Freiheit predigen

Der Reformationstag 2021 in fünf Auslegungen

von Martin Böger, Tobias Jammerthal, Claudia Kühner-Graßmann, Niklas Schleicher und Julian Scharpf
(ein Klick auf die Namen springt direkt zur jeweiligen Predigt)

Es ist ruhiger im auf dem Blog des Netzwerkes für Theologie in der Kirche geworden. Wenn wir Texte verfassen, dann höchstens ab und an in der „Eule“. Die Ruhe hat mehrere Gründe, einer ist sicherlich, dass wir mittlerweile an unterschiedlichen Orten tätig sind, die gerade mehr Aufmerksamkeit fordern, sei es Vikariat, Pfarramt oder Assistenz an der Universität.

Anyway, der große Teil von uns ist mehr oder weniger regelmäßig sonntags im Einsatz und predigt. Wie es der Zufall so will, haben fünf (also fast alle der Stammmannschaft) am Reformationstag Gottesdienst gehalten und Galater 5, 1-6 ausgelegt. Luthers Anliegen war zunächst wahrscheinlich ein genuin theologisches. Seine Ideen für die Reform der Kirche stammen aus seinen Reflexionen auf die biblischen Büchern. Auch deshalb erscheint es vielleicht interessant, was unsere Gruppe, die sich ja schon im Titel irgendwie der Rolle von Theologie in der kirchlichen Praxis gegeben hat, aus diesem Text zu diesem Tag macht.

Deshalb hier, zwei Tage nach dem Reformationstag: Predigten vom NThK zu Galater 5, 1-6 oder eben: Freiheit predigen. Es geht mal über Checklisten, mal über Pathos, mal über Luther in Worms, mal über Glaube und Werke, mal über staatliche Ordnungen, aber immer geht es um die Frage, was dieser Paulustext, die Reformation und die Freiheit, die in beiden steckt, uns heute noch bedeuten kann. Mögen die Predigten beispielhaft zeigen, was unterschiedliche Zugänge aus ein und demselben Text holen können und wie sie ihn zum Sprechen bringen. Wir freuen uns auf Rückmeldungen.

                                                                       Niklas Schleicher

Martin Böger: „Reformation als Vergewisserung: Gott will freie Menschen“

(gehalten in der Eberhardskirche Tübingen)

Liebe Gemeinde,

manchmal, ja manchmal überkommt mich ein Durst nach etwas Pathetischem. Und manchmal stille ich diesen Durst mit Gesang von Konstantin Wecker, Hannes Wader – mit Arbeiterliedern. Die Internationale, Auf auf zum Kampf oder auch Bella Ciao, Bella Ciao tönt es dann durch unser Haus und besonders aus der Küche heraus. Ich glaube, was mich an diesen Liedern besonders anspricht, ist deren besonderer Sound, deren Patina. Deren unbändiger, ansteckender Ruf nach Freiheit, nach Veränderung. Der Kampf einer kleinen hartgesottenen Gruppe, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengibt, sondern die etwas wagt, die etwas riskiert. Die um Freiheit, Gerechtigkeit und Anerkennung kämpft, ganz egal wie übermächtig und groß die Gegenmächte sind. Und selbstverständlich spricht aus ihnen auch immer eine gewisse Tragik, eine Schwere, eine Ahnung, dass die Wirklichkeit so manchen Visionen im Weg steht. Andere mögen sagen, aus ihnen spricht auch eine gewisse Wirklichkeitsferne, eine verblendete Ideologie – das mag sein. Und doch finde ich ihre Grundstimmung ansteckend, inspirierend und trotzig.

Zu diesen pathetischen, revolutionär-kämpferisch musikalischen Aufrufen passt in gewisser Weise der Predigttext zum heutigen Reformationstag aus dem Galaterbrief im 5. Kapitel, Verse 1-6:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Ich kann es mir beinahe vorstellen, wie Hannes Wader und Konstantin Wecker diese Verse mit Gitarrenmusik schmettern. Und auch ein anderer hat sich von dieser pathetischen, revolutionär- kämpferischen Grundstimmung des Evangeliums anstecken lassen -nur 500 Jahre früher auf dem Wormser Reichstag.

Vor Kaiser und Reichsständen bekannte der junge Augustinereremit Martin Luther, wohlwissend, dass seine Weigerung seine Schriften zu widerrufen ihn am eigenen Leben bedrohen könnte. „Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich, ich kann nicht anders Gott helfe mir. Amen.“

Paulus und Luther. Zwei christliche Köpfe, an denen man sich reiben kann, die knallhart formulieren und beide in besonderer Weise für ihre Überzeugungen eingestanden sind. Beide unserem Verständnis des Glaubens einen erheblichen Schubs und Drall verpasst haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Um was ging es Paulus in diesen Versen? Es ging Paulus um die Frage der Beschneidung. Müssen sich Männer erst beschneiden lassen, bevor sie Christen werden können? Mit diesen Versen wollte Paulus keine antisemitische Ressentiments bedienen oder eine etwas verquere theologische Grundsatzdiskussion anzetteln, ob Gott sein jüdisches Volk verstoßen haben könnte. Sondern schlicht und einfach darum, wie das, was Gott in Jesus von Nazareth, der Welt offenbart hat, zu deuten ist. Es scheint so, dass die Galater in dieser Frage nicht wirklich entschieden waren. Denn sie verhielten sich einmal so. Dann wieder anders. Sie taktierten. Trafen Entscheidungen situativ. Lavierten sich durch. Und dieses Durchlavieren, dieses mal so mal so, das bringt Paulus auf die Palme. Nicht weil Paulus grundsätzlich und am liebsten schwarz/weiß denken möchte und nicht nachvollziehen könnte, dass es auch Graubereiche des Lebens gibt, wo es kein eindeutiges ja oder nein gibt. Sondern darum, weil an dieser Frage, an diesem herumlavieren das Evangelium an sich in Frage gestellt wird.

Weil das Herumlavieren an dieser Stelle das Tor zu Gedanken, man müsste etwas leisten, um in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden, weit und unumkehrbar aufstoßen. Und hier ist das Evangelium, die Liebe, die Freiheit in Christus, im Glauben mehr als eindeutig: Gott wertet nicht das Menschsein, stellt keinen Kriterienkatalog auf. Und deshalb stellt das Verhalten der Galater, das Ja, man könnte sich „Ja vielleicht auch einfach beschneiden lassen“ alles in Frage.

Das Evangelium ist an dieser Stelle Freiheit von Erwartungsdruck, Vorbedingungen und einem Kriterienkatalog. Die Freiheit davon, Erfolg haben zu müssen, um als Mensch etwas zu gelten, eine Würde zu haben. Die Freiheit davon, aus dem eigenen Leben und Alltag möglichst das Optimum, das Beste herauszuholen, immer perfekt zu sein müssen. Wir sind alle hineinverstrickt in Geschichten voller Illusion und Lüge, voller Schuld und Unvermögen. Stecken eigentlich in so mancher Unfreiheit und labeln sie als Freiheit. Paulus war überzeugt, kein Mensch kann sich aus eigener Kraft befreien. Die Freiheit, von der Paulus spricht, ist daher eine von Gott geschenkte, durch Christus gewirkte Freiheit. Es ist also eine Freiheit von etwas. Die Freiheit von der Angst um sich selbst. Die Freiheit, den eigenen Unzulänglichkeiten, den Zweifeln an sich selbst liebevoll begegnen zu dürfen. Die Freiheit, nicht unter dem Druck zu stehen, das eigene Leben zum Erfolg führen zu müssen. Wir sind zur Freiheit berufen, wir sind nicht zur Freiheit verdammt. Evangelische Freiheit gründet im Wissen um die Rechtfertigung des Gottlosen. Das heißt, sie gründet nicht in meinem Vermögen oder Unvermögen, nicht in meinem Erfolg und eben auch nicht Misserfolg. Sie weiß um die Abgründe und die Balken im eigenen Auge.

Und in dieser Freiheit ergeben sich neue Blickwinkel auf mich selbst und selbstkritische Überprüfungen, wie ich durchs Leben gehe, an welchen Dingen ich mein Herz aufhänge, welchen Zielen ich nachjage und welche Ketten ich mich unterjoche.

Gott will uns als freie Menschen. Franz Rosenzweig erzählt in seinem großen Werk „Der Stern der Erlösung“ von einer rabbinischen Legende, die von einem Fluss in einem fernen Lande erzählt, der so fromm sei, dass er am Sabbat nicht fließe. Rosenzweig folgert: Wenn dieser Fluss nun durch Frankfurt flösse, dann würde die ganze Judenschaft dort den Sabbat halten. Aber Gott – so Rosenzweig – will das nicht und tut das nicht. Es graut ihm vor dem unausbleiblichen Erfolg: Weil dann die Unfreiesten, die Ängstlichen und Kümmerlichen die „Frömmsten“ wären.

Gott will freie Menschen. Solche, die über ihre Angst und über ihre Anerkennungssehnsüchte hinauswachsen. Solche, die den Himmel schauen und mit offenem, freien Blick den Nächsten, die Nächste neben sich sehen. Ich muss nicht damit hadern, dass ich ein endliches Wesen bin. Ich muss nicht Gott sein. Ich darf Mensch sein. Gott will uns als freie Menschen, weil nur freie Menschen zur Liebe fähig sind. Freiheit so verstanden, ist deshalb kein Standpunkt, sondern ein Weg, auf den uns Gott gesetzt hat. Ein abenteuerlicher und riskanter Weg, der immer wieder an Grenzen führt. Ein Weg, der lebendig erhält und immer wieder auch ins Leben ruft.

Liebe Gemeinde, das Reformationsfest ist nicht nur ein Datum im Kalender. Nicht nur die Erinnerung und der Wunsch nach einer Kirche, die sich nicht eingräbt, sondern sich verändern kann und will. Reformation ist kein Standpunkt, sondern die Vergewisserung auf welchem Weg wir uns befinden und mit wem wir diesen Weg gehen. Mit einem Gott sind wir unterwegs, der uns mit Glaube, Liebe und Hoffnung beschenkt hat und der nicht will, dass wir dieses Geschenk vergraben. Angesteckt durch die Kraft der Freiheit, in die wir hineingenommen sind, die uns lebendig macht, wollen wir es uns nicht nur bequem machen, in den manchmal nur allzu bequemen Ketten, des schon immer so und weiter so. Bereit, etwas zu wagen und zu riskieren. Die aktuellen Herausforderungen für uns als Kirchen der Reformation -auch hier in Tübingen – sind riesig, aber nur gefühlt erdrückend. Evangelische Freiheit bedeutet auch hier, sich vom Druck Erfolg haben zu müssen, befreien zu dürfen und in gewisser Weise angstfreier in die Zukunft zu blicken.

Und so passt dieser Ruf, diese Vergewisserung der geschenkten Freiheit zu der eingangs erwähnten pathetischen Untertönen mancher Arbeiterliedern: als Erinnerung, als Sehnsucht, als Möglichkeit mutig zu sein, trotzig zu sein, sich nicht entmutigen zu lassen, den Spielraum der Freiheit auszuloten. Evangelische, christliche Freiheit hat für mich daher auch etwas mit Lebendigkeit zu tun. Die Freiheit aus Gott lässt uns leben, hoffen, lieben, streiten und gestalten. Gemeinsam. Miteinander. Und Füreinander.

Amen.

Tobias Jammerthal: „Wider dem himmlischen Girokonto, oder: Aus Freiheit tun was zu tun ist“

(gehalten in der Christuskirche Unterrottmannsdorf im Dekanat Ansbach)

Die Gnade unseres Herren Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Lasst uns Gott in der Stille um den Segen für sein Wort bitten.

-Stille-

Segne, himmlischer Vater, unser Reden und Hören. Amen.

So steht es im Brief des Paulus an die Galater, im fünften Kapitel:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Herr segne dies Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde!

Am Reformationstag steht heute bei Ihnen ein Reformationshistoriker auf der Kanzel – Luther, Melanchthon und wie sie alle heißen, sind mein wissenschaftliches Spezialgebiet; ihr Denken und ihr Handeln fasziniert mich – und deswegen könnte ich sehr lange darüber reden. Aber in unserer Kirche ist es üblich, dass der Prediger nicht über alles Mögliche spricht, was ihn privat interessiert, sondern über einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift – und das hängt durchaus mit dem zusammen, was wir am Reformationstag feiern: Dass wir nämlich in der Heiligen Schrift alles finden, was wir für unser ewiges Heil wissen müssen. Und dass Predigt keine unverbindliche religiöse Rede ist, sondern Verkündigung des Evangeliums, der frohen Botschaft vom gnädigen Gott. Deshalb also heute kein kirchengeschichtlicher Vortrag über Luther und seine Freunde – sondern Predigt über einen Abschnitt aus dem Galaterbrief. Unser Predigttext ist kurz, aber er hat es in sich. Ich will versuchen, drei Punkte herauszugreifen, die für uns heute besonders wichtig sind: Der erste steht unter der Überschrift „Ganz oder gar nicht“, der zweite handelt vom Glauben und von den Werken, und ein dritter Punkt heißt schlicht, aber bedeutungsschwanger, „Freiheit“. Doch der Reihe nach!

Zum ersten: „Ganz oder gar nicht“. Paulus schreibt an eine Gemeinde aus sogenannten Heidenchristen; das waren also Menschen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, ohne vorher Juden zu sein. Bald nach der Gemeindegründung scheint es dort so gekommen zu sein, dass manche ihre Vorliebe für bestimmte alttestamentliche Vorschriften entdeckt haben. Die neutestamentliche Wissenschaft vermutet, dass es vor allem um Fasten- und Reinheitsgebote ging, also um bestimmte Praktiken der Frömmigkeit, durch die man sich sichtbar von anderen Menschen unterscheiden konnte – klar: Wenn alle außer mir Fleisch essen, bin ich etwas Besonderes, vor allem, wenn ich dann noch sagen kann, dass ich damit Gott gehorche. Der Höhepunkt dieser Frömmigkeit, die sich vor allem daran zeigte, an bestimmten Tagen zu fasten und bestimmte Reinheitsvorschriften zu befolgen, war die Beschneidung. Paulus hat für das alles nichts übrig: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ (V.2f). Wenn ihr euch am antiken Judentum orientieren wollt, ruft er den Galatern zu, dann funktioniert das nicht so, dass ihr euch nur bestimmte Teile davon aussucht – sondern das geht nur ganz oder gar nicht. Ich finde, darin steckt eine wichtige Mahnung gerade auch für uns heute: Immer wieder meinen Christen, sie wären besonders fromm, wenn sie bestimmte alttestamentliche Regeln besonders streng einhalten. Dazu gehört dann meist ein geringschätzender Blick auf alle, die das nicht tun. Paulus erinnert uns aber daran, dass es so nicht funktioniert. Wir können nicht – zum Beispiel – in der Sexualethik bestimmte Stellen aus dem Alten Testament zitieren und gegen andere Menschen ins Feld führen – und auf der anderen Seite am Samstag arbeiten oder nicht zehn Prozent unseres Einkommens spenden oder nur Menschen aus unserem eigenen Dorf heiraten oder auf der Anwendung der Todesstrafe für Ehebrecher bestehen. Wer meint, er müsste die Einhaltung alttestamentlicher Vorschriften zum Kriterium der Gottesbeziehung machen, der muss sich von Paulus anhören, dass er das nur tun kann, wenn er sich auch wirklich an alle diese Vorschriften hält. Aber das ist noch nicht alles: „Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen… ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (V. 2+4) ruft Paulus uns zu: Wer meint, er wäre besonders fromm, weil er – im Gegensatz zu anderen – auf bestimmte Regeln achte, seien die nun aus dem Alten Testament oder aus dem Bereich der Politik genommen, der hat sich von Christus abgewendet. Das klingt hart, ist aber nur folgerichtig: was hat es noch mit der Liebe Gottes zu tun, die in Jesus Christus Mensch geworden ist, wenn ich mich selbst darüber profilieren will, dass ich Dinge tue, die mich von anderen unterscheiden – und anderen vorwerfe, dass sie dabei nicht mitmachen?

Das ist starker Tobak – für uns heute wie damals für die Galater – aber damit sind wir schon beim zweiten Punkt: Glaube und Werke. Wir feiern heute den Gedenktag der Reformation. Wir erinnern uns dankbar daran, dass eine ganze Reihe von Theologen vor fünfhundert Jahren wirkungsvoll darauf hingewiesen hat, dass unser Seelenheil nicht davon abhängt, was wir tun. Einen der wichtigsten Bibeltexte, auf die sich Martin Luther stützte, haben wir vorhin in der Epistel gehört: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart… So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Röm 3,21+28) Es gehört zum Kernbestand evangelischen Christentums, dass wir uns das immer wieder sagen lassen – gerade angesichts dessen, dass wir genauso wie alle Anderen immer wieder dazu neigen, dann eben doch Vorschriften darüber aufzustellen, unter welchen Bedingungen jemand „richtig“ Christ ist oder nicht. Aber sobald wir das Seelenheil eines Menschen an irgendwelche Bedingungen knüpfen wollen, erhebt Paulus schärfsten Einspruch – genau das ist ja das Evangelium, die frohe Botschaft, die er den Römern genauso wie den Christen in Galatien und auch uns heute vermitteln will, dass es solche Bedingungen nicht gibt. Den Römern sagt er es im Guten: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) – den Galatern schreibt er es ziemlich vorwurfsvoll ins Stammbuch, wie wir gehört haben: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt“ (Gal 5,4). Das, was wir tun, kann keine Bedingung dafür sein, dass Gott uns in Liebe annimmt. Das, was Christus für uns getan hat, reicht aus dafür, dass Gott uns in seine Gemeinschaft nimmt – wir müssen es nicht durch irgendeine Handlung bestätigen, als ob Gottes Heilshandeln von unserer Zustimmung abhängig wäre.

Soweit, so bekannt – aber hat das, was wir tun, denn wirklich gar keine Folgen für unsere Gottesbeziehung? Hier stellt sich nicht nur die Frage, warum ich mich eigentlich an irgendwelche ethischen Regeln halten sollte: Vorhin in der Evangelienlesung haben wir gehört, dass Christus Menschen, die bestimmte Dinge tun, als „selig“ preist. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. … Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,7+9) und so weiter – ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Paulus schreibt? Paulus schreibt den Galatern und den Römern ins Stammbuch, dass unsere Seligkeit nicht von dem abhängt, was wir tun – und Jesus predigt, dass alle, die bestimmte Dinge tun, selig sind? Hier gilt es, ganz genau hinzuschauen. Was auf den ersten Blick nach einem Widerspruch aussieht, gehört nämlich zusammen. Und den Schlüssel dafür, das zu verstehen, liefert uns unser Predigttext: „In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Ja: Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Handeln. Ja, was wir glauben und was wir tun, hängt miteinander zusammen – nur eben anders, als wir es auf den ersten Blick meinen. Die naheliegendste Lösung begegnet uns auch in unserer Kirche immer wieder: dass gute Taten nämlich den Glauben zeigen – mit anderen Worten: nur wer Gutes tut, glaubt auch. Und dann ist es, ehe wir uns versehen, eben doch so: Nur diejenigen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, sind „richtige“ Christen. Es ist aber genau anders herum: Der Glaube ist durch die Liebe tätig – nicht gute Taten zeigen uns den Glauben. Das klingt spitzfindig – ist aber ein großer Unterschied.

Und damit sind wir beim dritten Punkt: der Freiheit. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) ruft Paulus aus – und das ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, dass sie Gutes tun, ohne dass sie es für irgendeinen eigennützigen Zweck tun müssten. Das ist die Seligkeit, von der Jesus spricht, dass wir aus dem Glauben daran, dass Gott uns bedingungslos liebt, selbst lieben können – ohne damit irgendwelche Nebenabsichten verbinden zu müssen. Wir sind davon befreit, etwas tun zu müssen, um von Gott geliebt zu werden; befreit davon, aus Angst vor Gott etwas tun zu müssen – und befreit dazu, uns unseren Mitmenschen liebevoll zuzuwenden, und das heißt: um ihrer selbst willen. Wenn ich liebe, helfe ich einem Anderen, weil er Hilfe nötig hat – und nicht, weil ich mein himmlisches Girokonto durch eine gute Tat auffüllen muss und Angst habe, dass mein Guthaben eventuell noch nicht reichen könnte für ein Ticket in den Himmel. Christus hat uns dazu befreit, in unseren Mitmenschen nicht Mittel zum Zweck unserer Seligkeit zu sehen – sondern eben Mit-Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das ist unsere Freiheit und deswegen preist Christus uns selig, dass wir aus dem Vertrauen auf den gnädigen und liebenden Gott heraus die Kraft gewinnen, Gutes zu tun. Nicht, weil wir es müssten, sondern weil wir es wollen.

Jedes Mal, wenn wir den Reformationstag feiern, liebe Gemeinde, sollen wir uns das aufs Neue gesagt sein lassen: Dass Gott selbst uns durch seinen Sohn Jesus Christus von allen Zwängen befreit hat. Dass er uns die Freiheit geschenkt hat, uneigennützig zu sein. Und dass es deswegen gar nicht nötig ist, dass wir selbst irgendwelche Bedingungen dafür aufstellen, was ein richtiger Christ ist – egal, ob wir sie aus dem Alten Testament nehmen oder aus einem System politischer Korrektheit. Freuen wir uns lieber daran, was Gott für uns getan hat – und achten wir darauf, wo wir gebraucht werden. Denn nachdem uns die Last von den Schultern genommen ist, dass wir vor Gott irgendwelche Bedingungen erfüllen müssten, können wir uns befreit und kraftvoll dem zuwenden, was zu tun ist, damit die Not anderer Menschen gelindert wird. Ganz irdisch. Ganz im Hier und Jetzt. Zur Freude Gottes und zum Nutzen unserer Mitmenschen. Ja: Selig sind diejenigen, die so befreit ans Werk gehen dürfen!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Claudia Kühner-Graßmann: „Zerreißt die Checklisten, oder: Die Freiheit vom Zwang, etwas für unser Heil tun zu müssen“

(gehalten in St.Leonard in Nürnberg)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Amen

I. Einstieg: Wunderbare Checkliste

Liebe Gemeinde,

erstellen Sie To-Do-Listen? Ich gestehe, ich mag es gerne. Mit so einer Liste hab ich alles im Blick, was ansteht. Bin also gut organisiert und minimiere die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vergessen. Aber das eigentliche Highlight einer solchen Checkliste ist das Abhaken. Es wird ganz sichtbar, was ich alles schon geschafft habe. Und gut, auch das, was ich noch machen muss. Im besten Fall stellt sich ein gutes Gefühl ein, wenn endlich der letzte Punkt abgehakt ist. Der Blick auf das, was geschafft ist. Visualisierung der eigenen Leistung.

Beruhigung und Selbstvergewisserung. Berechnung und Beherrschung des Chaos.

Wie sieht es aus mit einer Checkliste für den Glauben? Paulus hat eine starke Meinung dazu. Ich lese aus dem Brief an die Galater:

II. Predigttext

1Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!  2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,

in der Provinz Galatien war was los. Kein Vierteljahrhundert ist das Christentum alt. Mit den Missionsreisen des Paulus breitete es sich weiter aus. Nun waren es nicht mehr nur Judenchristen, also Menschen, die als Juden geboren und im Judentum erzogen worden sind, aus denen sich die Gemeinde Jesu Christi zusammengesetzt hat.

Neben denen, die zuvor schon Juden gewesen waren, traten die Bekehrten anderer Völker und Religionen. Das führte zu Diskussionen. Debatten. Streit. Dabei ging es nicht bloß darum, wer den Ton angibt, was die Zusammensetzung der neuen Glaubensgemeinschaft betrifft. Nicht bloß um die Befriedung einiger weniger Egos. – Darum natürlich immer wieder auch. Aber oft ging es ums Ganze. Die existentielle Dimension, die drängende Bedeutung dieser Debatten lässt sich in dem Ausschnitt, der den Predigttext für heute bildet, spüren. Vordergründiges Thema ist die Beschneidung, die für jüdischen Männern damals wie heute religiös vorgeschrieben war und ist. Damit ist allerdings nicht einfach nur der medizinische Akt der Entfernung der Vorhaut gemeint. Ja, darum geht es schon auch. Aber nicht in dem Sinne, wie die Debatte in unserer Gegenwart immer wieder öffentlich geführt wird. Inklusive antisemitischer Ressentiments.

So macht Paulus das nicht. Dazu ist für ihn die Beschneidung aber auch auf der religiösen Ebene zu bedeutungsvoll. Er selbst ist auch beschnitten. Dieser Ritus drückt die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel aus. Daher scheint es auf den ersten Blick zu verwundern, dass Paulus hier so bestimmt reagiert und den Galatern die Beschneidung regelrecht verbietet. 

Wer waren die Gemeindeglieder in der Region Galatien, mitten in der heutigen Türkei? Diese Gemeinden setzen sich aus verschiedenen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identitäten zusammen. Ich weiß nicht, was einige dazu gebracht hat, zu meinen, dass sie den Weg zu Jesus Christus über das Gottesvolk Israel gehen müssten. Ich kann mir vorstellen, dass manche von ihnen einfach alles richtig machen wollten. Es scheint auch verlockend zu sein. Ein sichtbares, körperliches Zeichen, eine formale Zuordnung zu Israel – wie eben viele ihrer Glaubensvorbilder auch. Wie Jesus, Petrus, Paulus. Dann könnte man einen Haken setzen auf der religiösen To-Do-Liste und man hätte da schon mal eine Art Gewissheit. Oder?

Genau an diesem Punkt setzt Paulus ein – und zwar gerade als einer, der diesen ganzen Weg einer frommen jüdischen Erziehung und dann der Neuaufnahme in die Christengemeinde gegangen ist.

2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 

Mit der Autorität seiner Person, seines Namens schreibt er, dass dieser Umweg über die Beschneidung den Galatern nichts bringt. Er schreibt:

Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 

Ganz oder gar nicht! Es geht nicht nur um Beschneidung. Denn zum Judesein gehört für Paulus, sich an das ganze Gesetz des Mose zu halten, damit sie was nützt. Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel gibt es nicht anders.

Aber dann gibt es noch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ist frei von diesen religiösen Vorschriften und Regeln, von all diesen Bedingungen. Paulus wettert gerade nicht gegen seine jüdischen Geschwister, erhebt sich nicht über sie. Für ihn und für alle, die an Jesus Christus glauben, ist dieses Gesetz aber überwunden. Hier gilt eine andere Regel: Kein menschliches Handeln, kein Gesetzeskatalog, keine besondere Vorleistung. Allein Jesus Christus und der Glaube an ihn befreien, retten, rechtfertigen.

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

III. Luther

Das klingt ja immer alles sehr schön. Die Befreiung durch Jesus Christus. Allein durch Gnade und allein im Glauben. Und ja, wenn ich diese Zeile höre: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Dann weiß alles in mir, dass das richtig ist. Kopf und Herz stimmen zu, manchmal bekomme ich etwas Gänsehaut. Faust in die Höhe, evangelischer Kampfmodus. Ganze besonders heute am Reformationstag. Und dann gibt es noch die andere Seite in mir. Die, die gerne Checklisten schreibt, sich von außen rückversichern muss. Die Seite, die die Galater nur zu gut versteht, die sich zur Sicherheit lieber beschneiden lassen wollen. Die Seite, die auch manchmal das Bedürfnis hat, einen Katalog abzuarbeiten: Gott, was soll ich machen, damit ich eine gute Christin bin? Ich denke, damit bin ich nicht alleine. Die Geschichte und ganz besonders die Reformationsgeschichte zeigt das ja durchaus.

Da war dieser junge Mönch,  – fast hätte er Jura studiert! –, dem die Ordensregeln wichtig waren und der alles richtig machen wollte. Der alle Vorschriften befolgen wollte und damit eine Zeit lang wohl auch ganz gut zurechtkam. Aber immer wieder diese Zweifel. Das Gewissen. Die Erkenntnis, dass Menschen überhaupt nicht das leisten könnten, was gefordert sein müsste, um vor Gott wirklich gerecht zu werden. Die Worte des Liebesgebotes im Ohr: Liebe deinen Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! Dieser ernsthafte Mönch lebte in einer Umwelt, in der es üblich geworden war, sich ein Stück Seelenheil zu erkaufen – durch Geld, Bußübungen, Gebete… Fromme Checklisten: 300 Rosenkränze gebetet. 1000 Gulden bezahlt. Die Reliquie eines Heiligen geküsst.

Nein, ich möchte mich nicht darüber erheben. Es ist für uns Menschen nicht einfach zu begreifen, was Jesus Christus für uns getan hat. Da erscheint es nur zu menschlich, dass man versuchte, sich den Glaubensstand irgendwie berechenbar zu machen. Aber das System frommer Absicherungen, sogenannter Ablässe, wurde damals doch ziemlich pervertiert. Da kam dieser Mönch, getrieben von eigenen Zweifeln –  und ganz plötzlich befreit durch seine Entdeckungen im Text der Bibel.

Martin Luther.

Ein streitbarer Mann. Laut, derb, im vollen Eifer für den Glauben. Er ist mit seiner ganzen Person für die Rechtfertigung allein aus Glauben, für die Befreiung allein durch Jesus Christus eingestanden. Hat dafür sein Leben riskiert – und komplett umgekrempelt. Er hat nicht nur darüber geschrieben, er hat das, was er verkündet hat, auch gelebt. Was mich aber am meisten beeindruckt: Luther kämpfte um der Sache willen. Und er wusste immer um die menschliche Unperfektheit – gerade auch derer, die glauben. Wie Paulus rief Luther immer wieder das ins Gedächtnis, worauf es ankommt:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 

Zeitlebens ließen Luther seine die Zweifel nicht los. Aber getragen von der tiefen Zuversicht, vom tiefen Vertrauen in Gottes Wohltat für uns konnte er dem jetzt standhalten.

IV. Paulus und Luther für uns

Paulus und Luther. Zwei Männer mit Mission. Der eine verbreitete die Botschaft von der befreienden Gnade durch Jesus Christus in der ganzen Welt und wurde nicht müde, seinen Gemeinden das weiter zuzusprechen. Der andere fühlte sich erstickt von den Vorgaben seiner Kirche und rief diese Botschaft der Erlösung allein durch Jesus Christus wieder ins Gedächtnis.

Beides prägende Gestalten unseres Glaubens. Vorbilder trotz allem. Gerade, weil sie alles andere als tadellose Superhelden sind. Denn genau das macht ihre Botschaft so eindringlich und glaubwürdig. Und ja, sie wussten beide, dass es schwer ist, die Beziehung zu Gott alleine von Gott her bestimmen zu lassen: nämlich befreit zu sein allein aus Gnade, allein im Glauben an Jesus Christus. Umso wichtiger ist es, diese Botschaft immer wieder zu hören:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Wir machen uns nicht selbst frei. Wir werden befreit. Ohne Gebote, ohne Eigenleistungen, ohne To-Do-Liste. Diese Freiheit wird mir zugesprochen und geschenkt. Ich muss dieses Geschenk nur auspacken, im Glauben annehmen. Und das Beste: auch nachträglich kommt nichts dazu, keine Vertragsbestimmungen, kein Gesetz, kein Verhaltenskodex, nichts, was ich von außen aufgedrängt bekomme. Die Freiheit durch Christus ist kein Vertrag, den ich schließe und im Nachhinein bemerke, dass ich das Kleingedruckte nicht gelesen habe.

Das immer so zu sehen, ist schwer. Umso wichtiger ist es darum, in sich zu gehen oder aus sich heraus, es von Gott selbst zu hören, sich mit anderen Gläubigen zu versammeln und auszutauschen – gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Nicht als Pflicht, sondern aus innerer Überzeugung, aus tiefem Betroffensein durch Jesus Christus, aus Glauben. Paulus wäscht auch uns den Kopf. Nicht, weil wir auf die konkrete Idee kommen, reihenweise den Umweg über die Beschneidung, über das Gesetz Israels  nehmen zu müssen. Luther ermahnt auch uns. Nicht, weil wir Ablassbriefe kaufen und uns den Platz im Himmel mit Taten verdienen möchten.

Aber Hand aufs Herz: auch bei uns gibt es Versuchungen, sich des  Heilsbesitzes durch die falschen Dinge zu vergewissern. Innerliche Checklisten, die abgearbeitet werden wollen. Was könnte das für uns sein?

Vielleicht die omnipräsenten Mahnungen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Das Versprechen, durch gesunde Ernährung und Sport ins Reine mit sich zu kommen. Meditation, Yoga, Wellness, Fitness… Alles an sich gute Dinge. Aber eines können sie nicht: Durch sie werden wir nicht frei. Vielleicht können wir uns mit ihnen kurzfristig und vorläufig besser fühlen. Aber sie schaffen es nicht, dass wir uns bedingungslos angenommen wissen. Das kann nur einer.

V. Schluss: zerreißt die Checkliste!

Wir Menschen verfallen von Zeit zu Zeit dem Drang nach Vergewisserung von außen. Dem Wunsch, den Glauben sichtbar zu machen. Etwas abhaken zu können. Durch Handeln vielleicht ein bisschen vor sich selbst und anderen den Eindruck zu erzeugen, dass man wirklich ein guter Christ, eine gute Christin ist. Wir errichten Strukturen, die Systeme und Ordnungen, die auch unser Glaubensleben sortieren sollen – ja, vielleicht erstellen wir To-Do-Listen des Glaubens. Checklisten der Glaubensgewissheit. Schön zum Abhaken.

Aber: wir brauchen diese Listen eigentlich nicht. Ja, ich wage zu sagen: sie stehen im Weg. Und sie schaffen schlicht nicht, was wir uns von ihnen erhoffen. Diese Listen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das schon getan ist. Aber: den Haken haben nicht wir gesetzt. Gott hat das ein für allemal abgehakt.

Daher, liebe Gemeinde: lassen Sie uns heute am Reformationstag diese inneren To-Do-Listen des Glaubens, die Checklisten der Glaubensgewissheit zerreißen. Ganz bewusst alles abstreifen, was uns vom Vertrauen abhält: Jesus Christus hat schon alles gemacht. Wir müssen da an nichts mehr denken! Wir sind befreit vom Zwang, etwas leisten zu müssen. Befreit vom Zwang, für unser Heil zu sorgen.

Lassen Sie uns mit Luther ganz bewusst auf den Grund dieser Freiheit schauen: Jesus Christus! Lassen sie uns gemeinsam das ganze Pathos dieses Reformationstags mitnehmen! Hören wir den evangelische Ruf des Paulus  und lassen uns von diesem Gefühl tragen! Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Niklas Schleicher: „Leicht ist es nicht, oder: Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand.“

(gehalten in der Bartholomäuskirche in Tamm im Dekanat Ludwigsburg)

„Freiheit, Wecker, Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. „Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“. So der Liedermacher Konstantin Wecker in seinem Lied Willy über einen Menschen, der sich gegen den Faschismus wehrt und von Nazis umgebracht wird. Freiheit. Was für ein großer Begriff. Und vielleicht ist Weckers Definition treffend. Vielleicht dachte Luther ähnlich. Luther, der heute vor mehr als 500 Jahren seine Thesen veröffentlichte und davor sicherlich die Briefe des Paulus gelesen hatte.

Im Galaterbrief lesen wir:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Man kennt die Geschichte von Luther irgendwie, aber man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen. Da ist eine Kirche, die ziemlich viele Bereiche des Lebens kontrolliert und vor allem: Die für sich in Anspruch nimmt, Vergebung der Sünden verkaufen zu können. Dafür schürt sie die Angst vor dem Fegefeuer. Luther hatte Angst, Angst davor, dass, egal was er tut, es nicht reicht. Er hatte vor Augen: Nach seinem Tod wartet auf ihn das Fegefeuer. Und dann sein Studium der Bibel. Und Stellen die sagen: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Und zwar auch zur Freiheit vor dem Gesetz. Ja, Freiheit heißt, keine Angst haben, vor nix und niemand.

So tritt Luther auf. Er legt sich mit der Kirche an. Mit Unterstützung von einflussreichen Freunden möchte er die katholische Kirche reformieren. Eine zeitlang steht sein Leben wirklich auf Messers Schneide. Ich weiß es nicht, ob er da noch Angst hatte, aber seine Freiheit kostete ihm sicherlich auch Sicherheit. Er schrieb große Schriften, von der Freiheit eines Christenmenschen ist sicherlich eine der Schönsten. Aber die Freiheit, die er so stark herausarbeitete, hatte sicherlich eine Kehrseite. Die Sicherheit einer Kirche, die zwischen ihm und Gott vermittelte, bricht weg.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Was bedeutet uns eigentlich heute: Freiheit? Wir sind mal ganz einfach formuliert, sehr frei. Corona hat uns gezeigt, wie frei wir eigentlich sind. Vieles empfinden wir, zurecht als Einschränkung, aber im großen und Ganzen leben wir frei. Wir können im Großen und Ganzen entscheiden, wen wir wählen. Wo wir wohnen. Was wir essen. Klar, für vieles braucht man das nötige Kleingeld. Aber es gibt ansonsten wenige äußere Instanzen, die uns hindern.

Ich denke, wir machen uns um unsere Freiheit wenig Gedanken. Oft, sehr oft geben wir die Entscheidung auch ab. Nicht alles, was wir tun, tun wir bewusst. Oft richten wir uns nach anderen oder nach Regeln. Diese Regeln helfen uns. Denn wenn man darüber nachdenkt: Wenn wir bei jeder Entscheidung auf uns gestellt sind, dann artet das in eine Überforderung aus.

Ich habe im August und September ein Praktikum in bei der Gefangenenseelsorge am Hohenasperg gemacht. Dort gibt es neben dem Klinikum ja auch die Sozialtherapeutische Anstalt. Eines fand ich bedrückend: Was ist, wenn einem die Freiheit selbst Angst macht? Menschen, die lange Jahre im Gefängnis waren finden sich draußen oft nicht zurück. Nicht, weil sie es nicht wollen oder weil sie sich nicht redlich bemühen. Es fehlt ihnen die Kontrolle und das Netzwerk, dass sie Gefängnis haben. Die Freiheit, die sie bekommen haben, bekommen sie auf Kosten von Sicherheit. Und dann tun sie draußen etwas, dass gegen ihre Auflagen verstößt und kommen zurück ins Gefängnis. Sie tauschen ihre Freiheit gegen die Sicherheit des Gewohnten.

Freiheit heißt keine Angst haben, vor nix und niemand. Selbst Wecker wusste in seinem Lied: So einfach ist es halt nicht. Denn es geht in seinem Lied weiter: „aber san ma doch ehrlich, a bisserl a laus Gfühl habn ma doch damals scho ghabt“. Auch für Luther war es das nicht. Anfechtung. Immer wieder ringen mit Gott. Das hat ihn Zeit seines Lebens begleitet. Gott erschien ihm manchmal fern. Wenn er Leid sah. Und er hatte die Sicherheit aufgegeben, die die katholische Kirche geboten hat. Nämlich etwas tun können für das Seelenheil. Und jemanden zu haben, eine Autorität, die vermitteln können zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Weg ist für Luther versperrt.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Die Freiheit, die mit unserem evangelischem Christentum kommt, ist großartig. Niemand, weder ein Pfarrer, noch eine Theologin, weder ein Bischof, noch ein Ratsvorsitzender stehen zwischen dem Einzelnen, zwischen mir, zwischen dir und Gott. Das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung Luthers: Jeder von uns hat die Freiheit sich Gott so zu nähern, wie man es will. Alles können wir ihm anvertrauen. Denn: In Jesus Christus hat er unsere Schuld, dass was uns trennen kann, überwunden. Ganz simpel gesagt: Alles, was uns beschwert und belastet hat seine Ort vor Gott.

Doch andersherum gilt eben genauso: Es gibt keinen, der mir und dir abnehmen kann, dass wir als Einzelne vor Gott stehen. Wir dürfen mit unseren ganz eigenen Vorstellungen und Anliegen vor Gott kommen, aber: Wir müssen das eben auch. Niemand nimmt es uns ab. Dass wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, vergewissert uns: Wir gehören zu einer Kirche. Aber vor Gott kommen wir dennoch als Einzelne.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Jeder von uns ist einer freier Christenmensch. Einer, der vor nix und niemanden Angst haben muss. Einer, der nicht vertreten werden muss, der aber auch nicht vertreten werden kann. Evangelisches Christentum ist sicherlich manchmal anstrengen. Aber trotz allem lenkt es den Blick auf etwas, das Paulus schon vor 2000 Jahren verdeutlicht hat:

51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Freiheit. „Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor nix und neamands“. Das ist sicher nicht immer einfach. Aber das hat ja auch keiner behauptet. Und bei allem und in allem gilt der Satz von Paulus:

6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist

Über allem steht Gottes Liebe zu uns. Wenn das klar ist, dann muss man vielleicht wirklich keine Angst mehr haben. Auch nicht vor der Freiheit des Christenmenschen.

Amen

Julian Scharpf: „Von der Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird“

(gehalten in der Lutherkirche Fellbach)

Wie fühlt sich Freiheit an?

Vielleicht so: Das Absetzen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn wir die Kirche verlassen und im Freien sind.
Oder: Wie der erste Montag in der Altersteilzeit, wenn morgens der Wecker nicht mehr klingelt.
Oder: Wenn man einen Babysitter für die Kinder gefunden hat und einen Abend zu zweit vor sich hat.
Oder: Wenn man nach längerer Krankheit die Krücken nicht mehr braucht und wieder laufen kann.
Oder: Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, weil etwas besser gelaufen ist als gedacht.
Oder: Wenn man die innere Freiheit spürt, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird, sondern das, was einem das Gewissen sagt.
Wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, dann gibt es einen Moment der inneren Freiheit eines Menschen, der herausragt.

Martin Luthers Freiheitsgeschichte

Worms, im Frühjahr 1521, vor 500 Jahren. Der ganze Saal im Wormser Bischofshof knistert vor Spannung. Fackeln bringen Licht in den Raum, er ist voller Menschen, es ist unfassbar heiß, Martin Luther schwitzt. Zwei Stunden hat er für den kurzen Weg in den Saal gebraucht, es gab Verzögerungen; Schaulustige belagern den Reichstag. Johann von Eck verhört Luther, er stellt ihm am Ende die alles entscheidende Frage: „Martin Luther, widerrufst du oder nicht?“ Seit drei Jahren hat dieser in einer einfachen Mönchskutte vor dem Reichstag stehende Mann das ganze Land in Aufruhr gebracht. Die 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die Schriften wie „von der Freiheit eines Christenmenschen“, die im ganzen Land durch den gerade aufkommenden Buchdruck vervielfältigt werden, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle aus Rom, der Kirchenbann über Luther – all diese aufsehenerregenden Momente waren dieser Eskalation vorausgegangen.  Was wird Luther tun? Die Anspannung ist zu spüren. Martin Luther wird das Wort zugesprochen.  Und:  Er widerruft nicht. Er antwortet:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!

Luther widerruft nicht. Er bietet dem Kaiser die Stirn, weil er der Bibel und seinem Gewissen verpflichtet ist. Da steht ein Mensch, der in der Gefahr ist, seine äußere Freiheit durch die Reichsacht zu verlieren – und strotzt gerade so vor innerer Freiheit. Und es kommt zu der nur scheinbar paradoxen Situation, dass sich Luther gerade, weil er sich „gefangen im Worte Gottes“ empfindet, so frei fühlt wie ein Mensch sich nur fühlen kann.

Dass Luther zu diesem freien Menschen wurde, war kein einfacher Weg. Als Mönch hatte er gespürt, wie unfrei, wie gefangen er damals war, weil er dachte, er müsse sich die Gnade Gottes durch Beten, Arbeiten und gute Werke erst verdienen. Luther war ein 150%er Mönch, tat alles, was aus seiner Sicht nötig war, um Gott gnädig zu stimmen. Bis er durch die genaue Lektüre der Schrift wiederentdeckt, dass die Gnade Gottes unserer Antwort im Glauben immer voraus geht. Er wird durch das Wort Gottes so gefangen genommen, dass er frei gegenüber der Welt wird. Weil er versteht, dass Christus uns Anteil an seiner Gerechtigkeit gibt und wir uns nicht selbst vor Gott rechtfertigen können oder müssen. Luther musste sich nicht mehr selbst erlösen, er war frei geworden.

Und diese Entwicklung wurde mit angestoßen durch die Verse eines Menschen, der in seinem alten Glauben und seinen Überzeugungen auch ein 150%er war: Paulus, der ehemalige Pharisäer, der zum Apostel wurde. Paulus und Luther sind sich in manchem sehr ähnlich. Religiöse Genies ohne große Lust an Kompromissen; Leidenschaftliche Gläubige; auch Menschen mit Fehlern, Problemen, diskussionswürdigen Ansichten. Keine Helden, aber Menschen, die durch das Wort Gottes zutiefst durchdrungen und bewegt waren.
Wir hören die Verse, die Luther inspirierten, aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus, Kapitel 5, Verse 1 bis 6:

Galater 5, 1 – 6

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Zum Kontext

Liebe Gemeinde,

Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien, weil diese in Unruhe sind. Neue Missionare sind dort angekommen und sind der Überzeugung, dass auch die Männer der christlichen Gemeinde sich beschneiden lassen sollten wie jüdische Männer. Paulus argumentiert leidenschaftlich dagegen, weil er befürchtet, dass die noch junge, christliche Gemeinde durch ihre Verunsicherung wieder Halt in den Traditionen und Gesetzen des Judentums sucht. Und weil Paulus damals ein 150% überzeugter Pharisäer war, gibt es da für ihn keine Kompromisse. Wer sich beschneiden lässt, gehört zum Volk Israel und nicht zu Christus. Das ist im Übrigen für Paulus keine Abwertung der Beschneidung, des Judentums oder der beschnittenen Männer, die Christen wurden. Ihm ist die Unterscheidung wichtig. Der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen gilt, ein für alle Mal und ewig. Das ist für Paulus klar. Wir als Christinnen und Christen sollten uns hüten, uns durch Verse des Apostels für etwas Besseres zu halten. Jesus ist als Jude geboren und gestorben.

Die Freiheit in Christus

Und der ehemalige Pharisäer Paulus erkennt im Glauben an Jesus Christus eine Freiheit, die Freiheit schlechthin:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Diese Freiheit besteht darin, dass Christus uns befreit. Nicht wir selbst befreien uns, Christus befreit uns.
Von unserer Unsicherheit, ob wir Gott gefallen.
Von unserer Unsicherheit, ob wir anderen Menschen gefallen.
Von unseren inneren Zwängen und bangen Fragen, ob Gott uns denn nun gnädig ist oder nicht.
Wir haben vorhin gesungen: Du bist der Blick, der uns ganz durchdringt.
Wir alle hier, die wir hier sitzen, werden liebevoll von Jesus Christus angeschaut, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wer sich geliebt weiß, der atmet freier. Alle Werke und alles Wirken von Paulus und Luther sind ein Fingerzeig auf Jesus Christus, der uns gnädig anschaut.

Im Glauben an Christus, im festen Vertrauen auf seine Liebe und Güte werden wir frei davon, uns selbst zu erlösen, zu rechtfertigen, zu befreien, auf unser Ansehen zu schielen. Diese Gnade ist ein Geschenk und nichts, das wir uns durch gute Werke verdienen müssen. Diese Erkenntnis gab Martin Luthers Leben eine 180 Grad Wende.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Ohne diese Überzeugung hätte Luther nicht auf dem Reichstag stehen können; wäre er nicht standhaft geblieben.

Freiheit heute

Weil Luther für seine Gewissensentscheidung Akzeptanz von den Herrschenden einforderte, liegt darin auch eine Keimzelle unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Die verschiedenen Dimensionen der Freiheit, individuelle, innere Freiheit, Religionsfreiheit, politische Freiheit – durchdringen sich gegenseitig. Man kann durchaus eine Linie vom Freiheitsdenken der Reformatoren über die Religionsfreiheit und die Aufklärung zu unserem heutigen allgemeinen Freiheitsverständnis ziehen. Diese Entwicklung ist geschichtlich auch von ungeheuren Rückschlägen gekennzeichnet.  Unser Grundgesetz in Deutschland heute ist das Ergebnis einer Lerngeschichte der Freiheit.

In den letzten anderthalb Jahren wurde viel um Freiheit und Sicherheit, Grundrecht und Gesundheitsschutz gerungen. Und alle Freiheitseinschränkungen, auch in den letzten anderthalb Jahren müssen sich natürlich vor unserer Verfassung rechtfertigen. Ich bin froh darüber, in einem Land zu leben, in dem diese Gewaltenteilung funktioniert – bei allen Schwierigkeiten, die eine noch nicht gekannte Pandemie-Situation mit sich bringt. Ich bin froh darüber, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Gewaltenteilung zu leben, gerade wenn ich in die Entwicklung manch anderer Länder blicke. Und wenn wir bei Paulus wie bei Luther hinschauen, sehen wir bei beiden eine große Wertschätzung für eine stabile staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol des Staates. Paulus und Luther waren auf je eigene Weisen freiheitliche Rebellen, aber um das auch klar zu sagen:  Diejenigen, die heute aus ihrer Unzufriedenheit heraus unsere Republik verächtlich machen und bekämpfen, können sich nicht auf die beiden als Kronzeugen berufen.  Dazu liegt beiden zu viel an einer stabilen und respektierten staatlichen Ordnung.

Freiheit und Verantwortung

Und Eines ist auch entscheidend am Freiheitsverständnis bei Paulus wie bei Luther: Freiheit geht bei beiden immer mit Verantwortung einher.

Paulus schreibt:

Denn in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, etwas.

Bei Jesus gelten nicht unsere Äußerlichkeiten, unsere Statussymbole etwas. Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Die Liebe zu Gott, die sich in der Nächstenliebe realisiert. Die Freiheit, die in Verantwortung gelebt wird. Paulus wie Luther sind davon überzeugt, dass die Freiheit durch Christus nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine Freiheit zu etwas ist.

Luther will das so verstanden wissen: Durch das tiefe Vertrauen auf Jesus Christus haben wir die Freiheit, uns um Andere zu kümmern. Wir müssen nicht Nabelschau betreiben und immer unser Seelenheil bangen. Weil wir frei von dieser Sorge sind, können wir Andere in den Blick nehmen. Freiheit bedeutet biblisch und reformatorisch niemals Rücksichtslosigkeit. Freiheit bedeutet Verantwortung. Verantwortung für mich und meine Mitmenschen. Jede errungene Freiheit geht mit Verantwortung einher und das durchzieht alle Dimensionen der Freiheit. Meine Freiheit ist wertlos, wenn ich durch ihr Auskosten die Freiheit eines Anderen beschneide. Meine Freiheit ist wertvoll, wenn ich sie mit Anderen zusammen auskosten kann. Ich wünsche mir, uns allen, Ihnen viele Erfahrungen dieser gemeinsamen Freiheit.
Freiheit, die sich in gegenseitiger Rücksichtnahme realisiert. Freiheit, weil wir dann einmal gemeinsam die Pandemie überwunden haben werden.
Freiheit, weil es irgendwann auch mal wieder ohne Masken geht.
Freiheit im Ruhestand.
Freiheit, weil uns manche Steine vom Herzen fallen.
Freiheit, weil wir wissen, dass Christus uns liebt.
Denn:  Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest!

Amen.

Die NThK-Weihnachtsbücherei

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Eigentlich stehen wir Theologinnen und Theologen ja völlig ironisch über dem kommerziellen Teil des Weihnachtsfestes. Klar, Geschenke für die Kinder und die Familie, aber alles nicht so kommerziell und bitte mit gutem Gewissen! Anders sieht es mit Büchern aus. Die kann man ja immer brauchen, oder? Weihnachten bietet eine gute Gelegenheit, sich selbst (oder auch einer anderen Person) ein gutes Buch zu schenken. Mit etwas Schützenhilfe von uns, dem Team des NThK, findet sich sicherlich schnell das richtige.

Die Vorschläge sind in drei Kategorien unterteil: Zunächst widmen wir uns den im engeren Sinne theologischen Werken, sodann den für die kirchliche Praxis nützlichen Büchern und schließlich der Kategorie „Sonstiges“, in der philosophische oder gesellschaftsrelevante Bücher zusammengefasst werden. Die Auswahl ist subjektiv und spiegelt Interessen des NThK-Teams wider.[1]

1. Theologische Bücher

1) Robert Kolb: Martin Luther and the Enduring Word of God. The Wittenberg School and Its Scripture-Centered Proclamation, Grand Rapids 2016: 27,90€

Tobias Jammerthal: Robert Kolb gehört zu den profiliertesten Reformationshistorikern und Lutherforschern des englischen Sprachgebiets. Kurz vor dem Beginn des Reformationsjubeljahrs 2017 erschien diese Sammlung mit einigen der wichtigsten Aufsätze aus seiner Feder rund um die Schriftauslegung als Zentrum von Luthers Theologie und der Wittenberger Reformation. Ich finde, dieser Aufsatzband gehört in die Hand all derer, die sich für einen gleichermaßen kenntnisreichen wie unaufgeregt-sachlichen Zugang zur Reformation als einem theologischen Gruppenereignis interessieren!

2) Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005: 49,90€

Tobias Graßmann: Lauster stellt in diesem programmatischen Buch –  für Sympathisanten und Kritiker gleichermaßen beeindruckend – die Leistungskraft hermeneutischer Theologie in der Tradition des sog. Kulturprotestantismus unter Beweis. Dabei macht gerade auch die luzide Auseinandersetzung mit individualistischen Verengungen der liberalen Theologie das Buch lesenswert. Im Anschluss an den cultural turn und insbesondere Jan Assmanns Konzeption des kulturellen Gedächtnisses verflüssigt Lauster nicht nur konfessionelle Gegensätze, sondern lotet als einer der wenigen gegenwärtigen Theologen auch Wege zur Bewältigung des nicht nur kirchlichen, sondern gesamtkulturellen Traditionsabbruchs aus. Dabei sticht besonders die zentrale Stellung ins Auge, die Lauster den nicht im klassischen Sinne lehrhaften Vermittlungsformen religiöser Erfahrung zumisst: Musik, Kunst und Architektur.

3) Michael Roth und Markus Held (Hgg.): Was ist theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin und New York  2018: 29,95 €

Niklas Schleicher: Das Buch gibt den aktuellen Lehrstuhlinhabern und Lehrstuhlinhaberinnen für evangelisch-theologische Ethik das Wort. Diese beschreiben in ca. 15 bis 20-seitigen Beiträgen ihre jeweilige Vorstellung vom Fach. So ergibt sich ein sehr differenziertes Bild der Zugriffe auf protestantische Ethik. Ergänzt wird das Ganze von Beiträgen von Vertretern und Vertreterinnen anderer theologischer Fächer, der Philosophie und der katholischen theologischen Ethik, die jeweils ihren Beitrag zur evangelischen Ethik darstellen. Ein Buch, dass sich gerade im Studium eignet, aber auch, um sich über den aktuellen Stand der Debatte zu informieren. [Eine ausführlichere Rezension folgt im kommenden Jahr.]

4) Kristian Fechtner/Jan Hermelink/Martina Kuhmlehn/Ulrike Wagner-Rau: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (Theologische Wissenschaft, Bd. 15), Stuttgart 2017: 30€

Claudia Kühner-Graßmann: Dieses Lehrbuch will einen Überblick geben über die Praktische Theologie, ihre Aufgaben und Probleme vor dem Hintergrund empirischer Befunde und (theologie)geschichtlicher Einsichten. Das alles geschieht anhand konzentrierter Darstellungen von Querschnittsthemen auf der einen und kirchlichen Handlungsfeldern auf der anderen Seite. In dieser Kürze bietet es Gelegenheit, den Blick auf die Problemlagen kirchlicher Praxis und ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung zu schärfen. Durch die feste, aber nicht steife Gliederung kann es auch gut zu dein einzelnen Themengebieten herangezogen werden. Eine gute Grundlage zur Auffrischung, zum Bündeln oder zum Weiterdenken. [Eine ausführlichere Rezension folgt im kommenden Jahr.]

2. Bücher für die kirchliche Praxis

1) Otto Dietz: Unser Gottesdienst – ein Hilfsbuch zum Hauptgottesdienst nach Agende 1 für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, München  21983 [antiquarisch günstig zu erwerben]

Tobias Jammerthal: Ein „Klassiker“, den jeder, der (zumindest lutherische) Gottesdienste zu leiten hat, meiner Meinung nach einmal gelesen haben sollte. Dieses Lesebüchlein ist kein fachwissenschaftlicher Agendenkommentar, sondern will einfach nur erzählen, warum was im „normalen“ Sonntagsgottesdienst an welcher Stelle und wie passiert. Sprachlich ist es schlicht und geht runter wie Butter – ungeheuer bildend ist es dennoch.

2) Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart (Neu bearbeitet von Christian Albrecht), München 92014: 14,95 €

Niklas Schleicher: Ein extrem nützlicher und gut lesbarer Klassiker das Buch „Das Kirchenjahr“ von Karl Heinrich Bieritz, das in einer neuen Auflage herausgegeben von Christian Albrecht vorliegt. In komprimierter Form wird darin das Kirchenjahr, seine Zeiten und Feste beschrieben und auf besondere Bräuche verwiesen. Gerade auch für den Einstieg z.B. ins Vikariat, aber auch im Studium ist das Buch sehr zu empfehlen.

3) Fulbert Steffensky (Hg.): Ein seltsamer Freudenmonat. 24 Adventsgedichte, 24 Adventsgeschichten, Stuttgart 2011: 16€

Julian Scharpf: Fulbert Steffensky, der Säulenheilige des Kirchentags-Protestantismus, hat vor sieben Jahre dieses hübsch gestaltete Adventsbuch auf den Markt gebracht. Dessen Verdienst ist, dass sich mit seinen 24 Gedichten und 24 Geschichten von Fontane bis Kreisler die vielen Advents- und Weihnachtsfeiern bestreiten lassen, die in dieser Kirchenjahreszeit vor einem liegen. Für die Auswahl gilt Steffenskys Satz: „Das Sentiment muss nicht sentimental sein, und wenn es dies gelegentlich ist, dann ist das nicht weiter schlimm.“

4) Niklaus Peter: Schachfigur – oder Schachspieler: Denkmodelle und Spielzüge auf den Feldern des Lebens und der Religion, Stuttgart 2018: 15€

Martin Böger: Niklaus Peter ist Pfarrer am Fraumünster in Zürich und nebenher ein ziemlich umtriebiger Theologe, der stets versucht, beides zusammenzubringen ohne das Eine gegen das Andere auszuspielen: Die theologische Wissenschaft und die pfarramtliche Praxis. Im vorliegenden Bändchen schafft er diese Verschmelzung auf sehr eindrückliche Art und Weise. Denn dieses Büchlein fasst Kolumnentexte zusammen, die Niklaus Peter für das wöchentliche Magazin einer großen schweizerischen Tageszeitung verfasst hat. Kolumnen, die auf eine katechetische Art die Grund- und Eckpfeiler des christlichen Glaubens auf gleichzeitig kluge wie inspirierende Art und Weise für eine (post)moderne Gesellschaft bedenken. Ein Büchlein, das zum Nachdenken anregen und vielleicht sogar die eine oder andre eigene Andacht inspirieren kann.

3. Sonstiges

1) Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Neue Historische Bibliothek, Frankfurt a.M. 92015: 16€

Tobias Graßmann: An neuen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges herrscht kein Mangel. Angesichts dieser unterschiedlich akzentuierten, mehr oder weniger ausführlichen Darstellungen lohnt sich dennoch der Blick in einen Klassiker. Denn wer über die grundlegenden Vorkommnisse informiert ist, findet in diesem Buch eine klare, knappe und unbestechliche Interpretation dieser traumatischen Epoche. Burkhardt erweist einige der klassischen Frontstellungen (z.B.: Religionskrieg oder nicht?) als Scheinalternativen und präsentiert den Dreißigjährigen Krieg als Ergebnis sich überlappender Staatenbildungskonflikte. Religion, Wirtschaft, technische Entwicklungen, Mediendynamik, dynastische Herrschaftsform und historisch hergeleitete Universalmachtansprüche werden auf ihre kriegstreibenden, aber auch friedensförderlichen Potentiale befragt und so manches Vorurteil gerade gerückt. Das Buch verschließt sich jeder raschen Verzweckung zur politischen oder gesellschaftlichen Sinnstiftung – und regt gerade darin zum Denken über den Frieden an!

2) Paul Feyerabend: Zeitverschwendung, Frankfurt a.M. 61997: 14,00 €

Niklas Schleicher: Ich habe eine große Schwäche für Autobiographien und eine genauso große für Paul Feyerabend. Seine Autobiographie mit dem Titel Zeitverschwendung ist, auch wenn man ihn, freilich zu Unrecht, für einen Scharlatan hält, großartig, zumal sie alles erhält: Krieg, Liebe, Operngesang, Wissenschaftstheorie und Harnack. Ja, genau, Feyerabend rezeptiert Adolf von Harnack, eine detaillierte Forschung dazu steht aber noch aus. Das Buch stellt einen guten Einstieg in das Denken Feyerabends dar, danach kann man sich dann dem nicht minder spannenden Hauptwerk „Wider dem Methodenzwang“ widmen. Oder sich von @luthvind erklären lassen, dass der @megadakka mit seiner Feyerabend-Besessenheit ein bisschen verrückt ist.

3) Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt a.M.  142017: 10€

Claudia Kühner-Graßmann: Wer immer schon einmal etwas von Foucault lesen wollte, aber weder wusste, was genau, noch viel Zeit hat, ist mit diesem schmalen Heftchen gut bedient. Und zwar nicht nur, weil man Einblicke in Foucaults Denken erhält, wozu der angehängte Essay von Konsersmann („Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults Lʼordre du discours“) zusätzlich beiträgt. Die Lektüre schult wunderbar den Blick für die Produktion des Diskurses und vor allem deren Ausschließungsprozesse. Nach Lektüre der knapp 50 Seiten meint man den intellektuellen Gestus der Foucault-Anhänger zu durchschauen – oder eignet ihn sich gleich selbst an. Jedenfalls ein gutes Buch für einen kalten Winterabend auf dem Sofa mit Tee oder Wein.

4) Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart  82018: 6€

Julian Scharpf: Der Arabist und Leibniz-Preisträger Thomas Bauer hat  es 2011 mit  „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ vermocht, das aus der Psychologie bekannte Konzept der Ambiguitätstoleranz nicht nur individuell aufzufassen, sondern auch als erstrebenswerte Errungenschaft einer Religionsgemeinschaft zu charakterisieren. Mit seinem aktuellen Essay weitet er seinen Blick im Grunde auf die ganze Welt und warnt davor, dass wir alle immer weniger bereit sind, Bedeutungsvielfalt anzuerkennen und uns fatalerweise nach Vereindeutigungen sehnen. Dieses Reclambüchle liest sich wie im Rausch.

Martin Böger: Wohl kaum ein Buch habe ich in letzter Zeit mit größerem Interesse und Gewinn gelesen. Der Leibniz-Preisträger und Professor für Islamische Theologie Thomas Bauer unternimmt einen überaus spannenden Parforceritt durch unsere Welt, ihre Wirklichkeit und wie wir über sie denken. Seine These lautet: Wir erliegen derzeit dem Verlangen, unsere Welt zu vereindeutigen und damit den Blick für die Vielfalt, für das Unerwartete, für das Einmalige zu verlieren. Die Religion spielt dabei für Bauer eine herausragende Rolle, da an ihr beides gelernt werden kann: Der Hang zur Vereinheitlichung zwischen schwarz und weiß, richtig und falsch und das große Potential der Ambiguität von Lebens- und Sinndeutungen. Thomas Bauer hält ein großes Plädoyer auf die Ambiguität, die er nicht als Drohung, sondern als große Chance erkennt. Ein Blick auf die Wirklichkeit, der spannend und der manchmal anstrengend ist, aber die Wirklichkeit so sein lässt wie sie ist: bunt, uneindeutig, dramatisch und manchmal auch herausfordernd.

 

[1]          Die angezeigten Preise dienen der Orientierung. Die tatsächlichen Preise können durchaus von den hier angegebenen abweichen.

Rezension: Cord Aschenbrenner, Das evangelische Pfarrhaus

Aschenbrenner, Cord, Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte, München 2015.

Rezensiert für www.nthk.de von Jonas Milde am 8. Januar 2018, veröffentlicht am 20. Juni 2018.

„Pfarrers Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie.“ – Neun Generationen an Pfarrern und Pfarrerskindern der Familie Hoerschelmann stellt der Journalist und Historiker Cord Aschenbrenner, selbst ein „Pfarrersenkelkind“, in seinem 2015 erschienen Buch vor. „Selten“ hat seit dem Aufkommen des Sprichwortes einen Bedeutungswandel erfahren. Meinte es ursprünglich „,besonders‘ oder ,außergewöhnlich‘“ (55), meint es heute „,nicht häufig‘“. Einen Bedeutungswandel hat auch das evangelische Pfarrhaus erfahren. Lange Zeit war es etwas „seltenes“, also etwas besonderes. Das Pfarrhaus unterschied sich von anderen Häusern, war doch der Hausherr – und nicht etwa nur seine wohl oder weniger wohl geratenen Kinder – kraft seines Amtes etwas „seltenes“.

Bei aller Idealisierung, die man dem Pfarrhaus angedeihen lassen hat, und den daraus möglicherweise hervorgehenden Vorbehalten dem Vorhaben A.s gegenüber – seine Bedeutung kann man dem evangelischen Pfarrhaus nicht absprechen; in Deutschland und Estland ebenso wenig wie im weltweiten Protestantismus. Und wer mit der Lektüre von A.s Buch beginnt, merkt schnell, dass es den Autor keinesfalls um die Verklärung einer untergegangenen Welt geht; denn „[d]as deutsche evangelische Pfarrhaus im Baltikum gibt es längst nicht mehr“ (16). Das Erbe jedoch lohnt die Betrachtung – nicht nur für die unmittelbaren Erben, die gegenwärtig evangelische Pfarrhäuser bewohnen.

Ausgehend von einem Zeitungsartikel, den A. 2011 für die Süddeutsche Zeitung verfasste (11), weitete und vertiefte er seine Recherchen zur Familien- und Pfarrhausgeschichte und reiht sich so selbstbewusst in die „[s]eit den 1970er Jahren [entstandenen] Untersuchungen […] zum evangelischen Pfarrhaus“ (23) ein. Er legt sein Hauptaugenmerk hierbei nicht auf eine „Pastorendynastie“ in Deutschland, sondern auf eine deutsche Familie, deren Wirkungskreis in den betrachteten Jahrhunderten vorwiegend im Baltikum lag. Die Hoerschelmanns, unter Katharina II. in den erblichen Adelsstand erhoben, waren Teil jener deutschbaltischen Elite, die das Land an der Ostsee in seiner wechselvollen Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein prägte. Ein Ende fand dies mit der „,diktierten Option‘“, der „[f]ormal zwar freiwilligen, dennoch unter Zwang, wenigstens aber unter starkem Druck“ (268) vollzogenen Abwanderung der Deutschen aus dem Baltikum ins „Großdeutsche Reich“ während der NS-Herrschaft.

Damit endete eine Geschichte, die 1768 begann, als Ernst August Wilhelm (von) Hoerschelmann, 1743 geboren als Sohn des Großrudestedter Superintendenten, seine thüringische Heimat verließ und über Lübeck per Schiff nach Reval / Tallin kam. Vier seiner sechs Söhne wurden wie schon ihr Großvater – der Begründer der Hoerschelmann’schen Pastorendynastie – Theologen und begründeten die vier „,Häuser‘, benannt nach den Wohnorten oder dem Ort der Pastorate“ (19), aus denen zahlreiche Pfarrer und Pfarrfrauen hervorgingen.

Über diese – in treffender Auswahl – berichtet A. und führt den Leser in 27 Kapiteln durch die bald dreihundertjährige Geschichte: beginnend im Kernland der Reformation, rund 170 Jahre in Estland fortgeführt, zu ihrem – vorläufigen – Ziel kommend in Norddeutschland und Hongkong. Mit Seitenblicken, etwa auf die Entstehung des evangelischen Pfarrhauses (Martin Luther oder Die ideale Familie, 47–56) und die deutschbaltische Geschichte, werden die Familiengeschichten in einen ideellen und kulturhistorischen Rahmen eingeordnet, den ihre Protagonisten mitgeprägt haben.

Auch Blicke auf andere Pfarrer und Pfarrhauskinder werden geboten; teils als Spiegel zu den Hörschelmanns. So tauchen Gestalten wie der westfälische Posaunengeneral Johannes Kuhlo auf, dessen befremdlicher Kleidungsstil „gegen die ungeschriebenen Anstandsregeln seines Berufsstandes“ verstieß (143), ebenso die großen Geister des lutherischen Pietismus‘ Spener (100f.), Francke (64.99.101ff.) und Zinzendorf (99.103.136), deren Theologie viele Pastoren und „Pastorinnen“, also Pfarrfrauen, der Familie Hoerschelmann prägten.
Mit den theologischen Entwicklungen werden anhand der deutschbaltischen Pfarrhäuser auch die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland gespiegelt, vor allem diejenigen Preußens und des Deutschen Reiches ab 1871. So etwa die Zeit des Kulturkampfes (171ff.) und die des Dritten Reiches (249ff.), das für die Hoerschelmanns die Rückkehr ins Land der Reformation, in dem viele ihrer – männlichen – Mitglieder studiert hatten, bedeutete. Die Verteilung des Stoffes der dreihundertjährigen Familiengeschichte erfolgt angenehm ausgewogen, wenngleich das 20. Jahrhundert den weitesten Raum einnimmt.

In zahlreichen Familienlegenden und -geschichten, die die Ursprünge der Familie mit einem Mose gleichenden, aus dem Wasser der Hörsel geretteten Baby, das man „Hörselmann“ nannte, sehen wollen (25), gelingt es A., Landes-, Pfarrhaus- und Familiengeschichte in Estland und Deutschland miteinander zu verbinden und die einzelnen Charaktere der Familie profiliert zu beschreiben. Dabei greift er auf vielerlei Material zurück, das Mitglieder der Familie, allen voran der Familienchronist Constantin – er ist einer der Theologen der 5. Generation – und der beide Weltkriege miterlebt habende Gotthard Hoerschelmann – er gehört zur 7. Generation – niedergeschrieben hatten. Von unverhofften Wendungen zum Guten – etwa einen aus Armut befreienden Blitzschlag (146) – ebenso wie von harten Plagen, Anfechtungen und Prüfungen – so beispielsweise die mehr als zehnjährige Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion, in der Gotthard Hoerschelmann heimlich in Lagern Abendmahl „mit wässriger Kohlsuppe oder mit Kwas und einem aufgesparten Brotkanten“ (311) feierte, – erzählt A.s etwa 350 Seiten langes Werk. Die zahlreichen Fotographien und Abbildungen helfen, die Pfarrer der neun Generationen und ihre oftmals die gleichen Namen tragenden Verwandten nicht zu verwechseln, ebenso die Karte und der Stammbaum, die dem Buch im Einband mitgegeben sind.

Selbstredend ist es gewagt, von dieser einen Pastorenfamilie pars pro toto auf das evangelische Pfarrhaus zu schließen. Doch das diesem Buch gespendete Lob hat es zurecht erhalten – in einer Vielzahl von Rezensionen sowie durch den Georg Dehio-Buchpreises 2016. Die Liste der bereits von anderen Rezensenten des Werkes angemerkten „Ungenauigkeiten und Fehler“, die sich eingeschlichen haben, (so Christopher Speer, Rez. in ThLZ 142 (2017), Sp. 242-244) und für das Ende des 18. Jahrhunderts bereits belegt wurden, schmälert diesen Erfolg nicht, könnte an wenigen Stellen auch in Bezug auf das 16. und das 20. Jahr fortgesetzt werden; etwa dort, wo A. Kirche und Pfarrhaus im Dritten Reich schildert. So bestand die Idee einer „Reichskirche“, die die Nationalsozialisten zu verwirklichen suchten, genau genommen nicht erst seit der Reichsgründung 1871 (251), das Wirken der lutherischen Bischöfe Hannovers, Bayerns und Württembergs in den 1930er und 40er Jahren, August Marahrens, Hans Meiser und Theophil Wurm, wird zu Lasten der Renommees dieser Kirchenmänner unausgewogen beleuchtet (252.327), und Otto Dibelius völlig zu Unrecht unterstellt, dass „[m]it Repräsentanten wie [ihm] die evangelische Kirche bereits vor 1933 vor den Nationalsozialisten freiwillig in die Knie“ gegangen sei (251).

Auch dort, wo die Ursprünge des Pfarrhauses im Reformationszeitalter liegen, liest sich einiges schief. So wird Luthers Haltung im Bauernkrieg nur mit seiner „blutrünstigen“, ursprünglich jedoch als Anhang zur Ermahnung zum Frieden verfassten und erst später als Separatdruck verbreiteten Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern deutlich verzerrt widergegeben (49). Möglicherweise wird es dem Rezensenten auch als kleinliche Spitzfindigkeit gewertet, wenn er anmerkt, dass die Rechtfertigungslehre des Wittenberger Reformators nicht „ein zentrales Element der Reformation“ (329, Kursivsatz J.M.) ist, sondern deren Mitte, Zentrum und Kern.

Doch ging und geht es Lutheranern – nicht nur denen der Familie Hoerschelmann und nicht nur Pfarrhausbewohnern – genau um dies: Leben und Handeln als Christenmenschen aus der Gnade der Rechtfertigung. Dass dieses auch gegenwärtig an Bewohnern von Pfarrhäusern – aber zweifellos nicht nur bei solchen – erkennbar ist, dazu gebe dieses Buch durch die von ihm gewirkte Lesefreude einen Anstoß.

 

Jonas Milde ist Examenskandidat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe.

Von den 90 Prozent, Hausbesuchen und der Zukunft der Kirche

Rezension zu: Erik Flügge und David Holte: Eine Kirche für Viele (statt heiligem Rest), Freiburg im Breisgau 2018.

von Niklas Schleicher

Erik Flügge kann man zurzeit ohne Übertreibung als shooting-star der aktuellen kirchlichen Debatten bezeichnen. Sein Buch über die Sprache der Kirche1 war ein Verkaufserfolg und seitdem ist Flügge ein gern gesehener Referent in Fortbildungsveranstaltungen. Zwischendurch verfasst er immer mal wieder viel beachtete Artikel zur Zukunft der Kirche. Interessanterweise genießt Flügge für seine Arbeit, wenn ich das richtig sehe, breite Zustimmung und stößt auf wenig harsche Kritik.

Vor zwei Wochen erschien Flügge neues Buch, zu dem David Holte ein Kapitel beigesteuert hat. Buch ist dabei freilich etwas hoch gegriffen, erweiterter Essay trifft es vielleicht eher; so entfaltet Flügge seine Thesen auf 78 Seiten im Kleinformat bei Herder. Das Buch ist erneut ein Verkaufsschlager, die erste Ausgabe ist bereits vergriffen und die Rezeption wieder äußerst positiv.

Ich wiederum lese gerne Bücher, die Verkaufsschlager sind, positiv rezipiert werden und Ideen beisteuern, wie man denn die Kirche(n) reformieren könnte. Meistens bin ich dann enttäuscht und manchmal lasse ich mich auch zu einer Rezension hinreißen.

„Eine Kirche für viele (statt heiligem Rest)“ lautet der Titel des Buches. Das Grundanliegen ist dabei ein gänzlich anderes, als es beispielsweise „Vom Wandern und Wundern“ hat. Ich erwähne das deshalb, weil dieses Buch, jedenfalls in meiner Filterblase, von den gleichen Personen ähnlich euphorisch begrüßt wurde. Flügge geht es nicht um Rückzugsorte oder Klientelkirchen, die ganz bestimmte Menschen in ganz bestimmten Situationen (mit ganz bestimmten Vorlieben für koffeinhaltige Heißgetränke) bedienen, sondern in gewisser Weise um eine Kirche, die alle Menschen erreicht – also im besten Sinne um so etwas wie Volkskirche. Ich finde diese Idee jedenfalls schon einmal gut und interessant. Löst das Buch auch ein, was es verspricht?

Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist im ersten Satz des Buches grundgelegt:

„90 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen nicht am Gemeindeleben Teil. Sie zahlen nur für den Rest. Kann das wirklich die Idee einer Kirche sein? (S. 9)“2

Der Anstoß ist also, wie so oft, die Kirchensteuer. Viele zahlen, wenige nehmen die Angebote der Kirche wahr, gehen also regelmäßig in den Gottesdienst oder besuchen die Veranstaltungen, die in der Gemeinde angeboten werden. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz im Leben derjenigen, die sie eigentlich finanzieren, und über kurz oder lang führt das zum Rückgang oder Verschwinden von volkskirchlichen Strukturen. Dabei ist es egal, ob es um das evangelische oder katholische Christentum geht; in dieser Frage unterscheiden sich beide nur um Nuancen.

Der Vorschlag, mit denen Flügge die 90 Prozent erreichen will, wird in einer Art Gedankenexperiment dargeboten, ist aber erstaunlich handfest: Man sollte die Arbeitszeit, die durch die Kirchensteuer finanziert wird nutzen, um Hausbesuche zu machen; und zwar nicht nur die üblichen 70+ Geburtstagsbesuche, sondern um alle Menschen der Gemeinde einmal im Jahr aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Dies ist erstmal, wenn man so will, die formale Seite des Vorschlags: Weniger Geld investieren in Erhalt der Häuser, Kirchen, usw., sondern als Kirche zu den Menschen gehen. Flügge zieht einen Vergleich aus seiner Arbeit für die SPD heran: Auch im Wahlkampf ist das Besuchen von Menschen von gutem Erfolg gekrönt.

Die Kehrseite der Medaille ist dann allerdings die Anschlussfrage, die der zweite Teil des Buches behandelt: Was soll denn bei den Hausbesuchen geschehen, was gesprochen werden? In Flügges Worten: „Für wen ist das katholische beziehungsweise evangelische Christentum überhaupt noch relevant?“ Denn, so weiter: „[U]nd wenn man an diese Frage herangeht, dann sieht es düster aus.“ (S. 47) Die Streitfragen, um die es in den Kirchen gerade geht, sei es Sexualmoral oder die Frage nach Laien, sind reine Kulturfragen und reines Marketing. Um das Christentum zu reanimieren, ist, so Flügge weiter, eine Rückbesinnung auf die Wurzeln nötig; und zwar weniger in einem inhaltlichen Sinne, sondern in einem formalen Sinne: Man spricht mit anderen Menschen über seinen christlichen Glauben, nicht (allein) um sie zu überzeugen, sondern um im Gespräch mit ihnen und von ihnen neues über das Christentum zu lernen, eben genauso, wie es die frühe Christenheit in Aufnahme der griechischen Philosophie getan hat.

Der zweite Modellversuch, den Flügge dann vorschlägt, ist ein Schritt unter den Hausbesuchen bei allen Kirchenmitgliedern und sieht vor, dass die gesamte Gemeinde mit selbst geschriebenen Karten z.B. anlässlich wichtiger Feste kontaktiert wird. Diese Karten sollen Ehrenamtliche und Hauptamtliche gemeinsam in einer konzertieren Aktion verfassen.

Das Buch schließt mit der Hoffnung, dass die Eindrücke und Einsichten, die man durch die Gespräche im Rahmen einer solchen Haustürmission Gewinnt , Eingang in den Glauben und die Lehre der Kirche finden und es so zu einer Revitalisierung kommt.

Flügges Vorschläge klingen auf den ersten Blick sehr plausibel und einleuchtend. Aber ich meine: Sie sind auch etwas einfach. Nun muss Einfachheit per se nichts Schlechtes sein. Aber trotzdem sollte sie wenigstens ein bisschen stutzig machen. Sollte die Forderung, dass „Kirche zu den Menschen kommen muss“, Theologinnen und Theologen wirklich noch nicht in den Sinn gekommen sein?

Tatsächlich haben sich Theologie und Kirche diesbezüglich schon einige Gedanken gemacht. Und der Vergleich mit dem Straßenwahlkampf hat eben seine Grenzen: Auch die SPD und die CDU/CSU erholen sich ja durch Hausbesuche nicht in dem Sinne, dass sie mehr oder besser gebundene Mitglieder gewinnen. Vielmehr funktioniert die Mobilisierung in der konkreten Wahlkampfsituation. Rübergespiegelt auf die Kirche trifft diese Parallele m.E. auch zu: Für ein konkretes Projekt oder eine konkrete Veranstaltung könnte so ein Hausbesuch oder ein direktes Ansprechen durchaus kirchenferne Mitglieder aktivieren, sei es, weil die Kirchturmuhr repariert werden soll, oder weil die Kirchgemeinde eine Brauereiführung organisiert hat. Einfach mal so zu kommen und über den Glauben zu reden, scheint mir demgegenüber schwieriger; zumal die Haustürmission der Zeugen Jehovas hier keine guten Assoziationen wecken dürfte.

Flügge schlägt zudem vor, dass die Mission mehr von gemeinsamen Gespräch geprägt sein soll und der Besuchende etwas von den Besuchten lernen soll. Dies klingt zunächst gut, aber wirft Fragen auf, zu deren Beantwortung Flügges Buch wenig beiträgt. Wenn das Christentum aus den Stimmen erneuert werden soll, die mit der christlichen Kirche und dem christlichen Glauben bislang wenig zu tun haben, was ist dann das, was der christliche Glaube dort finden und integrieren soll? Aus welcher Mitte heraus wird bestimmt, welche Anliegen aufgenommen werden? Gerade die frühe Christenheit hat sich in der Auseinandersetzung mit der Philosophie fest an ihr Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten gehalten. Nicht zuletzt erscheint das Unternehmen mit einer doppelten Agenda verbunden: Die Kirche soll vordergründig zu den Menschen, um diese zu erreichen und diesen was zu bieten. Allerdings ist dieser Besuch hintergründig für die Kirche selbst verzweckt, steht nämlich im Dienst der eigenen Erneuerung. Geht es im Endeffekt geht es dann gar nicht um die Besuchten, sondern um die Kirche, ihren Bestand und und ihr Bedürfnis nach Erneuerung?

Das Problem scheint mir allgemein weniger der Wille zu sein, mit Menschen und ihrer Lebenswelt in Kontakt zu kommen. Sondern es scheint darin zu liegen, wie mit diesen Menschen über den Glauben gesprochen und ihnen dabei auch glaubwürdig vom den Glauben erzählt werden kann. Theologen und Theologinnen sind in der Regel keine lebensweltfremden Fachidioten, die völlig fern von jeder Lebenswelt stehen und keine Ahnung von den Ideen und religiösen Bedürfnissen anderer Menschen haben. Im Gegenteil: Manchmal erscheint es mir vielmehr notwendig, zunächst einen Blick auf das zu werfen, was die eigene Botschaft ausmacht und was das Christentum von allgemeiner Religiosität unterscheidet.

Ein zweiter Punkt betrifft das Bild von Kirche, dass hier gezeichnet wird: Kirche erscheint dabei eine ganz konkrete, abgeschlossene Organisation mit ihren angestellten Mitarbeitenden. Als Gegenüber dieser Kirche gibt es dann die zahlenden Mitglieder, die etwas von ihrer Mitgliedschaft haben sollen. Mir scheint diese Betrachtungsweise zu verkennen, dass diese zahlenden Mitglieder selbst die Kirche sind. Daher könnte man darauf verweisen, dass es im freien Belieben der Einzelnen liegt, wo sie sich und wie beteiligen. Gerade z.B. bei der evangelischen Kirche sind die Strukturen so beschaffen, dass sie viele Möglichkeiten der Beteiligung bieten. Die meisten Hauptamtlichen sind für Ideen und Projekte aufgeschlossen und bieten Räume zur Verwirklichung. Aber andersherum gilt auch: Wenn ich meine Mitgliedschaft in der Kirche sozusagen „ruhen“ lassen möchte, weiter meine Kirchensteuer zahle, aber mich jenseits bestimmter biografischer Schwellensituationen nicht beteilige, dann ist das genauso legitim.

Möglicherweise wäre hier ein Punkt, den man vertiefen sollte: Möglichkeiten der Beteiligung an Konzeption und Umsetzung neuer Ideen innerhalb der Kirche aufzeigen. Das ist vielleicht weniger radikal, als mit der Erfahrung von Hausbesuchen im Rücken einen Großumbau der kirchlichen Lehre vorzunehmen. Aber man muss dafür dann auch keine Kirchen abreißen, weil man sie vielleicht noch brauchen kann.

Und wenn wir die Debatte darüber führen, was Kirchen leisten sollen und was nicht, sollte man nie vergessen, dass die Kirche auch eine Solidargemeinschaft ist. Manche Dinge, wie Sozialarbeit, Kinderbibelwochen oder Altenheimseelsorge finanzieren eben viele, während nur wenige sie in Anspruch nehmen, weil sie das entsprechende Angebot eben gerade brauchen. Das muss nicht ungerecht sein, ich jedenfalls kann gut damit leben.

Es gibt ausgehend vom vorliegenden Buch also viele Fäden, die man aufgreifen kann. Interessant ist der Ansatz allemal – auch wenn ich glaube, dass die Erneuerung der Volkskirche mehr braucht als Hausbesuche.

Niklas Schleicher

2Wie genau Flügge auf diese Prozentzahl kommt, wird leider nicht aufgeschlüsselt.

Rezension: Kirchenmusik als sozioreligiöse Praxis

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Koll, Julia, Kirchenmusik als sozioreligiöse Praxis. Studien zu Religion, Musik und Gruppe am Beispiel des Posaunenchores (Arbeiten zur Praktischen Theologie, Bd. 63), Leipzig 2016.[1]

Rezensiert für www.nthk.de von Claudia Kühner-Graßmann am 6. November 2017, veröffentlicht am 15. November 2017.

Julia Koll legt mit dieser Studie, der überarbeiteten Version ihrer Habilitationsschrift, einen interessanten Beitrag vor, wie kirchliche Praxis theologisch einzuholen ist. Dabei wendet sie sich einer sozialen Gruppierung zu, die für den Protestantismus prägend und typisch ist: dem Posaunenchor. Die methodische Grundlage ihrer Überlegungen bildet eine Fragebogenuntersuchung aus dem Jahr 2012, die an norddeutschen Posaunenchören durchgeführt wurde.[2] Posaunenchor soll als sozioreligiöse Praxis der Kirchenmusik aber nicht nur theologisch, sondern auch kirchenmusiktheoretisch untersucht werden. So formuliert Koll als Ziel der Untersuchung, einen  „empirisch fundierten Beitrag zur Kirchenmusiktheorie zu leisten, indem der Topos des gruppenförmigen Musizierens theologisch reflektiert wird“ (13). Dabei spielen, wie der Untertitel verrät, die Kategorien Religion, Musik und Gruppe eine Rolle.

Methodisch besteht also eine Zweiteilung: zunächst erfolgt die Auswertung der Umfrage (II. Empirische Erkundung) und dann auf dieser Grundlage die religionstheoretische, kirchenmusiktheoretische und kirchentheoretische Perspektive (III. Theoretische Erkundungen).

Es stellt sich die Frage, wie dieser empirische Ansatz sich zur (Praktischen) Theologie verhält. Koll greift diese Frage auf und hält fest, dass Praktiken auf ihre möglichen religiösen Gehalte oder ihre implizite Theologie hin zu untersuchen seien (vgl. 63). Die quantitativen Daten sollen der Ausgangspunkt der Theoriebildung sein. So wird als Ziel der Untersuchung formuliert, „die Praxis des Posaunenchors und ihre implizite Logik möglichst sachgemäß zu beschreiben – und dies auf eine Weise, die auch Erträge für weiterreichende praktisch-theologische Diskurse“ zutage fördert (67). Theologisch sei dies auf eine dreifache Weise: Erstens sei der Gegenstand ein Beispiel kirchenmusikalischer Praxis. Zweitens sei das Erkenntnisinteresse, den zugrundeliegenden christlichen Glauben zu reformulieren. Und drittens sei der Forschungsprozess von einem theologischen Wirklichkeitsinteresse geprägt (vgl. 68f.). Dabei verweist Koll auf eine These von Dirk Evers, der die „dezidiert empiriebezogene Wirklichkeitswahrnehmung“ als „theologia viatorum“ (69) versteht. Bei aller Ausführlichkeit, mit der Koll ihre Methodik offenlegt, erscheint diese theologische Einordnung vage und lässt für die systematisch-theologisch interessierte Leserin viele Fragen offen. Praktisch-theologisch wiederum verortet Koll ihre Studie zwischen wahrnehmungs- und handlungswissenschaftlichem Verständnis (69).

In Verbindung mit der theoretischen Reflexion kommt Koll zu interessanten Beobachtungen, die einige in der Theologie weit verbreitete Grundsätze ins Wanken bringen können: zum einen bricht sie mit ihrer Untersuchung einen verbreiteten, individualistisch eng geführten Religionsbegriff auf und plädiert für einen Religionsbegriff, der der sozialen Komponente – die beim Posaunenchor eben auch immer eine Rolle spielt, ja gar konstitutiv ist – Rechnung trägt. Sodann zeigt sie, dass es sinnvoll sein kann, eine religiöse Motivation für das Musizieren musiktheoretisch zu erforschen. Dabei solle die Kirchenmusiktheorie nicht nur den Gesang, sondern auch die instrumentelle Kirchenmusik beachten. Schließlich sei weiterhin die Bedeutung des Posaunenchors als solch musikalisch-sozioreligiöser Praxis zu untersuchen.

Neben der Erweiterung des Religionsbegriffs um jene soziale Ebene kann die hervorgehobene Bedeutung von Praktiken als zweite starke Grundthese dieses Buches gelten. Darunter werden verstetigte und eingeübte Formen des Handelns verstanden (vgl. 354f.). Leider verbleibt die Thesenbildung dieses materialreichen Buches nur in Ansätzen und die Programmatik erschöpft sich in Ausblicken, was vermutlich der empirischen Ausrichtung des Buches geschuldet ist. Nichtsdestotrotz bietet dieses Werk auf vielen Ebenen einen interessanten Beitrag zu Methode und Gegenstand praktisch-theologischer Arbeit. Gerade die Verbindung verschiedener Methoden und Aspekte zeigt, wie ertragreich dieser Blick auf (soziale) Praktiken im Rahmen kirchlicher Praxis sein kann. Aber auch Freundinnen und Freunde des Posaunenchors kommen auf ihre Kosten: die Auswertung der Untersuchung bietet ihnen interessante Einblicke.

 

Claudia Kühner-Graßmann ist auf www.nthk.de zuständig für „Religion und Gesellschaft“.

 

[1] Vgl. ergänzend zu dieser die Rezension von Tobias Braune-Krickau in: Zeitzeichen 11 (2016).

[2] Verf.in dieser Rezension nahm als damaliges Mitglied des Posaunenchor St. Johannis in Göttingen auch an dieser Umfrage teil und füllte einen Fragebogen aus. Obgleich sich erschließt, warum Koll sich auf die norddeutsche Posaunenarbeit konzentriert, ist zu fragen, ob sich die Untersuchung etwa auf Württemberg oder andere Regionen, in denen die Posaunenarbeit immer noch großen Zulauf findet, übertragen lässt. Gerade Württemberg mit seiner pietistischen Prägung stellte sicherlich einen (weiteren) interessanten Forschungsgegenstand dar, zumal die religiöse Pointe, das Musizieren „zu Gottes Ehr`“, dort häufiger zu finden ist.

 

Zur Störung im Betriebsablauf

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Anmerkungen zu „Vom Wandern und Wundern“ (hg. von Maria Herrmann und Sandra Bils)

von Niklas Schleicher (@megadakka)

Was für eine Zeit! Was für, was für eine Zeit!
Was für, was für eine Zeit, um am Leben zu sein!
(Zugezogen Maskulin)

Ich muss gestehen, dass es durchaus oft vorkommt, dass ich Menschen und ihre Ideen grundsätzlich falsch einschätze und ohne Evidenz, nur durch Intuition negativ bewerte. Dann werde ich sarkastisch, zynisch, also mitunter recht verletzend und zurecht angepfiffen. Ich dachte: Möglicherweise geht es mir ja mit der Initiative Kirche² und verwandten Projekten auch so und ich tue den Protagonisten und Protagonistinnen in Worten, aber vor allem auch in Gedanken unrecht und ihre Ideen sind eigentlich ganz richtig und von großem Wert für die Kirche – natürlich spricht man in diesem Kontext immer von Kirche im Singular, konfessionelle Unterschiede sind in der Postmoderne doch eh überholt. Vielleicht müsste ich meine Meinung mal revidieren, Abbitte leisten und zugeben: „Ich habe mich geirrt, ihr liegt nicht so fundamental daneben.“ So einen Gesinnungswechsel könnte durchaus machbar sein, vor allem, weil jetzt einzelne Menschen, die ich nur aus kurzen Tweets oder Blogbeiträgen kannte, ihre Gedanken in einem Sammelband veröffentlicht haben. Und hey, ich als verkopfter Universitätstheologe lese nun mal gerne Bücher. Also habe ich das Buch, wie viele Andere es auch getan haben, bestellt. Ich habe zwar kein Bild vom Auspacken gemacht und getwittert, aber dafür gleich angefangen zu lesen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich muss meine Meinung ändern.

Das Buch heißt „Vom Wandern und Wundern“ und trägt den Untertitel „Fremdsein und prophetische Ungeduld in der Kirche“. Herausgegeben wird es von Maria Herrmann und Sandra Bils, beide arbeiten für das Projekt Kirche². Die einzelnen Beiträge erzählen, mehr oder weniger, von jeweils eigenen Erfahrungen der Fremdheit in der Kirche und leiten daraus Ideen für Kirche von morgen ab.

Maria Herrmann schafft es auf der dritten Seite ihres Eröffnungsbeitrags die Verfasser und Verfasserinnen in eine Reihe mit „Franziskus, einer Teresa, eines Dietrich Bonhoeffer, einer Madleine Delbrel oder einer Dorothee Sölle“(9) zu stellen. Die Fallhöhe ist also denkbar hoch, waren doch jedenfalls Franziskus, Bonhoeffer und Sölle (die anderen beiden kenne ich zu wenig) hochgradig reflektierte und damit inspirierende Theologen*. Nun gut. Was also bekommt man in den einzelnen Beiträgen zu lesen?

Astrid Adler skizziert, nach einer kurzen persönlichen Anekdote, die Geschichte der Heilung des Gelähmten als Bild für Kirche. Sie ist „keine studierte Theologin“ aber „kann mit Menschen über Jesus reden“ (S. 20). Bei mir ist es ja andersherum. Ich bin zwar studierter Theologe, würde mir aber niemals selbst die Gabe bescheinigen, dass ich über Jesus reden kann. Jedenfalls nicht so, dass ich mir sicher wäre, dass „das Letzte was Jesus vor seiner Verhaftung getan hat, […] für die Einheit der Christen zu beten“ (29) war. Gut, ich bin vielleicht in diesem Zusammenhang auch eher den Schriftgelehrten zuzuordnen, denjenigen, „die mahnen und wachen über dem, was ihnen heilig ist“ (24).

Es wird besser. Hanna Buiting liefert im nächsten Beitrag eine autobiographische Skizze, über ihren Weg zur und mit der Kirche als Beispiel für produktive Fremdheit. Mit 24. Eine autobiographische Skizze. Neben der Forderung nach „richtig guten Kaffeemaschine[n]“ (38) für den Gottesdienstraum [sic!] schwingt sie sich am Schluss zu wahren Höhen auf, wenn Sie beschreibt, was ihre Gabe ist, nämlich das Schreiben: „Mehr als einmal musste ich mich zurückerinnern, wie glücklich mich das Schreiben gemacht hatte. […] Mein Gottes-Dienst war erfüllt. Heilige Momente lagen längst hinter mir[…] Texte voll Güte und voll Gnade entstanden so, voll Hoffnung und voll Heimat. […] In meiner Timeline, bei Facebook und Twitter tummelten sich zunehmend Christinnen und Christen, aus dem Rahmen gefallen, auf der Suche. Sie wurden zu meiner Leserschaft, meiner Netzgemeinde, meinen Stichwortgebenden und Nächsten“ (43). Mit 24. Hier nur ein vermessener Hinweis von mir: Eine solche Überhöhung des eigenen Tuns ist mir ja weder von Bonhoeffer noch von Sölle noch von Teresa geläufig. Aber gut, diese sind halt vielleicht auch schriftstellerisch nicht so begabt gewesen.

Mara Feßmann liefert im nächsten Beitrag eine autobiographische Skizze über ihren Weg zur Theologie, die, so jedenfalls die Überschrift, Punktheologie sei. Wer nun hofft, hier interessante oder kreative theologische Einsichten lesen zu dürfen, wird sich wundern. Das Thema ist auch hier vor allem die Autorin selbst, deren große Auszeichnung ist, dass sie neben Theologie auch Politkwissenschaften und Soziologie studiert, also einen viel weiteren Horizont als so normale Theologen wie ich hat.

Mathias Albracht beginnt mit einer kurzen Anekdote und liefert dann (Überraschung!) eine kurze autobiographische Skizze über seinen Weg in der Theologie und der Kirche. Immerhin werden hier wenigstens einige Stichwortgeber genannt: Lyotard, Levinas und einige Kirchenväter. Wer allerdings erwartet, dass jetzt unter Rückgriff auf Levinas das Fremde, das Andere reflektiert wird, wird auch hier eher enttäuscht, ist der Ertrag des Ganzen doch schlicht, dass der Verfasser kein Priester geworden ist, sondern als Laienseelsorger einen anderen Weg gegangen ist. Ach ja, und auch hier: Lyotard schrieb zwar „Das postmoderne Wissen“, den Begriff selbst hat er allerdings nicht entwickelt (71). Ja, ich weiß, jetzt bin ich wieder der spielverderbende Schriftgelehrte.

Steffi Krapf schreibt über ihre Theaterarbeit als Weg, Kirche und Gemeinschaft zu bauen. Im Theater können Menschen die Freiheit erfahren, die auch für den christlichen Glauben gilt. Sie können „einfach sein“ (90) und „spontan“ agieren. Das Theater könne so ein Ort der Präsenz Gottes sein: „Der Heilige Geist als Abgesandter Gottes zeigt sich für mich übrigens in der Spontaneität und Kreativität. Er wirkt wie Brausepulver, wobei wir Menschen das Wasser sind, und wenn er durch uns fährt, prickelt es so schön!“ (92) Die einzige Frage, die sich mir hier stellt, ist doch: Kann man dieses Brausepulver auch in gutem Kaffee (s.o.) auflösen?

In diesem Stil gehen die anderen Beiträge weiter. Ein kleines Anekdötchen am Anfang, dann ganz viel über sich selbst erzählen und diese eigene Erfahrung als Anker für gutes und neues Denken von Kirche hinstellen[1]. Dass es dafür dann, wie Sebastian Baer-Henney schreibt, eigentlich nicht unbedingt theologische Ausbildung braucht, sondern dass „geleistete Arbeit“ (149) als Einstieg in den hauptamtlichen Dienst in der Kirche reichen sollte, versteht sich dabei fast von selbst. Dass Kirche am besten, so er weiter, ein „Grundvertrauen darauf [hat], dass –  so unverständlich manche der neuen Wege auch sind – der Pionier weiß was er tut“ (153), ist dann in diesem Zusammenhang auch absolut klar.

Was ich, in meinem verklebten Universitäts- und Amtskirchen-Theologen-Sein, also bei der Lektüre gelernt habe, ist Folgendes: Im Kern des Aufbruchs der Kirche stehen einzelne Menschen, die sich selbst eine gewisse Autorität zuschreiben, die auf ihre eigenen Gaben verweisen, sich selbst als Propheten stilisieren und sich zu Pionieren machen. Eine Ausbildung oder wenigstens die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion braucht es offensichtlich nicht. Hautpsache, man hat etwas Neues beizutragen. Worin dieses Neue besteht?  Im Aufbrechen der alten Formen jedenfalls, in der Feier des Eigenen, in gutem Kaffee. Christliche Inhalte sind nur dann relevant, wenn Sie sich in die Form eines Lifestyles bringen lassen: ja, Christentum muss in diesem Zusammenhang irgendwie hygge[2] sein. Den Rest können wir einfach kappen. Schließlich waren ja Bonhoeffer und Sölle und so auch einfach „Wandernde und Wundernde ihrer Zeit, mit einer heiligen Unruhe versehen und der Erfahrung einer Fremde“ (9). Sie waren eben im Prinzip genauso wie Herrmann und Buiting, Feßmann und Baer-Kenney. Und wenn Bonhoeffer nicht gegen die Nazis hätte Opposition ergreifen müssen und Sölle nicht gegen den Nato-Doppelbeschluss kämpfen wollen, dann hätten die bestimmt auch für besseren Kaffee und mehr Feier des Lebens Partei ergriffen.

Ich muss also, um nochmal zu Anfang zurück zu kommen, meine Meinung tatsächlich ändern. Bis jetzt hielt ich das Ganze irgendwie für eine seltsame Form, die mir nicht entspricht und die ich für nicht ganz richtig halte. Jetzt ist mir völlig klar, dass bloße Skepsis die falsche Antwort ist. Dieser ungefilterte Narzissmus, der sich mit dem Fehlen theologischer (oder irgendwelcher) Tiefe paart, und als Konsequenz das belanglose Feiern des Eigenen propagiert, sich dann dabei auch noch mit prophetischer Autorität versieht, hat nichts Anderes verdient als: Opposition und Widerspruch. Dann bin ich halt weiter ein arroganter Universitätstheologe, der kein Gespür für das Neue mitbringt. Damit kann ich leben, weil „[j]emand muss es tun.“Vielleicht liege ich auch komplett falsch. Kann sein. Aber jedenfalls werde ich mir keine guten Zitate aus meinen Texten auf T-Shirts drucken lassen.

Ein weiser Mann schrieb lange vor mir:

„Hass, damit das endlich klar ist, bedeutet Wahrheit – und etwas mehr Ehrlichkeit. Hass, so wie ich ihn verstehe, hilft unterscheiden: zwischen Gut und Böse, Freund und Feind. Wer diese Unterscheidung nicht will, kennt keine Moral und keine Prinzipien. Dem ist egal, wer an seinem Tisch sitzt, wer ihn unterrichtet, wer sein Land regiert. Der interessiert sich in Wahrheit nur für sich selbst“.
(Maxim Biller)

Diese Selbstbezüglichkeit wenigstens soll man mir nicht vorwerfen.

 

 

 

[1]Um die Herausgeberin zu zitieren: „So sind sie [die Aufsätze] auch als fragmentarische Momentaufnahmen im Prozessgeschehen zu verstehen, die zu großen Teilen fragil und in hohem Maße vergänglich aufmerksam machen auf konkrete Facetten der Veränderungsprozesse der Kirche. Daher lassen sich die Aufsätze untereinander kaum vergleichen und sind exemplarisch für einen Teil von gemachten Erfahrungen mit dem Wandern und Wundern.“ (14) Keine weiteren Fragen, euer Ehren.

[2]http://www.hygge-magazin.de/

Study of Theology Revisited

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Randnotizen zu „It’s the theology, stupid

von Niklas Schleicher (@megadakka)

Tobias Graßmann hat auf nthk.de neulich einen Kommentar zu einer Debatte verfasst, woran es der Kirche eigentlich krankt. Der Artikel stieß und stößt auf viel Zustimmung, und an seiner Analyse ist nicht nur nichts verkehrt, sondern es ist ihr zuzustimmen: Theologie ist das, was Menschen (auch) erwarten, wenn sie Gottesdienste unserer Kirchen besuchen. Theologie als Arbeit an Lebens- und Glaubensproblemen ist es, was gerade auch die reformatorische Tradition auszeichnen sollte. Und es ist richtig: Ein Problem der Kirche ist es, dass es im Gottesdienst (aber nicht nur dort) an Theologie fehlt. Auch wenn mehr Theologie nicht alle Probleme auf einmal löst, ist es doch ein Schritt in die richtige Richtung. Die Forderung nach mehr Theologie steht im Raum und weist auf ein Problem hin: Anscheinend mangelt es an solcher. Hier ist der Punkt, an dem im Folgenden nochmal kurz anzusetzen ist.

Denn freilich: Oftmals ist es der Zwang des Berufs und eine gewisse Prioritätensetzung, die es Pfarrern und Pfarrerinnen schwermacht, Theologie zu treiben und ‚drin im Fach‘ zu bleiben. Dies ist ein entscheidender Punkt, lässt aber wohl doch nur darauf schließen, dass im Studium und in der Phase des Vikariats nicht deutlich genug wurde, dass der Beruf auch und ganz entscheidend von Theologie lebt. Dies ist natürlich auch deshalb eine interessante Diagnose, weil es der Evangelischen Kirche an vielen mangelt, aber sicher nicht an Ausbildungsorten, die Theologie und theologische Wissenschaft groß schreiben. Ohne Zweifel ist die deutschsprachige akademische Theologie immer noch sehr gut ausgestattet und sollte alles bereitstellen, um zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen theologisch so zuzurüsten, dass diese aus ihrer Ausbildung für ihre zukünftige Praxis profitieren können.

Nun ist es doch aber so, dass genau von dieser theologischen Ausbildung, die alle Pfarrerinnen und Pfarrer erfahren, bei vielen wenig hängen bleibt. Meines Erachtens liegt das an mindestens drei unterschiedlichen Gruppen, die mit der theologischen Ausbildung zu tun haben. Möglicherweise kann man, wenn man gewillt ist, an diesen Stellschrauben drehen, um die Analyse von Tobias Graßmann mit ein paar praktischen Forderungen zu ergänzen.

Zunächst zu den Studierenden. Es ist faktisch so, dass viele Menschen, die das Studium der Theologie beginnen, dies mit dem Ziel tun, später Pfarrer oder Pfarrerin zu werden. Anders formuliert: Der Berufswunsch steht zuerst und das Studium ist der Weg, diesen Wunsch zu erfüllen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber: Im Studium muss irgendwann der Punkt kommen, an dem man ein eigenes Interesse an theologischen Fragen und Themen entwickelt. Es muss zum eigenen Anliegen werden, zu verstehen, wieso man denn jetzt dieses Fach studieren muss. Man muss selbst Schwerpunkte setzen und sich vertiefen, denn nur so kann man eigenes theologisches Denken lernen. Freilich, der Einwand, der unter gegenwärtigen Bedingungen naheliegt, beginnt mit „B“ und endet mit „olonga“. Zugegebenermaßen ist die Modularisierung der Theologie nicht und ich wage zu behaupten auch sonst keinem geisteswissenschaftlichen Studium angemessen, aber genauso wenig kann sie eine Ausrede sein, eigenes theologisches Denken zu vermeiden. In jedem Seminar, in jeder Vorlesung, egal wie gut oder wie schlecht der Dozierende ist, geht es um theologische Fragen, um das Nachdenken darüber, wie einzelne Inhalte des christlichen Glaubens gedacht werden und wurden. Es ist das Mindeste und nicht zu viel verlangt, von Studierenden zu fordern, diese Gedanken nachzuvollziehen, sich dazu eigene Gedanken zu machen und sich auf das gemeinsame Denken einzulassen. Das fordert hier noch keine große Textlektüre, ist aber der Eingangspunkt zur eigenen theologischen Existenz. Denn auch wenn es nützlich und wichtig ist, über das Seminar hinaus theologische Literatur zu lesen, ist das nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist schlicht und ergreifend: Den eigenen Kopf einzuschalten.

Nun schreibe ich diesen Text quasi von der anderen Seite des Seminarraums und arbeite an der theologischen Ausbildung als Dozierender mit. Auch wir Dozierenden tragen entscheidend dazu bei, dass zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen Theologen sind und bleiben. Zwei Punkte sind hier anzudeuten, die miteinander zusammenhängen und an denen es durchaus mangelt. Erstens: Wir müssen deutlich machen können, wieso unser theologisches Fach, das Seminar oder die Übung, die wir gerade geben, von Bedeutung für die theologische Existenz und damit für den Beruf des zukünftigen Pfarrers ist. Es mag nämlich freilich für die Seminararbeit oder für das Examen reichen, wenn ich z.B. nach der Lektüre von Ritschls „Unterricht“ nachzeichnen kann, was denn nun seine Reich-Gottes-Vorstellungen für den Kulturprotestantismus des 19. Jhd. bedeutet und wo sich seine Lehre von der „klassischen“ Eschatologie unterscheidet. Für die eigene theologische Existenz bringt es aber überhaupt nichts, wenn man keine Idee davon bekommt, wie sich das zum christlichen Glauben verhält und inwieweit uns Ritschl hilft, mit „Glaubens- und Lebensfragen“ umzugehen. Für mich ganz konkret im Seminar bedeutet das, genau diese Art des Nachdenkens zu fördern. Denn freilich: Der erste Schritt ist das Verstehen des Textes, der zweite ist seine Interpretation, der dritte aber muss darin bestehen, wenigstens in Ansätzen darüber nachzudenken, inwieweit dieses Konzept hier und heute für meine Theologie, also mein reflektiertes Reden über Gott hilft. Und, auch wenn ich hier aus der Warte des Systematikers spreche, würde ich diese Forderung unumwunden auch an die anderen Fächer erheben.

Dies führt zu dem zweiten Punkt: Wir brauchen wenigstens eine Idee, was die Sache der Theologie ist. Man kann es nicht oft genug sagen: Die Differenzierung in unterschiedliche Fächer und Fachkulturen ist für die Professionalisierung der Theologie ein Segen. Aber gerade für den Beruf des Pfarrers oder der Pfarrerin, also für den Beruf eines „Allgemein-Theologen“, ist es notwendig, eine Idee zu haben, wie sich die unterschiedlichen Fächer gegenseitig beeinflussen. Es bedeutet eben für mein Reden vom Reich Gottes in der Dogmatik etwas, wenn meine Beschäftigung mit dem Neuen Testament ergibt, dass die Reich-Gottes-Predigt Jesu von der Naherwartung geprägt war usw. Das ist keine einfache Aufgabe, aber für eine ordentliche theologische Grundausbildung halte ich es für unumgänglich, dass wir uns wieder Gedanken um dasjenige Teilfach machen, dass den Zusammenhang der theologischen Fächer untersucht: Wir brauchen eine Wiedergewinnung der theologischen Enzyklopädie.

Neben der Studierendenschaft und der Dozierendenseite ist eine dritte Partei in die theologische Ausbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen involviert: Die Landeskirchen. Hier möchte ich gar nicht groß argumentieren, sondern das Ganze etwas offener formulieren. Ich gewinne den Eindruck, dass die Kirchen zwar irgendwie das erste Examen wollen und auch Zeit in die Prüfungen investieren, danach aber die theologische Weiterbildung (und auch Forschung) rein in der Hand und vor allem in der Freizeit der Pfarrerinnen und Pfarrer liegen sehen. Vielleicht muss man hieran auch weiterdenken, dass Theologie und theologische Weiterbildung nicht der Privatspaß der Pfarrer und Pfarrerinnen ist (Spaß macht es hoffentlich auch!), sondern für den Beruf jedenfalls, wenn das stimmt, was Tobias Graßmann schreibt von eminenter Bedeutung zu sein scheint. Man muss hier gar nicht unbedingt große neue Programme schaffen, die gibt es mit Studienseminaren wie das der VELKD in Pullach oder anderen bereits. Sondern man muss Pfarrer und Pfarrerinnen ermutigen, es ihnen ermöglichen, aber auch fordern, dass sie in ihr Berufsleben Theologie integrieren.

Wenn die drei angesprochenen Gruppen kooperativ und ernsthaft an der Sache arbeiten, dann gelingt es vielleicht, dass der Beruf des Pfarrers, der Pfarrerin wieder zu einem sogenannten theologischen Beruf wird. Hinsichtlich der Herausforderungen, vor die die Kirche gestellt ist, wäre das zu begrüßen.

nachgehakt! — Praktische Theologie und Ethik

Neue Rubrik: nachgehakt! – Hinführung

Was macht eigentlich…? Im Raum der Kirche wie im Bereich der Theologie eine Frage, die sich immer wieder stellt – sowohl innerhalb als auch durch diese beiden Sphären hindurch. Bei der Ausdifferenzierung der verschiedenen Sphären ist es schwer, den Überblick zu behalten. Aber auch mangelnde Austauschforen tragen dazu bei, dass viel „nebeneinanderher“ gearbeitet wird.

Unsere neue Rubrik nachgehakt! möchte sich diesem Problem stellen und zu einer Vernetzung, zu vermehrter Transparenz und zum Austausch kirchlicher und theologischer Arbeitsfelder beitragen.

Ziel ist es, verschiedene, auf den ersten Blick vielleicht nicht immer gleich zusammenpassende Personen aus verschiedenen Bereichen in ein Gespräch zu bringen, das aus einer Frage und einer Reaktion darauf (und gerne natürlich auch aus mehr) besteht. Um zu zeigen, wie nachgehakt! funktionieren könnte, beginnen wir selbst mit der Frage einer Praktischen Theologin an einen Ethiker.

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre und hoffen, dass die Rubrik nicht nur auf Interesse stößt, sondern auch Vernetzungen anregt. Gerne nehmen wir auch Vorschläge für Paarungen entgegen!

Claudia Kühner-Graßmann und Niklas Schleicher

Die Praktische Theologin fragt den Ethiker

Lieber Niklas,

unsere Disziplinen leben ja – nicht nur wegen diverser persönlicher Verbindungen – in guter Nachbarschaft.1 Zwar sind die Differenzen nicht zu übersehen, etwa bezüglich der Themen oder Adressaten. Dennoch bezieht auch Ihr Ethiker Euch in gewisser Weise auf die „Praxis“. Die Praxis, auf die wir Praktische Theologen uns beziehen, kann in gewisser Weise eingegrenzt werden als kirchliche Praxis, die etwa durch CA VII theologisch näher qualifiziert wird. Sehr grob gesagt, geht es um die Reflexion kirchlicher Vollzüge – vornehmlich für Pfarrerinnen und Pfarrer bzw. Theologinnen und Theologen im weiteren Sinne –, wobei der Charakter der Reflexion, die die Praktische Theologie ist, durchaus strittig und unterschiedlich bestimmt ist.

Wie siehst Du Euren Bezugspunkt qualifiziert? Inwieweit seid Ihr Ethiker also auch „Praktische Theologen“? Kommen wir uns gar in gewisser Weise in die „Quere“? Was bedeutet das für eine Zusammenarbeit von Praktischer Theologie und Ethik? Was erwartest Du als Ethiker dabei von der Praktischen Theologie? Was kann die Praktische Theologin von Euch Ethikern lernen? Und wo siehst Du die Grenzen unserer Nachbarschaft und die größere Nähe zur Schwester Dogmatik?

Liebe Claudia,

eigentlich könnten wir die Frage lösen, indem wir, in guter Münchner Tradition, auf die Genese des Faches Ethik schauen. Wenn man es ganz grob fasst, dann wird man festhalten müssen, dass beide Fächer ziemlich zeitgleich als eigenständige entstanden sind (vgl. dazu das historische Kapitel in Grethleins Praktischer Theologie) und zunächst eng verbunden waren. Nun wissen ja aber mittlerweile auch die Münchner, dass allein ein Verweis auf die Historie nicht hilft, um Dinge zu erklären oder zu bestimmen. Ich versuche dann einfach mal mit deinen Fragen und Hinweisen zu arbeiten.

Unseren gemeinsamen Bezugspunkt verortest du in der Praxis und differenzierst dann, dass der Bezugspunkt der praktischen Theologie vielleicht durch den Bezug auf die kirchliche Praxis besser beschrieben wird. Mir leuchtet diese Bestimmung des Bezugspunktes sehr ein, es fällt mir aber schwer, eine ähnlich präzise Bestimmung für die Ethik zu finden. Ich schlage deshalb vor, dass wir, auch um einen Vergleichspunkt zu bekommen, eine komplementäre Bezugspunkt-Bestimmung vornehmen: Man könnte es mit dem Leben des Menschen versuchen. Unsere beiden Fächer beziehen sich, vor allem auch in ihrer deskriptiv-hermeneutischen Aufgabe (vgl. dazu Körtners Aufgabenbestimmung der Ethik in seiner „Evangelischen Sozialethik“) auf das gelebte Leben von Menschen. Die praktische Theologie beschreibt dieses Leben vielleicht unter der Perspektive des Bezugs auf kirchliche Bezüge, die Ethik unter verschiedenen Kategorien der Orientierung im Vollzug. Offensichtlich ist, dass beide Fächer „mehr zu tun haben“, wenn das Leben des Einzelnen unter einer besonderen Frage steht: Ethik wird eher in Grenzfällen „aktiv“, aber auch kirchliche Praxis, selbst der Sonntagsgottesdienst durchbricht in gewisser Form den Alltag.

Unter dieser Perspektive können wir vielleicht bestimmen, wie sich Ethik und Praktische Theologie zueinander verhalten: Sie setzen dort ein, wo das Leben des Menschen unter besonderen Vorzeichen thematisiert wird.

Für die Praxis beider Fächer ergeben sich dementsprechend wichtige und vielleicht noch zu wenig erforschte und gelehrte Bezugspunkte. Ich denke hier zunächst an Bereiche der Seelsorge in Grenzfällen gerade medizinischer Natur. Man könnte zum Beispiel den ganzen Komplex der „Reproduktionsmedizin“ und damit einhergehenden Verfahren wie z.B. IVF-Maßnahmen betrachten. Die ethische Theoriebildung ist in diesen Feldern, sowohl was die hermeneutische als auch die normative Perspektive angeht, mittlerweile sehr ausdifferenziert und bietet unterschiedliche Umgänge. Die praktische Theologie hat mit diesem Bereich wahrscheinlich zunächst im Bereich der Seelsorge zu tun. Wichtig und gewinnbringend wäre es nun, wenn die Ethik von der Praktischen Theologie insofern hinterfragen lässt, als dass diese aufzeigt, welche Fragen denn eigentlich in konkreten Situationen des Lebens von Betroffenen auftritt. Gleichzeitig kann die praktische Theologie von der Ethik so profitieren, als dass diese aufzeigt, wo eventuell ethische Probleme auftreten können und wie diese modelliert sind, so dass die praktische Theologie Wege findet, unter diesen Vorzeichen, Möglichkeiten der Kommunikation zu erarbeiten.

Es ist durch das gesagte offensichtlich, dass die praktische Theologie und die Ethik wenigstens zwei Wissenschaften außerhalb der Theologie haben, auf die Sie sich in höherem Maße als die anderen Kernfächer der Theologie beziehen: Die Soziologie und die Psychologie2. Dies ist insofern auch so simpel wie evident, da diese beiden Fächer versuchen, die Struktur und die Verfassung menschlichen Lebens zu beschreiben und zu deuten (womit sie sich von der Biologie und verwandten Fächern abheben).

Die größere Nähe der Ethik zur Dogmatik besteht wahrscheinlich eher in geistesgeschichtlicher Natur, indem man sich verdeutlicht, dass Ethik und Dogmatik auf philosophischen Wurzeln ruhen und andererseits die Trennung von Lehre und Leben etwas ist, dass erst in der Neuzeit aufkommt. Prinzipiell jedoch ist die Nähe zu praktischen Theologie für die Ethik für die zukünftige Bedeutung des Faches vielleicht von größerer Bedeutung: Etwas größeres als Leben des einzelnen Menschen gibt es – jedenfalls in hermeneutischer Perspektive – nicht zu beschreiben und zu deuten.

1Vgl. die Darstellung bei Albrecht, Christian: Enzyklopädische Probleme der Praktischen Theologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 10), Tübingen 2011, S. 89-104.

2Freilich hat v.a. die praktische Theologie noch viele andere Bezugswissenschaften, die hier nicht aufgezählt werden können. Mir geht es vor allem, hervorzuheben, dass Soziologie und Psychologie innerhalb der theologischen Landschaft fast ausschließlich von der Ethik und der Praktischen Theologie rezipiert werden. Eine gewisse Zeit hat die Dogmatik sich noch um religionspsychologische Fragen gekümmert; dies spielt in der gegenwärtigen Landschaft m.M.n. aber keine Rolle mehr.