauf, wer sich für einen Account interessiert.

Mit dem Account pfarrerausplastik präsentiert und kokettiert er mit seinem Pfarrberuf. Dabei achte er jedoch darauf, sich in natürlichen Alltagssituationen zu präsentieren. Denn so wird er als lebenszugewandter Experte in Sachen Glaubensfragen verstanden. Die Nutzer*innen wenden sich mit ihren Fragen zu Glaubensthemen deshalb an ihn.

Mit der Thematisierung von Social-Media-Pfarrer*innen im kirchlichen Raum besuchen aber zunehmend klassische Kirchenmenschen den Account. Dadurch verändert sich der Charakter der Unterhaltungen, denn die gestellten Fragen werden zunehmend in Kirchensprech gestellt. Das kann nichtkirchlich sozialisierte Menschen abschrecken. Für Opifanti bleibt es jedoch gerade das Ziel über den digitalen Raum mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die sonst keinen Zugang zu Kirche finden.

Niesner versteht seinen Account als digitales Pfarrhaus. D.h. dass er auf der Plattform einen Ort bereitstellen möchte, an dem Menschen Fragen zu ihrem Glauben stellen können. Zudem gibt er persönliche Einblicke in seinen Alltag. Die Einblicke sind also persönlich, haben aber nicht den Anspruch, das private Leben gläsern darzustellen. Vielmehr bilden sie einen ausgewählten Ausschnitt ab. Das Amt an sich weckt laut Niesner nicht das Interesse der Besucher*innen. Vielmehr entsteht Neugierde durch die dargestellte und gelebte Verbindung von Person und Amt. Vielleicht ist es die Pragmatik und Anwendbarkeit des Glaubens die für die Nutzer*innen entscheidend ist?

Seelsorgeangebote finden über die Plattform nicht statt, aber nicht weil kein Bedarf wäre, sondern weil im Gegenteil die Anfragen dafür einfach zu zahlreich sind. Allerdings verweist Niesner immer wieder auf die Plattform Tellonym. Hier gibt es die Möglichkeit Fragen zu stellen, die, sobald diese beantwortet werden, für alle öffentlich einsehbar sind. Damit entsteht online ein Ort, an dem lebenspraktische Glaubensfragen eine Antwort finden können.

Zudem stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und ablehnenden Kommentaren im Netz: Die beiden Influencer beobachten, dass sie mit deutlich weniger Ablehnung im Netz zu kämpfen haben, als ihre weiblichen Influencerkolleginnen. Als Ursachen wurde zum einen die unterschiedlichen Themensetzung genannt. Zum anderen scheint es leider noch immer so zu sein, dass Frauen im Pfarramt polarisieren und teilweise abgelehnt werden.

Abschließend wurde deutlich, dass auch die kirchlichen Strukturen für die Herausforderungen im digitalen Raum weiterentwickelt werden müssen. Denn viele Fragen die die Arbeit der Pfarrer*innen online betroffen sind noch zu klären: Wieviel Zeit steht im Arbeitsalltag für Onlineangebote zur Verfügung? Soll es so etwas wie Onlinepfarrer*innen geben? Müssen die Betreiber*Innen von kirchlichen Kanälen ordiniert sein?

Jacob (@mein_kla4): Jesus treffen auf dem Barcamp

Zu meinen persönlichen Highlights auf dem Barcamp Kirche Online gehörte der Gottesdienst im jesustreff am Sonntagmorgen. Der jesustreff ist eine Gemeinde in Stuttgart, die zur Evangelischen Landeskirche gehört. Die Gottesdienste finden in einer Konzerthalle statt, mit entsprechender Licht- und Tontechnik. Das macht schon erst mal ordentlich Eindruck, wenn man reinkommt. Aber die Leute, die da sind, sind auch richtig nett. Weil wir zum ersten Mal da waren, haben wir sogar ein Päckchen Gummibärchen und ein paar Informationsbroschüren bekommen. Bekommt man anderswo ja auch nicht immer, und so weiß man gleich mal, was los ist. Was sonst noch anders ist im jesustreff: Der „Liturg“ heißt hier „Moderator“, die Lieder stammen eher aus den letzten 10 Jahren statt aus den letzten 1000 Jahren und die Leute, die kommen sind jünger als in Gottesdiensten, die in „normalen“ Kirchengebäuden stattfinden.

Aber der Reihe nach.

Der Gottesdienst war von seinem Aufbau her überraschend klassisch: Erst ein Part mit zum Ankommen mit Musik und Eingangsgebet, dann die Predigt und am Ende nochmal Musik, Fürbittengebet und Vaterunser und die Abkündigungen. Von daher hab ich mich ganz gut zurechtgefunden.

Die Lieder wurden von einer vierköpfigen Band mit solider Besetzung – Bass, E-Gitarre, Sänger mit Lead-Gitarre, Schlagzeug – begleitet, alle sahen sehr hipsterig aus. Und der Sänger war ein Bilderbuch-Singer-Songwriter, verstrubbelte Haare, verträumter Blick. Später erfuhr ich, dass sein Name Jonnes ist und dass man seine Songs auch bei Spotify anhören kann – kann man schon mal reinhören. Bei den Liedern wurden die gesungenen Strophen oft mehrmals wiederholt. War etwas ungewohnt, aber beim vierten Mal hab ich dann wenigstens mal drauf geachtet, was ich da so gesungen hab. Das war sehr erfrischend. Zwischen den Liedern hat der Sänger oft auch mal spontan gebetet. Bei so was kommt bei mir immer nicht so viel rum, aber ich hab eh meine Schwierigkeiten mit Gebet.

Der Moderator war ein freundlicher junger Mann, und auch er hat gebetet. Wir waren uns hinterher einig, dass er auch ruhig mal hätte vorher ausformulieren können, was er so beten will. Sonst fehlt irgendwie die Struktur und man weiß als Mitbetende*r gar nicht, wo das hinführen soll. Dass am Ende der Fürbitten das Vaterunser ganz klassisch gebetet wurde, hat mich aber dann doch versöhnt. Es war richtig schön, mit all diesen Menschen in der Konzerthalle zu stehen und diese Worte gemeinsam zu beten.

Und dann die Predigt: Zu Gast war Prälatin Gabriele Arnold. Eine Prälatin ist ein ziemlich hohes Tier in einer evangelischen Landeskirche, sie steht knapp unter dem Landesbischof. Vielleicht kommt Frank-Otfried ja auch mal zum jesustreff. Aber eigentlich kann man auch Frau Arnold gerne wieder einladen: Sie hat sehr erfrischend gepredigt, feministisch, klug – und am Ende hat sie den Text aus der Lutherbibel vorgelesen. Auch das hätte ich in einem Gottesdienst, der unter bunten Scheinwerfern stattfindet, gar nicht erwartet.

Der jesustreff in Verbindung mit dem Barcamp hat mir gezeigt, dass in der Kirche vieles möglich ist – wenn man den Menschen ihren Raum gibt, Neues auszuprobieren. Und das hat mich auf jeden Fall ermutigt. Der jesustreff sucht ab 2020 auch eine*n neue*n Pastor*in. In der Stellenbeschreibung steht, dass sie sich jemanden wünschen, der gnadenzentriert predigt: Das möchte ich mir als Vorsatz für mein eigenes Dasein als Pfarrer merken – egal ob in einer Gemeinde wie dem jesustreff oder woanders.

Niklas (@megadakka): Ändert die Digitalisierung unsere Vorstellung von Christentum. Reflexionen im Anschluss an das Barcamp Kirche.

Von Thomas Kuhn, dem Wissenschaftstheoretiker, gibt es den Begriff des Paradigmenwechsels. Im Bezug auf die Wissenschaftstheorie heißt das zunächst mal so viel wie, dass wissenschaftliche Konzepte auf Rahmenmodelle angewiesen sind. Nur innerhalb dieser funktionieren sie. Wenn sich das Rahmenmodell wechselt, dann spricht man eben von einem Paradigmenwechsel. Konzepte innerhalb des einen Rahmenmodells sind inkommensurabel, also in gewisser Weise unvereinbar, zum anderen.

Der Begriff des Paradigmenwechsels ist mittlerweile auch außerhalb der Wissenschaftstheorie zu finden und hat zum Beispiel seinen Ort im Nachdenken über Gesellschaft und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Spricht man da allerdings von einem Paradigmenwechsel, dann ist das deutlich niederschwelliger. Im Endeffekt bedeutet der Begriff im normalen Sprachgebrauch nicht viel mehr als: Da ändert sich was und ich muss nochmal stärker drüber nachdenken, was das soll.

Szenenwechsel: Mitte November fand in Stuttgart das Barcamp Kirche Süddeutschland statt. Dort trafen sich Menschen, die irgendwie den Kirchen verbunden (Pfarrer*innen, Vikar*innen, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Datenschützer*innen, aber auch Ehrenamtliche und Interessierte) und gleichzeitig am Phänomen der Digitalisierung interessiert sind. Kurz: Es war ein Treffen der sogenannten „Digitalen Kirche“.

Beim exzellent organsierten Treffen (leider habe in den Freitag verpasst und rede deshalb vor allem von den selbstorganisierten Workshops) ging es dann vornehmlich um Themen, die in der Digitalisierung ein Werkzeug, in den neuen Kommunikationsmitteln ein Medium sehen. Da waren sehr aufschlussreiche und interessante Dinge dabei, vom Einsatz von LaTeX im Pfarramt, über Konfi-Apps bis zur Frage nach der Bedeutung von Instagram im Pfarramt. Auch die Frage danach, inwieweit Digitale Kirche ein Ort sein kann, der an die analoge Kirche heranführt, wurde diskutiert. Kurzum: Es war deutlich und klar, dass die Digitalisierung Dinge ändert, neue Möglichkeiten bietet und diese diskutiert werden müssen.

Um es mit dem oben eingeführten nochmal zu beschreiben: Wenn von einem Paradigmenwechsel die Rede sein kann, dann wurde vor allem die alltagssprachliche Dimension debattiert: Irgendwas ändert sich und man muss drüber nachdenken, wie es in unser Verständnis des Christlichen zu integrieren ist. Doch hat der Begriff des Paradigmenwechsels eben auch eine zweite Ebene. Diese wurde in Stuttgart nur am Rande angeschnitten, wäre aber wahrscheinlich auf einem zukünftigen Barcamp nochmal intensiver zu beleuchten. Denn möglicherweise ändert die Digitalisierung nicht nur etwas an der Art und Weise der Kommunikation der Botschaft, sondern stellt grundsätzlichere Fragen. Fragen nach der passenden Übersetzung christlichen Glaubens ins 21. Jahrhundert oder auch Fragen danach, inwiefern die zentralen Inhalte überhaupt Geltung beanspruchen kann. Was bedeutet Gottes Vorsehung und Allwissenheit unter den Bedingungen präzise prognostizierender Algorithmen? Was heißt Rechtfertigung des Sünders im Hinblick auf die Selbstkonstruktion unterschiedlicher Persönlichkeiten in den sozialen Netzen? Wie kann es eine Gemeinschaft der Heiligen geben ohne analoge Zusammenkunft?

Diese Fragen sind nicht mehr auf der Ebene des zu suchen, auf der es um das Nachdenken über neue Formen der Vermittlung geht. Sie gehen tiefer: Es geht darum, dass Digitaliserung, wie vorher wahrscheinlich die Reformation und die Aufklärung eine „Umformungskrise“ des Christentums hervorrufen wird, der man sich stellen muss. Dies ist eine Aufgabe der akademischen Theologie, aber genauso auch eine der Personen, die sich in der Praxis mit den Fragen des Glaubens im Netz beschäftigen. Dafür ist hoffentlich im kommenden Barcamp Süd ein Ort, dann vielleicht auch in einem Slot von uns.

Natürlich brauchen wir Fresh expression!

von Tobias Graßmann (@luthvind)

Я хочу велосипед и чистой футболкой
Падать, падать, падать, падать в грязь
– Монеточка –

Übs.: Ich will ein Fahrrad und ein reinweißes T-Shirt
Stürzen, stürzen, stürzen, in den Schlamm stürzen

Jüngst wurde in der digitalen Kirche bekannt, dass das in vieler Hinsicht prägende Projekt „Kirche hoch zwei“ – zumindest in dieser Form – zu einem Ende kommt. Überraschend kam dies nicht zuletzt, weil Sandra Bils als eine der beiden Zentralfiguren des Projekts noch dieses Jahr eine viel beachtete Predigt auf dem Kirchentag gehalten hatte (man erinnere sich an die #Gurkentruppe). Mittlerweile liegt auch eine Stellungnahme und persönliche Bilanz von Maria Herrmann vor, die neben Sandra Bils der programmatische Kopf hinter „Kirche hoch zwei“ ist.

„Kirche hoch zwei“ hat sich inspirieren lassen von den Fresh Expressions of Church, wie missionarische Aufbrüche insbesondere in der englischen und schottischen Kirche genannt werden. Diese sammeln sich unter dem Programm einer mission shaped church: eine Kirche, die ihre Gestalt von ihrer Sendung in die Welt her empfängt. Die Geschichte hinter diesen Begriffen ist hier nicht zu erzählen. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass solche Impulse auch in unseren deutschen Kirchen dringend benötigt werden! Die Nachrichten zu „Kirche hoch zwei“ regen daher auch mich, der ich dem Projekt aus der Ferne in eher kritischer Solidarität verbunden war, zu Überlegungen an.i Wie sollte es nun weitergehen auf der Suche nach Fresh Expressions?

Das Projekt „Kirche hoch zwei“ hat im losen Netzwerk der digitalen Kirche viel angestoßen. Kaum jemand scheint noch zu bezweifeln: Wir brauchen die Suche nach neuen Formen, wie man heute als Gemeinde leben und die christliche Botschaft verkündigen kann. Lebensnah und gegenwartshungrig, manchmal unkonventionell und darin auch irgendwie unerhört. Wir brauchen dazu Experimente, wir brauchen den Mut zum Risiko, ja auch zum Scheitern. Wir brauchen Institutionen, die sich solche Experimente einfach mal leisten und Personen nicht auf Misserfolge festzuschreiben, sondern die gute Idee im misslungenen Versuch würdigen. Wir brauchen in der Kirche eine neue Kultur, in der man auch von Erfolgen reden darf. Und, meinetwegen, auch ein paar griffige Slogans aus der Kreativwirtschaft. Das alles kann man dann von mir aus Start-Up-Kultur nennen. Also ja, wir brauchen Mission, die unsere Kirche in neue Formen überführt – Mission abseits der Zerrbilder, die man damit landläufig so verbindet.

Aber sind am Ende dieser initialen Phase, die so stark von „Kirche hoch zwei“ geprägt war, vielleicht auch Kurskorrekturen vorzunehmen? Was können wir als Kirche und Theologie aus den Erfahrungen lernen, die Maria Herrmann schon einmal rückblickend von der Kommandobrücke aus reflektiert hat? Ich versuche – nun ganz persönlich! –, ein paar für mich weiterführende Gedanken zu formulieren.

„Kirche hoch zwei“ – das sollte für Kirche in einer neuen Dimension stehen. Oft und selbstbewusst wurde daher der Anspruch erhoben, auf diesem Wege eine geeinte Christenheit zu verwirklichen. Maria Herrmann wünscht sich: Einen Geist, der neue Formen der Ökumene feiert und sie als Gründungsnetzwerk der Kirche (Singular!) versteht.ii Und man kann ja auf dem Standpunkt stehen: Dieser Singular allein sei einer Gegenwart angemessen, die kein Gespür für konfessionelle Pluralität mehr hat und auch wenig Verständnis für diese Unterschiede aufbringt. Unbestreitbar ist damit eine christliche Sehnsucht nach sichtbarer Einheit treffend erfasst.

Aber ist es wirklich nötig, die Suche nach FreshX mit dieser Ökumenekonzeption zu belasten? Gewiss, es lassen sich viele Projekte denken, bei denen die konfessionelle Herkunft der Beteiligten, der Initiatoren und Zielgruppe einfach keine Rolle mehr spielen. Gleichzeitig könnte es sein, dass sich gerade aus dem Schatz der einzelnen Konfessionen und ihrer Frömmigkeit neue Impulse entwickeln lassen. Diese könnten dann wiederum nicht zuletzt von Menschen anderer Konfessionen (oder Nicht-Christinnen*) als neue, für sie interessante Formen entdeckt werden. Wenn das so ist – und faktisch scheint mir „Kirche hoch zwei“ diesen Weg beschritten zu haben! – , dann spricht das eher für ein dialogisches Verhältnis der Konfessionen, das die Spannung produktiv verwandelt. Sollte dagegen der Verdacht aufkommen, es werde offiziell jenseits der Konfessionen und im Namen der Ökumene unter der Hand doch eine einseitig-konfessionelle Frömmigkeit propagiert, wäre dies schade.

Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Ortsgemeinden und etablierten kirchlichen Strukturen sagen. Die Selbstbezeichnung FreshX – wiederholt wurde darauf hingewiesen – verleitet schon semantisch dazu, in den Ortsgemeinden und ihren traditionellen Gottesdienstformen nur die veralteten, absterbenden, eben nicht mehr frischen und lebendigen Gestalten von Kirche zu sehen. Manchmal erschien mir der eigene Anspruch, Grenzen zu sprengen und das schlechthin Neue zu bringen, dann doch so zugespitzt, dass die traditionellen Kirchengemeinden eher als Hindernis des göttlichen Geistes erscheinen mussten. Das aber tut all denen Unrecht, die sich innerhalb der traditionellen Strukturen nach Kräften bemühen, das Evangelium zu verkünden und den Menschen zu dienen. Und was soll eigentlich das Ziel dieser Frontstellung sein? Faktisch wird das Überleben experimenteller Formen noch auf lange Sicht von diesen traditionellen, gewachsenen Strukturen abhängen. Nur sie können die Ermöglichungsräume tragen, personell, finanziell und vielleicht auch spirituell. Gerade in den Kerngemeinden sind auch viele Unterstützer zu gewinnen, die an etablierten Formen hängen und sich zugleich nach Aufbrüchen sehnen. Dort sind Schultern, die mittragen können und wollen! Und müsste man nicht auch darauf hoffen, dass sich an den Rändern der beackerten Gemeindeflächen ein Wildwuchs neuer Formen bildet, weil Menschen sich von den gewagteren Aufbrüchen inspirieren lassen, ohne der StartUp-Kultur in allem nachzueifern?

Irgendwie schwierig gestaltet sich bisher auch das Verhältnis zur akademischen Theologie. Aber gesetzt, es gäbe an den Fakultäten Theologinnen und Theologen, die thematisch neue Wege beschreiten, Theoriehorizonte weiten und alte Fragestellungen neu konfigurieren – müsste man hier nicht die Verbindung suchen? Zu stark, scheint mir, hat man sich mit einer bestimmten Ehrenamtstheologie belastet, die professionell-kirchliche Ausbildung und wissenschaftsförmige Theologie im Kern abwertet. Dabei zeigen nicht zuletzt die Zentralfiguren von „Kirche hoch zwei“, die selbst ihre akademischen Meriten erworben haben bzw. noch anstreben, dass es meistens den Umweg über die Theorie braucht, um die scheinbar selbstverständliche Praxis in neuem Licht zu sehen.

Speziell aus der Perspektive der Praktischen Theologie stellt sich die Frage, wie man es eigentlich mit der eigenen Zielgruppe hält. Oft wurde und wird in der Kirche die Orientierung an Zielgruppen beschworen. Von außen betrachtet meldet sich die Kritik an, ob man sich diese Zielgruppe nicht mitunter zu sehr nach dem eigenen Bild erschaffen hat. Viele FreshX-Projekte scheinen sich in einer sehr schmalen Nische zu drängeln, der Lebenswelt junger, urbaner Akademikerinnen und Akademiker, auf der Suche nach sich im Prozess der Ablösung vom kirchlichen Herkunftsmilieu. Diese Spezialisierung ist legitim, aber vielleicht einfach nicht breit genug. Vielleicht wäre es doch wichtig, den alten Anspruch der Volkskirche mitzuführen – also stärker in Sozialräumen und von gesellschaftlichen Bedürfnissen aus zu denken als in persönlichen Begabungen und Neigungen. Gerade, wenn man den Anspruch einer göttlichen Sendung hinaus in die Welt ernst nimmt!

Vielleicht ist für die Initiatorinnen und Initiatoren künftiger Projekte auch die biblische Leitfigur der Prophetin nicht nur glücklich. Möglicherweise sind hier und da weniger charismatische Anführer gefragt als unauffällige Ermöglicher – also mission shaped ministry im Wortsinn. Menschen, die diskret ihren Dienst leisten am Wort und am Nächsten, jenseits der breiten Pfade, aber auch ohne knallige Ästhetik und hochtönende Verheißungen. Möglicherweise lässt sich beides auch kritisch in der Schwebe halten. Bescheidene, diskrete Prophetie, ist so etwas denkbar? Mit dem Auge für Lücken und Risse in der Sozialstruktur, die Menschen im Dienst des Evangeliums füllen können. Vielleicht muss man alles noch viel kleiner, kurzfristiger, dezentraler denken. Vielleicht muss man das Tau der großen Bewegung wieder in ein Netz von Einzelfäden auflösen.

Es ist zu wünschen, dass das Experiment „Kirche hoch zwei“ nicht das letzte seiner Art und schon gar nicht Ende der kirchlichen Suchbewegungen war. Es bleibt der Dank an „Kirche hoch zwei“ für unermüdliche Arbeit und so manche fruchtbare Provokation. Lassen wir uns von der eigenen Sendung her verwandeln!


Rezension zu: D. Timothy Goering, Friedrich Gogarten

von Claudia Kühner-Graßmann

Goering, D. Timothy: Friedrich Gogarten (1887-1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 51). Berlin/Boston 2017.

Wenn eine Theologin die Biographie eines Historikers über einen Theologen rezensiert, wird in besonderem Maße ersichtlich, wie fruchtbar es sein kann, das Historische und das Theologische zusammenzuführen. Die Schwierigkeit besteht darin, weder das historische Interesse als defizitär zu betrachten, noch dem historischen Blick allein die Deutungshoheit über ein theologisches Werk zuzugestehen.

Der Historiker D. Timothy Goering legt mit seiner Gogarten-Biographie, die die überarbeitete Version seiner Dissertation darstellt, ein beeindruckendes Werk vor, das nicht nur für Gogarten selbst, sondern auch für seinen Kontext Erkenntnisse bereithält – hier vor allem für Formierung und Trennung des Kreises um die Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“, der als Keimzelle der sog. Dialektischen Theologie gilt –, die ein hohes Erschließungspotential für die theologische Deutung bereitstellen. Gerade von der Netzwerkanalyse und der Einordnung in den jeweiligen historischen Kontext, auf den Goering als „Profanhistoriker“ einen anderen Blick wirft, kann die Theologiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts durchaus profitieren.[1]

Die Lebensgeschichte Gogartens erzählt Goering – wie im Titel anklingt – über das Konstrukt des „Religionsrebells“, das sich zwischen Selbstzuschreibung und Interpretament bewegt (vgl. 5). Damit arbeitet Goering die eigentümliche theologische Stellung Gogartens heraus. Allerdings könnte eine genauere theologiegeschichtliche Analyse diesem Singularitätspathos etwas entgegenwirken, da sich – das macht Goering mit seiner Netzwerkanalyse stellenweise deutlich – doch auch vielfach Gemeinsamkeiten und Parallelen zu Zeitgenossen auffinden lassen.

Mit dem Fokus darauf, Gogarten als einen solchen Religionsrebellen darzustellen, gehen drei Aspekte einher, die sich durch das ganze Buch ziehen:

1) Erstens hebt Goering Gogartens „Kampf gegen die institutionelle Konfessionskirche und für die existenzielle Religiosität“ (10) und die Kritik Gogartens an der konkreten Gestalt der Kirche hervor. Dabei geht er kaum auf die ekklesiologischen Elemente im Denken Gogartens ein, sodass der Eindruck entsteht, dass sich Gogarten prinzipiell gegen ‚die‘ Kirche gewendet hätte. An dieser Stelle könnte auf Grundlage der Darstellung Goerings eine nähere theologische Analyse der Kirchenkritik in Gogartens Werk ansetzen, die möglicherweise doch differenzierter zu bestimmen ist.

2) Mit dem Begriff des „Religionsintellektuellen“ (11-13 u.ö.) bietet Goering zweitens im Anschluss an Friedrich Wilhelm Graf ein ideales Interpretament, um Gogarten gerade in seiner Frühzeit zwischen kirchlicher Berufsexistenz und Universitätstheologie einzuordnen.

3) Drittens untersucht Goering den „Zusammenhang zwischen Gogartens philosophisch theologischen Ideen und seinem Handeln“ (13). Es geht dabei vor allem um die gegenseitige Erhellung dieser theologisch-philosophischen Aspekte mit gesamt-gesellschaftlichen Tendenzen. Goerings Interesse ist es, „die ‚Neue Ideengeschichte‘ und die Religionsgeschichte näher zusammenzubringen“ (15). So wird ein doppeltes Vermittlungsinteresse dieser Biographie deutlich – aber auch das interessante Unterfangen dieser Arbeit zwischen rein historischer und theologiegeschichtlicher Untersuchung.

Mit diesen Leitmotiven erzählt Goering das Leben Gogartens in vier Etappen:
Zunächst widmet er sich unter der Überschrift „Das Erwachen eines Gottsuchers“ der Studien- und Pfarramtszeit bis 1918. Hier werden die Grundlagen für die weitere Deutung gelegt, vor allem durch die Einteilung Gogartens in die „vagierende Religiosität“ (23) als einer von vier religiösen Gruppierungen im Kaiserreich (24-34). Diese Einordnung bietet ein gewisses Erschließungspotential für Gogartens Werk, aber auch hier wäre über eine nähere ekklesiologische Untersuchung zu klären, ob der starke Gegensatz zur Kirche für Gogarten durchweg überzeugt. Goering zeigt im weiteren Verlauf immer wieder Spuren dieser vagierenden Religiosität im Gefolge Arthur Bonus’ und Gottfried Traubs auf (vgl. 85). Entgegen einer Interpretation, die die Brüche in Gogartens Werk hervorhebt, will Goering zwar Änderungen aufzeigen, diese aber zugleich als in Kontinuität mit diesem – scheinbar im Widerspruch dazu stehenden –  Frühwerk betrachten.

Im zweiten Kapitel „Dialektisches Jahrzehnt“ beschreibt Goering Formierung und Trennung des Netzwerkes der sog. Dialektischen Theologie. Allein für diesen Abschnitt lohnt sich die Lektüre dieses Buches. Zunächst erklärt er die Formierung des Netzwerks der Dialektischen Theologie aus dem Selbstbewusstsein der sich abgrenzenden jüngeren Theologen im Rahmen der zeitgenössischen Intellektuellennetzwerke, die sich zumeist unter dem Aspekt eines gemeinsamen Feindes bildeten. Mit dieser historisch notwendigen und sinnvollen Einordnung nimmt Goering etwas Pathos aus den verbreiteten Erzählungen der Formierung der sog. Dialektischen Theologie und liefert über das Motiv des gemeinsamen Feindes schon einen plausiblen Grund für das Auseinanderbrechen dieses Netzwerkes. Insbesondere ist hervorzuheben, dass Goering eine komplementäre Perspektive neben derjenigen Barths anbietet, die die Forschung stark prägt. Er präsentiert mit Gogarten, dem Namensgeber der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“, einen zweiten starken Kopf dieses Kreises. Auch wenn man dem Autor die Lust an der Dekonstruktion der Barth‘schen Perspektive (vgl. 284) anmerkt, verfällt er nicht einer gegenläufigen Helden- oder auch Opfererzählung. Im Gegenteil: Goering geht nicht zimperlich mit Gogarten um, wenn er ihn etwa als den „‚Bulldog‘ der Dialektischen Theologie“ (116) bezeichnet. Unter den vielen erhellenden Aspekten der Darstellung sei besonders noch auf zwei verwiesen: zum einen die Bedeutung von Konferenzen als Diskursmärkte für die Etablierung der Dialektischen Theologie (z.B. 140), zum anderen die Änderungen im Selbstverständnis Gogartens als Intellektuellen, die mit dem Wandel der gesellschaftlichen Rolle der Intellektuellen durchaus parallel verlaufen (vgl. etwa 177f.). Letzteres ist umso spannender, als dass Goering hier wiederum eine  beliebte Schematisierung der theologiegeschichtlichen Interpretation hinterfragt: Denn wird Barth üblicherweise im Gegenüber zu Paul Althaus oder auch seiner Lehrergeneration einem neuen Typus Theologen zugeordnet, der sich vor allem durch einen antibürgerlich-unkonventionellen Habitus unterscheidet, ordnet Goering hier gerade Barth dem „Gelehrtentypus eines Universitätsprofessors“ zu – im Gegenüber zu Gogarten als einem „kampflustigen Religionsintellektuellen“ (217). Dazu passt, dass Gogarten erst 1931 und nach langem Hin und Her auf einen theologischen Lehrstuhl nach Breslau berufen wurde.

Neben dem Netzwerk der Dialektischen Theologie macht Goering für Gogarten zwei weitere Bezugsnetzwerke aus: eines um den Philosophen Eberhard Griesebach und eines um die Religionspädagogin Magdalene von Tiling. Die wechselseitige Beeinflussung ist in diesen beiden Fällen zwar bereits bekannt und verschiedentlich ausgeleuchtet, aber die Netzwerkanalyse bietet neue Einblicke in Formierung und – im Falle Griesebachs – Bruch dieser Verbindungen, die über rein inhaltlich-theologische Aspekte hinausgehen.  Über den Befund, dass sich Gogarten nicht exklusiv auf ein Netzwerk von Kontakten beschränkt, präsentiert Goering eine gewisse Zwischenstellung, die Gogarten nicht nur im Rahmen der Dialektischen Theologie verortet.

Eine unbestreitbare Stärke dieser Biographie liegt in der Darstellung der NS-Zeit. Goering arbeitet hier vor allem die vielschichtigen Gründe für Gogartens Beitritt zu den Deutschen Christen heraus – einer Entscheidung, die „ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde“ (268). Auch hier verfällt der Autor nicht einem apologetischen Ton, sondern erhellt die völkisch-konservative Prägung von Gogartens Theologie, ohne diese undifferenziert als nationalsozialistisch zu brandmarken. Seine Haltung wird dabei vor allem über das Motiv einer „passiven Aktivität“ erklärbar, wie es  Goering aus Gogartens Menschen- und Ethik-/Politikverständnis herausarbeitet. Diese paradoxe Haltung während der NS-Zeit beschreibt Goering mit Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“ von 1924, womit Goering zugleich die tragische Unzeitgemäßheit Gogartens zu diesem Zeitpunkt herausstreicht.[2]

Die folgenden Jahre (1935-1947) stehen in der Darstellung unter dem Aspekt der Einsamkeit. Die zerbrochenen Kontakte und Freundschaften werden in Göttingen kaum durch neue ersetzt. Goering stellt Gogarten damit noch deutlicher als enttäuschten, verbitterten Einzelkämpfer dar, wobei dieser Zustand nicht als völlig unverschuldet präsentiert wird. So mündet die Erzählung der Lebensgeschichte Gogartens im vierten Kapitel in „Eine schriftliche Existenz“. Inhaltlich steht nun das Konzept der Säkularisierung im Vordergrund, das Goering in Kontinuität mit Gogartens Theologie der 1920er und 1930er Jahre begreifen kann (vgl. etwa 355f.). Biographisch wird neben der isolierten Gelehrtenexistenz in Göttingen besonders auf Gogartens Reisen nach Schottland und in die USA eingegangen. Ein Blick wird auch auf die durch den Tod Carl Michalsons abgebrochene Rezeption in der amerikanischen Theologie geworfen, deren Darstellung auch unabhängig von Gogarten interessante Einsichten bereithält. Aber auch hier wird eine gewisse Tragik in der Existenz Gogartens deutlich, deren Wurzel Goering  nicht nur in den äußeren Umstände, sondern in der Person selbst verortet.

Goerings Buch ist nicht nur eine Biographie Gogartens. Mit ihr und anhand ihrer skizziert er zugleich die gesellschaftlich-religiöse Lage einer Zeit – ausgehend von der Kaiserzeit und dem Konzept der vagierenden Religiosität. Die Konzentration auf dieses kirchenkritische Moment der Theologie Gogartens, das bisher wenig Beachtung in der theologiegeschichtlichen Konstruktion findet, fordert eine nähere theologische Analyse heraus.

Die Rezensentin hat zumindest den Verdacht, dass mitunter die unkonventionelle Form, die Gogarten ekklesiologischen Gedanken gibt, als unkirchlich verbucht wird. Doch hat sich im Protestantismus immer wieder eine scheinbar paradoxe Form von Kirchenbindung entwickelt, die sich dezidiert als Kirchenkritik ausgestaltet. Hier wird besonders deutlich, wie sehr auch die historische Arbeit in diesem Feld von einem geschärften theologischen Problembewusstsein profitieren könnte. Daher bleibt fraglich, warum Goering in seinem Forschungsüberblick am Ende des Buches derart stark die „Unzulänglichkeit der üblichen theologiegeschichtlichen Methode“ (434) hervorhebt. Sollte er meinen, auf diesem Wege  die Notwendigkeit einer historischen Bearbeitung eines Theologen  begründen zu müssen, wäre ein solcher Rechtfertigungsdruck jedenfalls aus theologischer Perspektive kaum verständlich. Im Gegenteil: Erkenntnisgewinn und Nutzen seiner Arbeit für die Theologiegeschichte stehen ganz außer Frage.

 

[1]     Vgl. ergänzend zu dieser Rezension Brunner, Benedikt: Rezension zu: Goering, Daniel Timothy: Friedrich Gogarten (1887–1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege, in: H-Soz-Kult, 27.06.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25044. Brunner geht als Kirchenhistoriker nochmals mehr auf die Methodik des Buches ein, während hier die historisch und systematisch interessierte Praktische Theologin  das Buch auf seinen theologischen Ertrag hin befragt.

[2]     „Aber das Interesse an dieser tragischen Hungerkunst war zurückgegangen“ (317).

Nicht meine Freiheit

von Sabrina Hoppe

Denjenigen, die Angst vor der Freiheit haben, war die Sünde schon immer das liebste Thema. Vielleicht haben sie Angst vor der Grenzenlosigkeit der eigenen Gefühle und ihrer Konsequenzen. Vor der Unbestimmbarkeit der Zukunft und der Widersprüchlichkeit der Welt. Vor dem Blick aus fremden Augen.

Die Sünde war schon immer das liebste Thema all derer, die sich auf der anderen Seite der theologisch Liberalen wähnen. Sie bezeichnen sich selbst nicht konservativ, weil das ein politisch besetzter Begriff ist. Manchmal nennen sie sich fromm, weil sich dieser Begriff selbst bereits etabliert hat und fast schon rehabilitiert ist – oder sie nennen sich gerne lutherisch oder noch lieber „reformatorisch“. Dass sich jetzt eine Gruppe junger „reformatorischer“ TheologInnen gerade die „Große Freiheit“ zum Thema gemacht hat, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. „Frei und los“ heißt eine junge Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vergebung der Sünden, die durch Christi Tod in die Welt gekommen ist, als die befreiende Botschaft des Evangeliums neu zu verkünden. Höhepunkt der Arbeit des Vereins, der maßgeblich von der Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis in der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland[1] unterstützt wird, soll eine zentrale Konferenz im Mai 2020 in Hamburg sein. Ihr Titel: „Große Freiheit 2020“.

Um welche große Freiheit geht es also hier und warum brauchen wir sie angeblich „gerade heute“ so dringend? Auf ihrer Website schreiben die Veranstalter: „Denn es gibt genug, das uns wieder gefangen nimmt. Eine ganze Welt schleudert uns Maßstäbe entgegen, denen wir gerecht werden sollen: Schönheitsideale, Karrierepläne oder das perfekte Foto für Instagram. Doch Christus bringt uns Freiheit. Sie sieht oftmals anders aus, als wir es erwarten.“[2] Eine gewohnte, ja altmodische theologische Sprachformel: Wir sind gefangen in den Gesetzen der Welt, in den Erwartungen Anderer und ihrer Maßstäbe. Das, was uns Freiheit verspricht, knechtet uns eigentlich nur und macht uns damit unfrei. Wirkliche Freiheit finden wir nicht „im Außen“, sondern innerlich: Durch Christus, der uns von dem Druck befreit, immer genügen zu müssen. Soweit, so richtig, so vorhersehbar. Aber noch einmal nachgehakt: Das perfekte Foto für Instagram macht unfrei? Der sogenannte Gastgeber der Konferenz, Pastor Gunnar Engel, ist ein inzwischen durchaus prominenter You Tube Star, ja vielleicht sogar so etwas wie ein christlicher Influencer. Seine Fotos atmen den Geist skandinavischen Interior-Designs –  weiße Räume, ausgewähltes Mobiliar, auf einem Holztisch liegt eine Bibel (eine ganz besondere natürlich), als deren Lesezeichen ein Büschel Schafgarben dient. Sehr praktisch – Sie merken, lange kann ich meine Polemik nicht mehr für mich behalten. Engels Instagram-Posts bestechen durch ästhetische Perfektion. Die lutherischen „Soli“ schmücken in schwarz gerahmten Drucken den Flur seines Pastorats. Das Bild einer Aeropress, versehen u.a. mit den Hashtags #church #1517tribe #pastor #solideogloria #bibellesen #digitalekirche #jesuschrist #glauben #kirche #evangelium fehlt natürlich nicht. (Für alle Unwissenden: Es handelt sich um eine Kaffeemaschine.) All das wäre und ist nicht anstößig oder fragwürdig, aber es steht doch in einer gewissen Spannung zur erfolgten Herabwürdigung der modernen Welt mit ihrer äußeren Zwängen und ihrer Fixierung auf Äußerlichkeiten, wie sie als Bild für die Sünde, von der uns Christus befreit, auf der Website beschrieben wird. Und wie sieht es mit den anderen „Maßstäben“ aus, in die uns die heutige Welt hineinzwingt? Tatsächlich scheint es doch eher die Auflösung aller Wertmaßstäbe zu sein, die den Theologen Angst macht: Die Kirchliche Sammlung etwa unterstützt selbstverständlich nicht die Öffnung der kirchlichen Eheschließung für homosexuelle Paare und Gunnar Engel bekennt sich in seinen Videos offen gemeinsam mit seiner Frau dazu, dass es das Beste für sie war, erst verheiratet zusammen zu ziehen –  klare moralische Vorgaben also, die wenig Raum für eine individuelle Lebensführung lassen, wenn jemand sich nicht immer auf der Grenze zur Sünde bewegen will [3].

Doch die Redner der Konferenz sind nicht nur Pastoren, auch ein Dozent der Neueren Geschichte an der Universität Würzburg [in einer früheren Version war hier von Universität Münster die Rede;  Anm.d.Red.] beteiligt sich mit einem Vortrag. Der Theologe und Historiker Benjamin Hasselhorn kuratierte im Reformationsjahr 2017 die Ausstellung ‚ Luther?! 95 Schätze, 95 Menschen‘ und veröffentlichte daraufhin die sogenannte Streitschrift „Das Ende des Luthertums“, eine theologische Kritik an der Evangelischen Kirche in Deutschland und an ihrem Lutherjubiläum. Hasselhorn vermisst in der Evangelischen Kirche demnach besonders „religiöse Ernsthaftigkeit“. Er beklagt eine Verniedlichung des Gottesbildes, Gottesdienste, die nicht mehr von der Sünde und der Gnade reden, sondern stattdessen eine „Wohlfühltheologie“ verkündeten. Ein weiterer Kritikpunkt besteht für Hasselhorn in der „Politisierung“ der Kirche –  ein beliebtes Narrativ politisch konservativer Gläubiger, die damit zumeist einen „Linksruck“ der Kirche diagnostizieren. Über eine politisch nach rechts driftende Kirche wurde dieser Begriffsstab dagegen noch nie gebrochen.[4] Hasselhorn selbst äußert sich nicht zu seiner politischen Gesinnung, wird jedoch inzwischen von der AfD als Gewährsmann ihrer kirchenpolitischen Gesinnung eingespannt. In ihrem Positionspapier „Unheilige Allianz –  Der Pakt der evangelischen Kirche mit dem Zeitgeist und den Mächtigen“ verweist die rechtspopulistische Partei auf ein Fazit Hasselhorns, dass sich schon immer „weite Teile des deutschen Protestantismus jeweils dem herrschenden politischen Zeitgeist“[5] angeschlossen hätten. Dass der Zeitgeist, den die AfD kritisiert, in Deutschland insbesondere für eine offene Gesellschaft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden stehe, macht das Zitat Hasselhorn an dieser Stelle zum Brandstifter in einem sehr trockenen Geäst. Auch auf öffentliche Nachfragen, z.B. von der evangelischen Theologin und Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Wittenberg, Eva Harasta hin, hat sich Hasselhorn nicht von der Rhetorik der AfD distanziert bzw. seine Aussagen nicht ins Verhältnis gesetzt.[6] Für welche Freiheit spricht also Hasselhorn auf besagter frommer Konferenz? Sein Vortragstitel lautet „Die bessere Freiheit: Eine Einführung in Luthers Freiheitsschrift.“ Das könnte Thema eines jeden theologischen Proseminars sein und ist für mich dementsprechend also kein Anreiz zu weiterer Polemik. Es bleibt jedoch gerade deswegen die Frage: Warum muss ausgerechnet ein Theologe wie Hasselhorn zu diesem Thema referieren?

Frei und los –  dieser zugegebenermaßen verführerisch schöne Titel der Konferenz soll zu guter Letzt hier noch eingeordnet werden. Er stammt aus der lutherischen Beichtagende für die Einzelbeichte, die sich an den Großen Katechismus Luthers anlehnt und im Ganzen lautet: „Der auferstandene Jesus Christus sprach zu seinen Jüngern: Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben. In der Vollmacht, die Jesus Christus seiner Kirche gegeben hat, spreche ich dich frei, ledig und los: Dir sind deinen Sünden vergeben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Geh hin im Frieden des Herrn.“[7] Die Einzelbeichte ist heute im pastoralen Alltag selten geworden. Das spricht nicht gegen ihre große entlastende und reinigende Funktion, auch nicht gegen ihre theologische Legitimität. Aber es lässt wiederum fragen, warum gerade die Absolutionsformel das ist, was junge „reformatorische“ Theologen heute als Inbegriff evangelischer Freiheit formulieren. Um nochmal zu meiner Ausgangsfrage zurückzukehren: Von welcher großen Freiheit ist hier die Rede? Was vermissen die Menschen meiner Generation an Freiheit dementsprechend und wie konkretisiert es sich in meinem Leben, wenn ich diese „biblische Freiheit“ in Hamburg im Mai 2020 suche? Das Werbevideo verrät mir davon nichts. Dort sehe ich lediglich, wie die Absolutionsformel Buchstabe für Buchstabe mit schwarzer und roter Tinte geschrieben wird, untermalt mit dramatischer Musik und in der zuvor beschriebenen perfektionierten Hipster-Ästhetik. Die so wirkungsvoll in Szene gesetzten Worte haben ihren biblischen Ursprung übrigens im Jesaja-Buch. Dort heißt es: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!“  (Jes 58,6) Der Vers ist die Antwort auf die Frage danach, wie das „rechte Fasten“ nach Gottes Willen aussieht: Es ist das Ende der Unterdrückung. Die Befreiung der Gefangenen. Das Sattmachen derer, die Hunger haben. Es sind Worte von politischer, gesellschaftlicher und existenzieller Brisanz. Es sind Worte von einer großen Freiheit, die nicht in einer engstirnigen Moralität aufgeht. Worte, die keine Angst davor haben, den Wohlhabenden zu Leibe zu rücken. Für mich sind es Worte für eine Kirche, die keine Angst vor selber denkenden Menschen hat. Ich bin gespannt, wie die Referentin und die Referenten der Tagung im Mai diese Freiheit entfesseln. Und warte auf eine Antwort auf die Frage, warum wir gerade jetzt eine solche Freiheit brauchen. Bis dahin nehme ich mir einen pinken Filzstift und male Krönchen auf die schönen Instagram-Fotos in meinem Handy, lese in meiner blauen Schmetterlingsbibel, trinke Kaffee aus dem Vollautomaten und spende für das Schiff der EKD, das sich an den Zeitgeist anbiedert.

Dr. Sabrina Hoppe ist Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

[1] Auf ihrer Website beschreibt die Kirchliche Sammlung wie folgt, warum es sie geben muss: Die Grundlage unseres christlichen Glaubens sind die Bibel und die Lutherischen Bekenntnisschriften. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) ist jedoch in der Gefahr, sich davon zu entfernen und sogar elementare Glaubensinhalte dem Zeitgeist zu opfern und sich dem gegenwärtigen Meinungsstrom anzupassen. Das betrifft vor allem die zentrale Bedeutung von Jesus Christus und die verbindliche Autorität der Bibel als Wort Gottes, aber auch wichtige ethische Positionen. Säkularisierungsprozesse gefährden die Kirche von innen. Vgl. https://www.kirchliche-sammlung.de.

[2] https://www.freiundlos.de/grossefreiheit2020/

[4]                  Zur Frage „Ist die Kirche zu politisch?“ äußerte sich präzise und trotzdem umfassend der Kulturbeauftragte de EKD Claussen: https://zeitzeichen.net/node/7849

[5]                  https://afd-thl.de/wp-content/uploads/sites/20/2019/06/Kirchenpapier_Onlineversion.pdf, S.7, zitiert nach Benjamin Hasselhorn, Das Ende des Luthertums, Leipzig 2017, S.157.

[6] Vgl. dazu Eva Harasta auf Twitter: https://twitter.com/HarastaEva/status/1174322748530855936

[7]                  Zitiert nach Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, S.660.

[3]                    Anm.d.R.: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Gunnar Engel (und zwar hier) empfiehlt, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Er machte uns darauf aufmerksam, dass das so nicht gesagt wurde. Da er Recht hat, ist diese Stelle geändert worden.

Theologische Brandstiftung

Ein Kommentar zu Frischs Klimakrisenkritik

von Hermann Diebel-Fischer

Ralf Frisch kommentiert cum ira et studio für Zeitzeichen unter der Überschrift Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer die Klimakrise, die er als »Klimahysterie« bezeichnet.

Es ist ein Aufkleber mit der Aufschrift ›Fuck you Greta!‹ (sic!), der Frisch in seinen Bann zieht und ihn darüber sinnieren lässt, ob er als Theologe sich »theologisch angemessen« verhielte, klebte er diesen Aufkleber auf sein Fahrzeug. Dieses Nachdenken ordnet Frisch als Provokation ein, die er um des Wahrgenommen-werdens willen begeht, um gleich darauf nach weiteren Gründen zu suchen. Frisch sieht seinen Verzicht auf den »provokanten Protest« als Resultat einer theologischen Affektkontrolle, will aber dennoch ein Fünkchen Wahrheit in der nicht vollzogenen Protestaktion erkennen und meint, diese theologisch begründen zu können.

Frischs Kritik richtet sich nicht nur persönlich gegen Thunberg, die er als humorlose »Prophetin« des von ihm entdeckten »Klimagottes« beleidigt, sondern vornehmlich dagegen, dass seiner Ansicht nach der Klimawandel an die Stelle tritt, die durch die Säkularisierung freigeworden scheint – an etwas Großes zu glauben, mit allen Konsequenzen, die dies vermeintlich hat. Er sieht hier Konkurrenzverhältnis zwischen der Reaktion auf die von Thunberg – wissenschaftlich belegten und somit berechtigtermaßen – aufgezeigten Probleme und dem christlichen Glauben, der – so die Zahlen – sich gerade weniger eines konjunkturellen Aufschwungs erfreuen kann.

Ist es Trauer um das Verlorengehen einer volkskirchlichen Tradition, die hier zu einer theologisch verqueren Reaktion führt? Wenn die Sorge um den Klimawandel dem Protestantismus, zu dessen Kernidee die Unterscheidung von Gott und Welt gehört, tatsächlich als Konkurrenz erscheint – wie steht es dann um ihn? Wie Frisch vom »neuen Glauben« zu sprechen zeugt doch von einer durch Konkurrenzdenken generierten Vergessenheit darüber, was Glaube überhaupt bedeutet.

Die Gemengelage wird dort unübersichtlich, wo Frisch der evangelischen Kirche unterstellt, dass auch in ihren Reihen eine von ihm identifizierte, klimakrisenevozierte, demokratieverachtende Tendenz »schleichend an Plausibilität gewinnt«, denn »[…] es entsetzt [Frisch] geradezu, dass die Bereitschaft, einer Alles-oder-Nichts-Logik zu folgen und totalitär aufs Ganze zu gehen, gerade in der bundesdeutschen Gegenwart wieder fröhliche Urstände feiert.« Dass Forderungen einer gewissen Radikalität nicht entbehren dürfen, um überhaupt Gehör zu finden hat Frisch in seinem Text eingangs noch festgestellt – dann aber scheinbar unterwegs vergessen. Die unterstellte Protestantismuswidrigkeit einer nicht näher erklärten »Schuld-und-Sühne-Logik«, die im Zusammenhang mit Klimaschutzbestrebungen bestehe sowie der Vorwurf einer »schöpfungswidrig[en]« »Alles-oder-Nichts-Logik« sind tiefe Griffe in die theologische Werkzeugkiste – allerdings ohne Erfolg, denn mitnichten wollen sich die Menschen, deren Ziel es ist, die Klimakatastrophe irgendmöglich abzumildern, selbst zu Gott machen, noch haben sie zum Ziel, eine Religion zu etablieren.

Von Frisch als problematisch Wahrgenommenes wird von ihm zur Religion theologisiert und dann zur Häresie erklärt. Das ist eine perfide Abwehrstrategie, die man sich genauer ansehen muss. Sie dürfte politisch nicht neu sein und lässt protestantismustheoretisch alle Alarmglocken ob einer unbotmäßigen Inanspruchnahme theologischer Topoi schrillen. Frischs Parallelisierung alttestamentlicher Erzählungen über die menschliche Hybris wie Gott sein zu wollen mit der Klimaschutzbewegung ist exegetisch durchaus fragwürdig, wird aber richtig skurril, wenn er unter Verweis auf die Zwei-Regimente-Lehre eine theologisch legitimierte Kritik am Klimaschutzstreben zu konstruieren versucht.

Frischs Lamento, dass es keine dogmatischen Häresien, sondern nur noch ethische gebe, schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die Forderung nach einer Entpolitisierung des Protestantismus, die oft nur der Abwehr einer bestimmten politischen Position dient. Seine Kritik, dass der Streit um ethische Fragen den um dogmatische abgelöst hat, rückt die nicht alternde, fundamentaltheologische Debatte darum, wie Ethik und Dogmatik zueinander stehen in den Fokus. Frisch will einen »Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart« ausmachen, vergisst dabei aber, das sämtliche dieser Frage nie in einem dogmatischen Vakuum verhandelt werden, sondern immer mindestens implizite dogmatische Aushandlungen rückgebunden sind, die zweifellos auch jederzeit Gegenstand theologischer Aushandlungen werden können.

Aber schon der Vorwurf »ethischer Häresien« geht hier fehl, weil er das Bild eines Protestantismus zeichnet, in dem es nur die eine evangelische Handlungsoption gibt. Das ist schlicht falsch. Dass Frisch daraus dann die vermeintliche dogmatische Häresie eines menschgemachten Versuchs der Vorwegnahme eschatologischer Versprechen macht, wirkt nachgerade als Folgefehler. Frisch fordert sodann eine ›Ent-Eschatologisierung‹ zum Zwecke einer klareren Debatte: »Das eigentliche theologische Problem wäre dann also nicht die Frage, wie es um das Weltklima bestellt ist, sondern die Tatsache, dass ein neuer Glaube entstanden ist.« Hier schließt sich der Kreis. Die Forderung nach der Ent-Eschatologisierung kann überhaupt nur für denjenigen plausibel sein, der den Versuch einer Klimarettung als Akt menschlicher Anmaßung begreift. Die für Frisch offensichtlich unbequeme Klimaschutzbewegung, wird durch ihn zunächst religiös aufgeladen, damit er dann unter Zündung eines theologischen Tischfeuerwerks den Versuch einer Sprengung derselben vornehmen kann. Wer sich als Theologe in Zeiten einer zunehmenden Entchristlichung und einer Infragestellung des eigenen Lebensstils durch andere an zwei Fronten angegriffen wähnt, darf sich – gerne auch offensiv – verteidigen. Die Strategie dazu will aber gut überlegt sein. Wenn ich, wie im law of the instrument beschrieben, mein Problem erst zum Nagel machen muss, weil ich nur einen Hammer habe, dann sollte ich sie überdenken.

Beinahe vernachlässigbar erscheint in diesem Lichte, dass theologisch Fragwürdiges politisch angereichert wird: Frisch bedient sich eines Potpourris von Ressentiments, wenn er den Klimawandel als geologisches Phänomen mit einem sozialen Klimawandel in Verbindung bringt. »Ökodiktatur« und die Wünsche vermeintlich privilegierter Stadtbewohner_innen werden hier als Motoren einer Wähler_innenwanderung zu den Rechten dargestellt – weil diese sich politisch anders nicht nur nicht mehr repräsentiert, sondern auch diskreditiert fühlen würden.

Frischs Strategie der Einhegung, der Betonung des dünnen Eises und des schmalen Grates, auf dem er sich bewege und die fortwährende Rede von sich selbst in der dritten Person kann man als schamhafte Distanzierung vom eigenen Machwerk in doppelter Hinsicht interpretieren – als vorweggenommene Distanzierung von der Beleidigung Thunbergs und als Distanzierung vom Text, der eben diese einer Reflexion unterziehen soll.

Ralf Frisch wollte gerne den ›Fuck you Greta‹-Aufkleber an sein Auto kleben, hat es aber wegen seiner »theologische[n] Affektkontrolle« nicht getan. Sein – zu einem nach Ansicht der Herausgegebenden »streitbaren« Text geronnenen – theologischer Irrweg offenbart dabei weitaus mehr als es der Aufkleber, der ans Auto sollte, je gekonnt hätte.

 

Hermann Diebel-Fischer ist evangelischer Theologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Systematische Theologie der Universität Rostock (Projekt: „Netz-Stabil“).

 

(Quelle Titelbild: https://www.flickr.com/photos/schrift-architekt/10127383934, CC BY-SA 2.0)

 

Rezension zu: Christian Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie.

Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019.

Rezensiert von Martin Böger, veröffentlicht am 27.07.2019

Schnell wird bei der Lektüre der neuesten Veröffentlichung des Wiener Systematikers Christian Danz deutlich, dass es ihm nicht lediglich um eine Darstellung verschiedener historischer pneumatologischer Ansätze geht, die ins systematische Gespräch untereinander oder mit dem biblischen Zeugnis gebracht werden sollen. Vielmehr wagt sich Danz daran, einen neuen, ambitionierten und überaus elaborierten pneumatologischen Entwurf in die theologische Debatte einzuspielen, der zum Weiterdenken anregt!

Aufgebaut ist die Studie in drei Hauptabschnitte. Ausgehend von einer präzisen Beschreibung der pneumatologischen Diskurse der Moderne kommt Danz zu seinem Vorschlag einer dogmatischen Reflexion des christlichen Glaubens. Dessen konkrete Anwendung auf eine Pneumatologie und deren aktuellen Herausforderungen in der Pluralität der Welt und ihren medialen Wirklichkeiten werden im letzten Hauptteil der Studie dargelegt.

Im Kapitel zum „Heiligen Geist in den theologischen Diskursen seit der Moderne“ wendet sich Danz aus zwei Richtungen der Problematik einer konsistenten theologischen Pneumatologie zu. Die Frage ist für ihn einerseits, wie mit der Erfahrung von und der Suche nach dem (universalen) Wirken und Wirkungen des Heiligen Geistes aus theologischer Sicht zu verfahren ist und die von ihm gesehene Herausforderung besteht andererseits darin, die Transformationen der protestantischen Pneumatologie durch den Lauf der jüngeren Theologiegeschichte nachzuverfolgen.

Für die Reformatoren wird die Rede vom Heiligen Geist zuallererst mit der Heilsaneignung verknüpft. Im Heiligen Geist bekommt der Gläubige Anteil am Heilswerk Jesu und vergegenwärtigt sich das Zeugnis Jesu Christi und damit sein Erlösungswerk am Kreuz. Mit der fortschreitenden Aufklärung kommt die Theologie an einen Wendepunkt. Es kommt zum Bruch mit der klassischen Vorstellung einer Verbalinspiration und damit zu einer Loslösung des Gottesgeist von seiner exklusiven Beziehung zur Heiligen Schrift.

Der Geist Gottes wird nunmehr in der von der Aufklärung geprägten theologischen Debatte im religiösen Subjekt wirksam und im allgemeinen Weltverlauf erkennbar. Aufgabe des religiösen Subjektes wird es in der Romantik, jenen Geist Gottes zu identifizieren und zu seiner höchsten Gestalt, nämlich zu dem sich selbst durchsichtigen Gottes- und Weltverhältnis zu führen. Einen zweiten entscheidenden Turn in der Theologiegeschichte der Moderne entdeckt Danz in der Kritik der dialektischen Theologie an genau jenem religiösen Subjekt als Ausgangspunkt des christlichen Glaubens. Nach Danz ist diese Kritik anzunehmen, da eine subjektstheoretische Religionstheorie unweigerlich zu erheblichen Schwierigkeiten und Aporien in unserer pluralen und säkularisierten Gegenwart in Bezug auf das Menschenbild führen muss: Was ist mit Menschen, die nicht religiös sind und leben? Sind sie qua Definition defizitär zu sehen und zu denken?

Nach dieser dekonstruktivistischen Grundlegung kommt Danz damit im dritten Kapitel zu seinem eigenen Vorschlag, nämlich Religion als Kommunikation zu verstehen und damit der Dogmatik nicht länger eine begründungstheoretischen Aufgabe zuzusprechen, sondern ihren Auftrag vielmehr darin zu sehen, dieses Kommunikationsgeschehen zwischen Inhalt, Darstellung und Aneignung innerhalb der christlichen Religion zu reflektieren.

Danz plädiert dafür, den Ereignischarakter des Glaubens („Gott offenbart sich als der Herr“), wie er in der dialektischen Theologie stark gemacht wurde, zu betonen und diese Einsicht auf das Ganze des christlichen Selbstverständnisses auszuweiten. Christliche Religion ist für Danz eine ganz bestimmte Art der Kommunikation: mit Inhalt, symbolischem Code und deren individueller Aneignung. Dabei ist sie stets eingebettet in eine trinitarische Form des Glaubensvollzugs zwischen Geber, Gabe und Aneignung, wobei jene trinitarische Formel keine vorgeordnete Wahrheit des Glaubens mehr beschreibt, sondern schon immer Teil des Glaubensvollzuges ist. Religion wird damit in ihrer Begründung und in ihrem Vollzug von allgemeinen ontologischen, inhaltlichen wie subjektstheoretischen Überlegungen befreit und nur im Rahmen ihrer eigenen Grenzen und Voraussetzungen definierbar. Damit hält er geradezu grundlegend und höchst anregend für das Wesen der christlichen Religion fest, dass sowohl der Gottesbegriff als auch das religiöse Subjekt nicht länger als Voraussetzung des Glaubens/Religion gedacht werden müssen, sondern als deren unhintergehbare Bestandteile.

Die christliche Religion ist eine sprachliche Selbst- und Weltdeutung, die durch die Benutzung und den Gebrauch von religiösen Formen erst als solche in der Kultur hergestellt und in ihr kommuniziert wird. Glaube als Vollzug der Religion entsteht weder durch die christliche Überlieferung noch durch ein vorausgesetztes religiöses Subjekt oder ihr bereits vorgegebene religiöse Gehalte, sondern – als eine in der Kultur ausdifferenzierte Sinnform – aus dem Wechselverhältnis der drei Momente [: Gott – das religiöse Verstehen; Jesus Christus – das Bild des Glaubens von sich selbst; Heiliger Geist – die Erinnerung an Jesus Christus]“[1]

Christliche Religion ist mit der Vokabel des Philosophen Markus Gabriel gesprochen ein Sinnfeld unter vielen anderen, das innerhalb seiner selbst nach gelingender Kommunikation zwischen Inhalt, Darstellung und Aneignung strebt. In dieser triadischen Struktur wird für Danz das greifbar und beobachtbar, was christlicher Glaube ist: Es ist die religiöse Kommunikation im Spannungsfeld von Etwas, das gegeben wurde – hier kann er sogar den barth’schen Offenbarungsbegriff einbauen, einer Gabe des Lebenszeugnisses Jesu Christi und der Aneignung dieser Erinnerung. Damit wird Gottes Geist von Danz nur in der christlichen Religion auffindbar und nicht universal erfahrbar. Der Heilige Geist erinnert exklusiv an das Lebenszeugnis Jesu Christi innerhalb der christlichen Religion.

Damit muss eine Dogmatik nicht mehr eine Begründung des christlichen Glaubens liefern, sondern die Kommunikationsstrukturen christlicher Religion offenlegen und diskutieren. Pneumatologie wird so zur Grundaufgabe der christlichen Religion, nämlich in Abhängigkeit zum Ursprungszeugnis diese christliche Kommunikation neu zu formulieren und darin erkennbar und doch stets dem jeweiligen Erfahrungshorizont angemessen zu sein. Eine Pneumatologie hat dann genau diese Rede von Gabe, Geber und Aneignung zu reflektieren und in der Abhängigkeit zwischen Christusereignis und deren stets neu zu vollführender Aneignung zu reflektieren.

Danz eröffnet mit dieser Sicht auf den christlichen Religionsbegriff neue Wege im Selbstverständnis des christlichen Glaubens in der Gegenwart und in unserer interreligiösen-pluralen Wirklichkeit. Denn die christliche Wahrheit über Sein, Sinn und Ziel des Lebens existiert im Vorschlag Danz zuallererst innerhalb der christlichen Religion und nie außerhalb. Aus dem Entwurf lese ich so auch ein Plädoyer heraus, sich auf den Kern des Religiösen zu konzentrieren, nicht zuerst die Nebenschauplätze des Gesellschaftlichen und Politischen zu suchen, sondern das weiterzugeben, was wir in Gottesdiensten, in Liturgie und Unterricht von kirchlichen Angeboten als Vollzug unseres Glaubens anbieten: unsere religiöse Kommunikation (Aber wie sähe das konkret aus? Mehr Katechismusunterricht? Mehr Bibellektüre? Wie kann sich ein solcher inhaltlicher Diskurs um die inhaltliche Ausrichtung von Gemeinden nach innen und nach außen konkret vorgestellt werden?)

Auch innerhalb des Christentums und seiner Diskurse zwischen Ursprungstreue und Anpassung an den Zeitgeist eröffnet ein solcher Blick viele Freiheiten und Chancen. Wahre und falsche Fortschreibungen des Christuszeugnisses werden nach Danz dadurch unterschieden, dass die verschiedenen Glaubenden ihre jeweiligen Einsichten nebeneinanderstehen lassen können, in Konsens, Diskurs und Toleranz. Das Kriterium der gelingenden und damit das Christuszeugnis vergegenwärtigenden religiösen Kommunikation ist dann gegeben, wenn sich Gabe, Geber und Aneignung im Moment ihrer Kommunikation gegenseitig erschließen und auslegen.

Danz hält so, etwas überspitzt formuliert, ein dogmatisch-pneumatologisches Loblied auf den errungenen Kompromiss, den wir in unserer evangelischen Tradition nur zur Genüge kennen, an dem wir uns manchmal ärgern, der uns öfters unzufrieden zurücklassen kann und doch ein immens hohes Gut darstellt, wenn er gemeinschaftlich errungen wird.

Einen Moment des Unbehagens muss ich jedoch formulieren: Danz festigt mit seinem Vorschlag m.E. einen minimalen Anspruch des Christlichen auf Wahrheit und Heil, der sich in dieser Zurücknahme wohl nur schwer aus dem biblischen Zeugnis und der Theologiegeschichte herauslesen lassen kann. Ich tue mich damit schwer, nur darin den christlichen Glaubensvollzug als gelingend zu erkennen, wenn wir innerhalb unseres eigenen christlichen Sinnhorizonts konsensfähig unterwegs sind. Ich denke, der Stachel der Wahrheitsfrage muss auch in einem pluralisierten Umfeld bestehen bleiben – ganz sicher nicht unter intoleranten-fundamentalistischen Vorzeichen, aber doch um die Ernsthaftigkeit der Sache willen. Es gibt m.E. vielleicht doch noch einen erweiterten Anspruch und Zuspruch des christlichen Glaubens jenseits seines religiösen Binnendiskurses, der im Vorschlag Danz nicht vollständig abgebildet werden kann und der uns an die Grundfrage der Moderne führt: Was ist Wahrheit und wie gehen wir mit unterschiedlichen Wahrheiten in unserer pluralen Wirklichkeit um? Ablehnend, wertend, oder tolerierend?

Aber vielleicht tut dann im Blick auf diese Komplexität ein solcher Vorschlag aus Wien gut, sich erst einmal konsistent und konsequent um die eigne Tradition und deren Sinnzusammenhänge zu bemühen, bevor man das große Ganze in den Blick nimmt oder das Eine gegen das Andere ausspielt.

 

[1] Danz, Gottes Geist, 139.