NThK-Weihnachtsbücherei 2021

Nachdem wir im vergangenen Jahr pausiert hatten, gibt es in diesem Jahr wieder eine Weihnachtsbücherei. Vielleicht findet der eine oder die andere unter den Titeln, die wir hier kurz vorstellen, ein passendes Geschenk für unter dem Baum oder aber eine Inspiration zum Lesen in der Adventszeit oder zwischen den Jahren.

Wir jedenfalls wünschen allen Leser*innen eine besinnliche Adventszeit, frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr.

Martin Böger empfiehlt:

Uta Pohl-Patalong, Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021.

Die große Stärke dieses Buches ist: Pohl-Patalong stellt die aktuellen Fragen kirchlicher Praxis in befreiender Offenheit und anregender Klarheit. Dabei verfällt sie nicht in einen larmoyanten oder pessimistischen Unterton, sondern eröffnet mit dem Dreischritt (1) analytische Beschreibung, (2) systematisierendes Hintergrundwissen und (3) alternative Szenarien einen Raum zum selbsttätigen Weiterdenken, der nicht von Überforderungen oder scheinbaren Richtigkeiten eingeengt wird.

Ihr Anspruch ist es nicht einen Königsweg zu erläutern und mit dem Nimbus des wissenschaftlichen Adlerblickes auszustatten, sondern Methoden, Logiken und Systematisierungsvorschläge zum eigenständigen Denken und Handeln anzubieten.

Die Situationsanalysen und die anschließenden historischen und theologischen Einordnungen machen eigentlich ein ums andere Mal deutlich, dass die Strukturen und Denkmuster der gegenwärtigen kirchlichen Handlungsfelder und Bezugsgrößen eigentlich kaum noch in ihre aktuelle Lage und Situation passen. Wir stehen vor der Aufgabe, wie die gewachsenen kirchlichen Handlungsfelder, Aufgaben und Selbstverständnisse für eine gelingende Zukunft transformiert werden können. Das ist keine Frage des „Ob“, sondern des „Wie“.

Dabei programmatisch die Kommunikation des Evangeliums in den Mittelpunkt aller kirchlichen Strukturfragen und Handlungsfelder zu stellen, hat den großen Charme, damit eine theologische Grundkategorie an der Hand zu haben, die alle anderen Logiken von Gemeinde und Kirche (juristische, gesellschaftliche, organisatorische, institutionelle,…) justiert und auf diese hin ausrichtet.

Günter Thomas, Im Weltabenteuer Gottes leben. Impulse zur Verantwortung für die Kirche, Leipzig 2020.

„Dieses Buch möchte ermutigen, indem es theologisch provoziert“ – das ist der Anspruch, den Günter Thomas mit seiner Studie hegt.

Günter Thomas widmet sich in verschiedenen Impulsen den gegenwärtigen „Krisen“ kirchlicher Wirklichkeit. Dabei ist für Thomas die derzeitige Krise nicht zuerst eine institutionelle, die durch verschiedene Strukturdebatten gelöst werden könnte, sondern eine theologische.

Theologische Grundierung finden die Thesen Thomas‘ dabei in der Einsicht, dass der Glaube die Entdeckung mit sich bringt, „in eine Geschichte einbezogen [zu sein], die in aller relativen und riskanten Offenheit nicht nur vom Menschen, nicht nur von der kosmischen Evolution, sondern von Gott vorangetrieben wird“. Christlicher Glaube rechnet mit Gottes Lebendigkeit. Daher sollte in der Kirche wieder mehr von Gott gesprochen werden. Und zwar nicht in abstrakten Worthülsen, sondern in einer theologisch-existentiellen Art, die an das glaubt und damit rechnet, dass Gottes Lebendigkeit, sein Sein und Wirken unsere Wirklichkeit umgreift.

Von diesem Standpunkt aus, so Thomas, lasse sich wieder befreiter, konzentrierter und klarer die Aufgabe der Kirche erkennen und recht verorten: nämlich im Weltabenteuer Gottes mitzuwirken, weg von einer „grenzenlosen Weltverantwortung“ hin zur Fokussierung und einer weltzugewandten Ausgestaltung des paulinischen Dreiklangs von Glaube, Liebe, Hoffnung in unseren kirchlichen Handlungsfeldern.

Wer Lust hat auf etwas Provokation und steile Thesen – und ja, auf einen leichten barth’schen Duktus eines theologischen Neuanfangs 😉 –, dem sei dieses Buch des Bochumer Systematikers sehr empfohlen.

Tobias Graßmann empfiehlt:

Michail Bulgakow: Das hündische Herz. Eine fürchterliche Geschichte, 4. Aufl., München 2019. 9,90€

Dieser satirische Roman aus der frühen Sowjetunion legt rasant los und liest sich fast wie ein Theaterstück. Weil er die Libido seiner prominenten Patientenschaft durch die Implantation tierischer Organe zu befördern vermag, konnte ein berühmter Arzt seinen großbürgerlichen Lebensstil auch über die Revolution hinweg retten. Doch dieser gerät in Gefahr, als er wissenschaftlich auf Größeres zielt und sich an ein grausiges Experiment macht: Er implantiert einem Straßenköter die Hypophyse eines kürzlich verstorbenen Tunichtguts. Die aus dieser biotechnologisch-medizinischen Auferstehung entstandene Kreatur sorgt nach kurzer Zeit der Begeisterung für reichlich Verwirrung und Konflikte. Ist daran ihr hündisches Herz schuld? Oder vielmehr ein allzu menschlicher Hang zu Schweinereien, gegen die auch tierische Treue nicht ankommt? Und was sagt all das über eine Gesellschaft aus, wenn sich durchtriebene Hundemenschen allzu schnell und viel zu gut in sie einfügen?

Bernd U. Schipper/Georg Plasger(Hgg.): Apokalyptik und kein Ende? (Biblisch-theologische Schwerpunkte Bd. 29), Göttingen 2007. 7,00€

Sammelbände sind eine kritische Gattung. Allzu oft merkt man ihnen an, dass ziemlich durchwachsenes und nur lose auf eine Thema bezogenes Material allein durch den Willen zur Publikation zusammengeschnürt wurde. Das ist hier anders und das macht diesen Band empfehlenswert. Wer sich aus exegetischen, historischen und gegenwartsorientierten Perspektiven dem Phänomenbereich des Apokalyptischen annähern will, findet in diesem Buch einige informative, anregende und auch gut lesbare Beiträge zusammengestellt: Wie kommt es dazu, dass Menschen die Zeichen der Zeit zu entschlüsseln suchen? Und was passiert, wenn sie dabei auf das drohende Ende dieser Weltzeit und des gesamten Kosmos stoßen? So entsteht ein überzeugendes und differenziertes Gesamtbild. Gerade in apokalyptisch bewegten Zeiten wie den unseren regt dieser Band dazu an, die Potentiale und Ambivalenzen apokalyptischer Weltwahrnehmung auszuloten – die dynamisierenden und stabilisierenden, die fortschrittlichen und reaktionären Aspekte einer Tradition, die in den Krisenepochen des Alten Orients wurzelt und seitdem Menschen in ihren Bann zieht. Man darf vermuten: Auch weiterhin ohne Ende… 

Tobias Jammerthal empfiehlt:

Christoph Strohm: Kulturwirkungen des Christentums? Beobachtungen zu Thomas Karlaufs „Stauffenberg“ und Jan Assmanns „Totaler Religion“, Tübingen 2021.

In der kleinen weißen Reihe des Mohr-Siebeck-Verlages finden sich immer wieder gut lesbare, aber inhaltlich anspruchsvolle Texte. Dieser hier gehört dazu: Der Heidelberger Kirchenhistoriker Christoph Strohm zeigt mustergültig auf, was eine Kirchengeschichte leisten kann, die sich nicht aus den intellektuellen Diskussionen ihrer Zeit zurückzieht. Er tut dies anhand zweier sehr unterschiedlicher Beispiele: Jan Assmanns These vom latent gewalttätigen Monotheismus und Thomas Karlaufs Stauffenberg-Biographie. Eine wahre Freude – nicht zuletzt wegen des flüssigen Schreibstils.

Alfred Kohler: Ferdinand I. (1503–1564). Fürst, König und Kaiser, München 2017.

Dass der C.H. Beck-Verlag eine gute Adresse ist, wenn man nach fachlich aktuellen Biographien sucht, die sich auch ohne Bleistift und Exzerptblock genießen lassen, ist kein Geheimnis. Insofern ist dieser Titel auch nur ein Beispiel unter vielen – aber ein lohnendes. Auf Basis einer stupenden Quellenkenntnis zeichnet Alfred Kohler ein facettenreiches Porträt desjenigen Habsburgers, der durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 einen Platz in der Reformationsgeschichte beanspruchen darf, und an dem es doch so viel mehr zu entdecken gibt. Ein angenehmer Begleiter für die gemütlichen Stunden „zwischen den Jahren“ – oder wann immer man Lust nach einer guten historischen Biographie verspürt.

Julian Scharpf empfiehlt:

Jörg Lauster: Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021. 29,95 Euro

Mit Begeisterung denke ich an Jörg Lausters Meisterwerk „Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums“ zurück, die der Autor 2014 veröffentlichte. Lausters Fähigkeit, geschichtliche Zusammenhänge zu überblicken und so spannend wie auch verständlich zu verschriftlichen, ist beeindruckend. Es muss ein Stachel im Fleisch der Kirchengeschichtler sein, dass ausgerechnet einem Systematischen Theologen so ein großer Wurf gelungen ist.

Im Jahr 2021 hat Lauster „Der Heilige Geist. Eine Biographie“ vorgelegt. Als durchschnittlicher Christ in Westeuropa ist man ja ein wenig irritiert von der weltweiten pfingstlerischen Bewegung in all ihren Erscheinungsweisen und dementsprechend etwas vorsichtig gegenüber den menschlichen Annährungsversuchen an das Wirken der Geistkraft. Lausters weiter Horizont vermag es, Faszination für den Heiligen Geist auszulösen und neue Perspektiven auf ihn und Zugänge zu ihm zu bekommen. Es ist doch eine schöne Pointe, dass der Heilige Geist ausgerechnet von einem deutschen Kulturprotestanten so großartig gewürdigt wird.

Jonathan Franzen: Crossroads, Hamburg 2021. 28 Euro

Jonathan Franzen eröffnet mit Crossroads eine Trilogie mit dem Titel „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“, welche über drei Generationen einer Familie des Mittleren Westens in den USA berichtet. In Crossroads geht es um die Pfarrersfamilie Hildebrandt. Russ Hildebrandt ist ein liberaler Pfarrer, der in seiner Gemeinde Konkurrenz durch einen neuen jüngeren Pfarrer bekommt, der eine Jugendgruppe namens Crossroads gründet. Aus dieser Gruppe wird Russ Hildebrandt ausgeschlossen, was seiner Midlife-Crisis Aufwind gibt.

Wenn Franzen die Dynamiken dieser Gruppe beschreibt, zeigt er seine große Könnerschaft und jeder, der schon einmal in einem ähnlichen System unterwegs war, nickt bei Zeilen wie diesen: „Es war ein Crashkurs über die Grundlagen der Crossroads-Ökonomie: Die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen brachte einem überwältigende Zustimmung ein. Von lauter Gleichgesinnten – die meisten älter als man selbst, davon viele attraktiv – bestätigt und gehätschelt zu werden war außerordentlich angenehm. Perry wollte mehr von dieser Droge.“

…und Franzens Buch kann einen auch süchtig machen.

Niklas Schleicher empfiehlt:

Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung (hg. von Friedemann Steck), Tübingen 2021.

Seit Jahren gibt es die Gerüchte darum, dass der emeritierte Hallenser Professor für Systematische Theologie, Ulrich Barth, eine Dogmatik (oder Systematische Theologie oder Glaubenslehre) schreiben würde. Ich habe, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr so richtig daran geglaubt. Im Herbst 2021 allerdings erschien von Ulrich Barth „Symbole des Christentums“, herausgegeben von Friedemann Steck. Erwachsen ist das Buch aus der Dogmatikvorlesung, die Ulrich Barth nach seiner Emeritierung in Berlin gehalten hat. Das führt zu dem ersten großen Vorteil: Es ist wirklich gut und flüssig lesbar; man merkt ihm an, dass es mal „gesprochenes Wort“ war. Inhaltlich ist es der Versuch aus liberaler Tradition heraus die klassischen Lehrstücke (die hier Symbole) heißen darzustellen und für die gegenwärtige Theologie zu interpretieren. Die Gewährsmänner sind dabei vor allem Schleiermacher, Ritschl und Hirsch. Möglicherweise liegt mit diesem Buch der letzte dogmatische Entwurf vor, der sich dezidiert in der liberalen Theologie verortet. Ob der Entwurf durchgehend zu überzeugen vermag, muss jeder für sich entscheiden. Aber wenn man unter den Bedinungen des 21. Jahrhunderts Dogmatik betreiben will, dann sollte man, wenn man es ernst meint, Ulrich Barths Entwurf zur Kenntnis nehmen.

[Asmodee Games]: Trial by Trolley

Manchmal lernt man beim Spielen mehr als durch ein Buch. „Trial by Trolley“ ist ein Spiel, dass das Trolley-Dilemma, das auf Philippa Foot zurückgeht, ernst nimmt. Einer übernimmt den Zugführer und zwei Gruppen versuchen diesen davon zu überzeugen, nicht die Personen (oder Tiere) auf ihrem Gleis zu opfern. Das klingt makaber, ist es auch, führt aber, wenn man es ein bisschen ernst nimmt, zu interessanten Debatten: Wen eher retten, den Forscher, der ein Mittel gegen Krebs entwickelt oder Mitglieder der Familie des Mitspielers? Oder: Den Forscher retten, obwohl man damit auch einen Serienkiller verschont? Es ist vielleicht nicht das Spiel für Heilig-Abend, aber spätestens zu Silvester kann man damit durchaus etwas Zeit verbringen. Die Empfehlung ist allein: Am Besten mit Menschen spielen, die man schon länger kennt und mag. Es zeigt nämlich durchaus vieles von der Persönlichkeit…

Dörte Maria Packeiser, u.a. (Hgg.): Lied trifft Text. Eine Arbeitshilfe zur Gottesdienstgestaltung mit dem Evangelischen Gesangbuch, Stuttgart 82020.

Das Buch gibt es schon länger, mittlerweile liegt es in einer Version vor, die die geänderte Perikopenänderung aufnimmt. Zu jedem Predigttext liefert das Buch Hinweise für Lieder, die zum Text passen, diesen aufnehmen oder der Aussage des Textes weitere Komponenten erschließen. Dabei hat das Buch auch die neuen Lieder aus den Ergänzungsbüchern zum Evangelischen Gesangbuch vor Augen. Schließlich gibt es zu jedem Sonntag auch immer noch weiterführende Hinweise zur liturgischen Gestaltung. Auch wenn das Buch natürlich in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg entstanden ist, können auch Hauptamtliche und Ehrenamtliche der anderen Landeskirchen gewinnbringend damit arbeiten; viele Lieder aus den Ergänzungsbüchern sind ja auch gleich. Ein Buch, dass einem hilft, nicht immer die gleich Klassiker singen zu lassen und damit auch die Vielstimmigkeit evangelischen Liedguts zu Gehör bringt.

NThK-Weihnachtsbücherei 2019

Wie im letzten Jahr wollen wir zur Weihnachtszeit eine kleine Liste von Büchern bereitstellen, die wir, das NThK-Team sowie als Gäste Sabrina Hoppe und Philipp Greifenstein, jeweils selbst gerne gelesen haben und als Weihnachtsgeschenke, aber auch zur jahreszeitlich unabhängigen Lektüre empfehlen. In diesem Jahr ergeben sich aus den eingereichten Vorschlägen vier Kategorien: Zunächst die im engeren Sinne theologische Fachliteratur (I.). Unter der zusammenfassenden Überschrift „Frömmigkeit und kirchliches Leben“ (II.) finden sich Bücher, die zwar das Theologische berühren, aber doch einen anderen Fokus haben. In der Kategorie „Sonstiges“ (III.) wird ein Blick auf andere Wissenschaften – im engeren fachlichen wie popularwissenschaftlichen Sinne – geworfen. Schließlich gibt es am Ende eine eigene Rubrik für Belletristik (IV.). Die Auswahl der Bücher spiegelt persönliche Interessen und Vorlieben wider.

Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre und eine besinnliche Adventszeit!

I. Theologische Fachliteratur

1) Johannes Fischer: Präsenz und Faktizität, Tübingen 2019.

Niklas Schleicher: In seiner neusten Aufsatzsammlung legt Fischer nochmal Beiträge zu zwei Themenbereichen vor, die ihn über die letzten zehn Jahre beschäftigt haben: Das Verhältnis von Ethik und Moral und die Frage der Bedeutung von Religion in der Ethik. Gerade zu letzterem Themenfeld sind die Überlegungen sehr weiterführend und in dieser Form von ihm noch nicht veröffentlicht. Seine Überlegungen sind gerade auch deshalb auch lesenswert, weil er eine einfache Übertragung von religiöser Lehre zu Handlungsanweisungen nicht nur hinterfragt, sondern einen gänzlich anderen Weg geht.

2) Wolfgang Huber: Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit, München 2019.

Martin Böger: Ja, man könnte denken: Schon wieder ein Buch über Bonhoeffer. Aber ich finde Huber ist mit seiner Biographie Bonhoeffers etwas Besonderes geglückt. Auf relativ wenigen Seiten entwirft er nicht nur ein sehr persönliches und tiefgründiges Bild des Theologen und Widerstandskämpfers, sondern vermag es auch theologische Grundeinsichten und Fragestellungen zu beleuchten, die Bonhoeffer Zeit seines Lebens umgetrieben haben und auf die er weiterführende Antworten ausgeführt und angedacht hat. Was am Ende der Lektüre von Hubers Buch leider sehr schmerzlich deutlich werden kann, ist, dass die Ermordung Bonhoeffers durch das NS-Regime uns viel zu früh einen großen und wirkmächtigen Theologen genommen hat, der noch so manches hätte leisten können für Theologie, Gesellschaft und Kirche.

3) Jörg Hübner: Christoph Blumhardt. Prediger, Politiker, Pazifist. Eine Biographie, Leipzig 2019.

Julian Scharpf: Wer die Landeskirche Württemberg in ihrer Spannung zwischen individuell-spiritualisiertem Pietismus und weltumspannender sozialökologischer Reich-Gottes-Arbeit erkunden möchte, dem sei die Beschäftigung mit dem archetypischen Vater-Sohn-Gespann Blumhardt empfohlen. Zum 100. Todestag des Jüngeren, Christoph Blumhardt, legt der Direktor der Ev. Akademie Bad Boll, Jörg Hübner, eine Biographie vor, die sich auf neu zugängliches Archivmaterial beziehen kann. Diese Biographie lässt die Leser*innen das Denken und Wirken des „bibel- und auch Bebelfesten“ Blumhardts schlüssig nachvollziehen.

Gerade in der Zusammenschau mit den unterschiedlich akzentuierten Vor- und Nachworten ergibt sich das Bild eines Menschen, dessen Impulse in Fragen der Gerechtigkeit, Ökologie und des Friedens  auch in unserer Zeit beachtenswert sind. Neben dieser Lektüre empfiehlt sich immer auch ein Spaziergang durch Bad Boll, um sich in der Ev. Akademie, dem Literatursalon der Villa Vopelius, auf dem Friedhof und im Kurhaus in den Bann der Blumhardts ziehen zu lassen.

4) Karin Oehlmann: Glaube und Gegenwart. Die Entwicklung der kirchenpolitischen Netzwerke in Württemberg um 1968 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 62), Göttingen 2016.

Martin Böger: Ich gebe gleich zu: Ja vielleicht ein Buch für Insider und Liebhaber des württembergischen kirchenpolitischen Sonderwegs. Aber auch für alle anderen interessant, die sich für die Entwicklung des Protestantismus in der frühen Bundesrepublik interessieren. Oehlmann kann nämlich sehr deutlich machen, wie gesellschaftspolitische Themen kirchliche Kreise bewegen und zu einer innerkirchlichen Politisierung führen. So zeigt sie, dass einerseits der Bultmann-Streit um die historisch-kritische Methode zumindest in Württemberg zu großen Zerwürfnissen geführt hat und andererseits das beginnende Kirchentagsengagement im Fahrwasser der 1968-Bewegung innerkirchlich weite Kreise gezogen hat, die bis heute Wirken. Beides bewegt also die Kirche und ihre Diskussionen: Theologische Sachfragen und gesellschaftliche Entwicklungen. Und das ist auch gut so!

5) Sonja Angelika Strube (Hg.): Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg i. Br. 2015.


Philipp Greifenstein: Nicht nur in der Sächsischen Landeskirche begeben sich Christ*innen auf die Reise herauszufinden, was noch „wertkonservativ“ und was schon rechtsradikal ist. Neben dem Grundlagenwerk „Rechtsextremismus“ von Samuel Salzborn sind die von Sonja Angelika Strube herausgegebenen theologischen Sammelbände („Das Fremde akzeptieren“, Freiburg i. Br. 2017) dafür eine unverzichtbare Wegbegleitung. Denn es ist ja überhaupt nicht so, dass auf dem Feld der Auseinandersetzung von Kirche und Theologie mit rechtsradikalem Gedankengut nicht schon geackert würde.

Dabei eignet sich der erste Band „Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie“ auch als Einstieg für Theolog*innen und Kirchenmitarbeiter*innen, die bisher der Thematik keine Aufmerksamkeit gewidmet haben. Autor*innen unterschiedlicher Hintergründe beschreiben Erscheinungsformen rechten Denkens in Theologie und Kirche und buchstabieren durch, welche Ideologien der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit besondere Relevanz für den christlichen Kontext haben. Was ich schon 2015 geschrieben habe, gilt auch jetzt: „Dieses Buch gehört in diesem Jahr auf jeden Schreibtisch, hinter dem ein theologisch interessierter Mensch sitzt.“

6) Christiane Tietz: Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, München 2018.

Tobias Jammerthal: Zu den Erträgen des Karl-Barth-Jahres gehört auch diese Biographie, die tatsächlich eine Biographie sein will – anders als andere Bücher über den großen Basler, die Biographie und Roman mischten. Die maßgebliche Darstellung von Barths Lebenslauf wurde von seinem persönlichen Assistenten Eberhard Busch verfasst; entsprechend groß sind die Fußtapfen, in die Christiane Tietz tritt. Aber schnell merkt der Leser: Hier hat sich jemand nochmal durch die Quellen durchgearbeitet. Die Zürcher Ordinaria folgt den Spuren des Materials, kontextualisiert es im erforderlichen Rahmen, gruppiert es thematisch und chronologisch und schreibt bei alledem gut lesbar. Ihren Respekt vor Barth will Tietz nicht verbergen, lässt sich dadurch aber nicht dazu verleiten, unkomfortablen Zusammenhängen aus dem Weg zu gehen (vgl. die etwa 20 Seiten zur Dreiecksbeziehung zwischen Barth, seiner Gattin und Charlotte von Kirschbaum). Man liest es gerne und lernt dabei.

II. Frömmigkeit und kirchliches Leben

1) Susanne Breit-Kessler/Susanne Janssen: Die großen Töchter Gottes. Starke Frauen der Bibel, Leipzig/Stuttgart 2018.

Claudia Kühner-Graßmann: Von den nicht wenigen Büchern, die es zu Frauen in der Bibel gibt, spricht mich dieses von der Deutschen Bibelgesellschaft und edition chrismon herausgegebene Buch besonders an. Die Porträts von Malerin Susanne Janssen und die Texte von Susanne Breit-Kessler schaffen zusammen einen berührenden ästhetischen Zugang zu verschiedenen Frauen der Bibel. Mit und aus dem konkreten biblischen Kontext werden Porträts in Bild und Text geschaffen, die zugleich allgemein Menschliches, ja „Weibliches“ beinhalten. Es ist keine Verklärung weiblicher Stärke, sondern gerade die Spannung von Mut und Vorsicht, Erfolg und Scheitern: So hält Breit-Kessler für Mirjam durchaus ambivalent fest: „Gottes kleine und große Töchter haben gelegentlich einen hinreißenden rebellischen Schwung, der sie ab und zu weit über die Ziellinie hinausträgt.“ Pragmatisch geht es aber weiter: „Das ist so. Dann gilt es innezuhalten, nachzudenken, sich zu besinnen und schließlich, klüger geworden, weiterzumachen“ (S. 22). Die biblischen Frauengestalten werden so zu Vorbildern für die Gegenwart. Die wortgewaltigen, anregenden, behutsamen Texte nehmen mit hinein in die Situation der sechs Frauen aus dem Alten und sechs aus dem Neuen Testament und bringen die eindrücklichen Bilder zum Leben. Das Buch ist für nicht nur eine Geschenkidee für „Töchter Gottes“, sondern stellt auch einen künstlerischen Zugang zur Predigtvorbereitung bereit, der zugleich theologisch wie biblisch fundiert ist.

2) Susanne Niemeyer, Siehst Du mich? Das andere Jugendgebetbuch, Freiburg i. Br. 2017.

Sabrina Hoppe: Wer die Geschichten, Gedankenstreusel und Postkarten von Susanne Niemeyer kennt, weiß, dass sie auf eine Art und Weise Fragen stellen kann, die einen eine Antwort finden lassen, ohne dass man es selbst merkt. Vielleicht ist es auch anders herum: Sie gibt Antworten, die im eigenen Kopf zu Fragen werden. Man kann ihre Bücher an Menschen verschenken, die ehrenamtlich in der Kirche arbeiten, man kann ihre Impulse zu Predigten verarbeiten oder ihre Postkarten zur Konfirmation verschenken.

Niemeyers Gedanken und Bilder zwischen Fragen, Antworten, Himmelreich und Pistazieneis passen aber tatsächlich auch besonders gut zu einer ganz anderen Zielgruppe: zu Jugendlichen in Schule und Konfirmationsunterricht. Gemeinsam mit ihrer Schwester Friederike Niemeyer hat sie 2017 mit „Siehst Du mich?“ ein kleines „Jugendgebetbuch“ herausgegeben, das weder Lernstoff noch Jugendkatechismus ist, sondern zum Selberdenken, Schreiben, Malen und Nachfragen bringt: „Es gibt tausend Wege, Gott zu finden. Finde deinen“, ist der rote Faden des Buches. Theologisch ausgedrückt wählt sie einen anthropologischen Zugang, um Jugendliche nach ihren Bildern von Gott und der Welt zu fragen. Pädagogisch formuliert liefert sie Denkanstöße für das eigene Nachdenken. Und ganz subjektiv: Sie schreibt in wunderschönen, knappen Sätzen auf, was es heißt, Gott zu suchen: Wer bin ich und wo suche ich deshalb nach Gott? Wo beginnt der Himmel und wer kann ihn aufhalten? Was trägt Dich? Kann man sich selbst erlösen?

Sie stellt diese Fragen in Dialogen, lässt Platz frei für Zeichnungen, stellt Linien für eigene Worte und Formulierungen zur Verfügung, schreibt To Do Listen auf, die nicht unter Druck setzen, sondern befreien könnten und wirft immer wieder kurze Gebete dazwischen. Klar, auf 74 Seiten ist wenig Platz für theologische Grundsatzdiskussionen noch ausgewogene Überlegungen zum Kreuzestod. Aber das Kreuz, die Schuld, die verlorene Freiheit werden nicht ausgeklammert – sie bekommen andere Worte und Bilder, Fragezeichen und Sätze, die von der eigenen Hoffnung erzählen, an die Seite gestellt. Dadurch nimmt Niemeyer junge Menschen ernst, ohne sie heillos zu überfordern und vermittelt ihnen vor allem, dass Theologie nicht darin besteht, Antworten zu geben, sondern sich zu trauen, Fragen zu stellen. Wenn das dem eigenen Horizont von Gemeinde-und Religionspädagogik entspricht, dann kann ihr Buch entweder als Begleiter in der Konfirmationsarbeit oder einfach seitenweise als Arbeitsblattersatz bei Jugendkreisen, im Religionsunterricht oder bei Jugendgottesdiensten eingesetzt werden.

„Fass Dir ein Herz, lerne Träume zu deuten. Schau hinter die Dinge, führ die Hoffnung spazieren. Dann sehen wir weiter.“ – Wer das nicht kitschig findet, sondern klug, der könnte mit diesem Buch sehr froh werden!

III. Sonstiges

1) Max Czollek: Desintegriert Euch!, München 2018.

Philipp Greifenstein: Die schönste und lehrreichste meiner Sommerurlaubslektüren in diesem Jahr: Der Lyriker und Essayist Max Czollek schreibt über das spannungsgeladene Verhältnis der Deutschen zu den deutschen Juden. Und er greift in seinem bereits im letzten Jahr erschienenen Buch die Mär von der Integration an. „Desintegriert Euch!“ ist ein Erklärbuch für unsere Gesellschaft. Es lässt sich daraus für den Blick auf unterschiedliche Minderheiten lernen. Die Leser*in wird feststellen, dass unsere Gesellschaft aus vielen marginalisierten Gruppen besteht, für die – in weniger drastischer Weise – gilt, was Czollek für die Juden in Deutschland beschreibt.

Für Theolog*innen ist es deshalb besonders interessant, weil die jahrhundertelange Unterdrückung der europäischen Juden und der Anpassungsdruck der Mehrheitsgesellschaft heute ohne die christliche Tradition gar nicht erklärbar sind. Dazu tragen auch theologische Überzeugungen bei, die Jüdinnen und Juden systematisch gegenüber Christ*innen abwerten, ihre heiligen Schriften okkupieren und – in ihrer liberal-deutschen Form – nicht davor zurückschrecken, jüdische Erfahrung und Geschichte in die christliche einzugemeinden. Genau gegen solche Übergriffigkeiten wehrt sich Czollek.

2) Thomas Ebermann: Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung (Konkret Texte), Hamburg 2019.

Niklas Schleicher: Protestantismus hat auch immer was mit Kritik an überkommenen Götzen und Ideologien zu tun. „Heimat“ ist, gerade auch zu Weihnachten, eine solche Ideologie und wird in den letzten Jahren auch immer mehr von links verteidigt und besetzt. Dieses Buch zieht dagegen ins Feld und schafft es anhand von ausgewählten Beispielen „linke Heimatliebe“ zu dekonstruieren. Kein Buch für gute Laune, aber auch solche Bücher haben ja unter dem Weihnachtsbaum ihren Platz.

3) Cathrin Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik, Stuttgart 2018.

Niklas Schleicher: Zum Thema KI und autonome Systeme wird, gerade auch in kirchlichen Medien, viel geschrieben. Und vieles vom Geschriebenen ist, sagen wir mal, von eher diskussionswürdiger Qualität. Um einen halbwegs ordentlichen Stand zu bekommen, gerade was die ethischen Fragen im Zusammenhang mit diesen Themen angeht, empfiehlt sich das Buch der mittlerweile nach Göttingen berufenen Philosophin Cathrin Misselhorn. Das Buch ist, soweit das für das Thema überhaupt möglich ist, auf aktuellem Stand, führt kundig in die wichtigsten Themen ein und diskutiert die Fragen anhand von aktuellen Beispielen.

4) Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014.

Tobias Graßmann: Chantal Mouffes Buch sammelt Essays, die ihre agonistische Theorie des Politischen auf verschiedene Fragestellungen anwenden – mit dem Ziel, die Denkfehler des technokratischen Liberalismus ebenso zu korrigieren wie die Selbsttäuschungen linker Politik. Das Politische, so die Grundannahme, bearbeitet einen nicht-auflösbaren Antagonismus. Der Kampf um die Macht, die Vorläufigkeit jeder Machtkonstellation und die Spaltung der Gesellschaft müssen voll anerkannt werden, um ein angemessenes Verständnis des Politischen zu gewinnen. Ließen sich die letzten Gegensätze in der Gesellschaft nicht durch moralische Appelle, einen umfassenden Interessenausgleich oder eine objektive Vernunft aufheben, könne die Gegnerschaft doch in eine agonistische Form von Politik transformiert und so entschärft werden. Besonderes Augenmerk legt Mouffe dabei auf die Funktion von Kollektividentitäten und politischen Leidenschaften. In ihrem Essayband finden sich Überlegungen zur multipolaren Welt, zur Zukunft der EU, zum Verhältnis linker Politik zu politischen Institutionen sowie zur politischen Funktion der Kunst. Die Lektüre stimmt angesichts des gegenwärtigen Zustands linker Diskurse etwas wehmütig, aber bietet zahlreiche Anregungen für das Verständnis der politischen Entwicklungen auf nationaler wie internationaler Ebene.

5) Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik, 7. Auflage, Tübingen 2017.

Niklas Schleicher: Das Buch ist ein ziemlicher Klassiker, was die Einführung in die Ethik angeht. Es handelt sich hierbei um eine Überblicksdarstellung der philosophischen Ethik und ihrer Teilthemen. Da es sehr komprimiert ist, scheint es nicht die beste Lektüre für die Erstbegegnung mit Ethik zu sein. Aber: Gerade zur Wiederauffrischung Richtung Prüfungen oder Examen kann es sehr gute Dienste leisten, zumal es wirklich schön und einfach geschrieben und durch gutes Layout auch sehr nutzerfreundlich gegliedert ist.

6) Matthias Quent: Deutschland rechts außen, München 2019.

Philipp Greifenstein: Für mich ist Matthias Quents Durchgang durch den aktuellen Rechtsradikalismus das Sachbuch des Jahres. Es besticht durch Fachkenntnis und einen grundlegend anderen Zugang zum Thema: Quent schreibt zugleich als Wissenschaftler und als Betroffener rechtsradikaler Angriffe. Unter dem Schlagwort „Baseballschlägerjahre“ wurde im Herbst über Gewaltangriffe von Rechts diskutiert. Im Anschluss an den Anschlag in Halle wurde auch daran erinnert, dass der gewaltbereite Rechtsradikalismus in Deutschland eine traurige Tradition hat. Wer Geschichte und aktuelle Situation des Themas verstehen will, der greife zu diesem Buch.

IV. Belletristik

1) Alan Bradley: Flavia de Luce Mysteries, New York 2009ff.

Tobias Jammerthal: Krimis lesen gehört angeblich zu den üblichen Lastern der Theologenschar –  auch ich gehöre zu denen, die abends oder in den Ferien gerne mal zu einem solchen greifen. Freilich: auch hier gibt es Konfessionen zwischen den Anhängern des klassischen englischen Kriminalromans und den Freunden der skandinavischen Ermittler. Alan Bradleys Krimireihe, beginnend mit „The Sweetness at the Bottom of the Pie” (deutsch: Mord im Gurkenbeet), gehört sowohl vom Erzählstil wie vom Setting in erstere Kategorie. Die Hauptfigur ist ein elfjähriges Mädchen, dessen Neugierde in allererster Linie der Chemie gilt, die aber auf dem Familiensitz Buckshaw zur veritablen Ermittlerin avanciert. Vor dem Panorama der englischen 1950er Jahre stößt das neunmalkluge Kind auf Rätsel und Verbrechen, die es, manchmal mit mehr Glück als Verstand, löst, und sich nebenbei einen Kleinkrieg mit ihrer pubertierenden größeren Schwester liefert. Bradley schreibt seine Krimis aus der Perspektive des Mädchens, was den Leser immer wieder schmunzeln lässt – die perfekte Lektüre für die ruhige Zeit zwischen den Jahren!

2) Klaas Huizing: Zu Dritt. Karl Barth, Nelly Barth, Charlotte von Kirschbaum. Roman, Tübingen 2018.

Claudia Kühner-Graßmann: Anfang des Jahres habe ich dieses Buch ausführlich besprochen.[1] Jetzt, zu Endes des Karl-Barth-Jahres und für die gemütliche kalte Zeit zwischen den Jahren, möchte ich es nochmals aufgreifen und empfehlen. Klaas Huizing thematisiert in seinem Roman die Dreiecksbeziehung zwischen Karl Barth, Nelly Barth und Charlotte von Kirschbaum. In einer eigentümliche Mischung aus Historie, Romandarstellung, Fiktion und theologischer Werkerschließung geht Huizing diesem privaten, fast schon delikaten Teil der Biographie Karl Barths nach, ohne einem platten Voyeurismus zu verfallen. Genau das richtige Buch, wenn man sich nicht ganz von der Theologie lösen kann und dennoch mal etwas anderes lesen will. Aber man sollte sich dabei immer vor Augen halten, dass es sich um einen Roman und nicht um eine Biographie handelt!

3) Andrej Platonow: Die Baugrube. Neuübersetzung von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 2016.

Tobias Graßmann: Andrej Platonows avantgardistischer Roman Die Baugrube spielt im Nirgendwo der frühen Sowjetunion. Es ist die Geschichte eines sowjetischen Turmbaus zu Babel, erzählt im Sprachgewirr einer zu Parolen erstarrten oder verstümmelten Sprache. Die Protagonisten – Arbeiter, Bauern, Veteranen, Parteifunktionäre – träumen den Himmel auf Erden und ein ewiges Heim für die versöhnten Volksmassen. Aber sie schaufeln nur ein immer tieferes Loch in die Welt. Den „Neuen Menschen“ vor Augen, stürzen sie zurück in die Tierhaftigkeit, so dass ein vom Schmiedefeuer versengter Bär zwischen ihnen gar nicht weiter auffällt – und folgerichtig seinen Teil zur Liquidierung der reaktionären Bauernschaft beitragen darf. Platonow enthält sich der Moralisierung wie der psychologischen Deutung und überlässt den von korrumpierter Sprache entstellten Gedanken der handelnden Personen das Wort. Der Roman streift das Groteske, ohne das Unbehagen am allzu Wirklichen ins Phantastische aufzulösen. So entzieht sich dieses Buch einer einfachen Vereinnahmung und regt zum Denken über Gemeinschaft und Einsamkeit, Vergänglichkeit und Ewigkeit, menschliche Hybris und die Unbarmherzigkeit der Natur an. Die Leistung der Übersetzerin angesichts dieses virtuosen Umgangs mit Sprache kann der Laie nur erahnen!

4) Marieke Lucas Rijneveld: Was man sät, Berlin 2019.

Julian Scharpf: Ein zehnjähriges Mädchen wächst in einer strenggläubigen calvinistischen Familie auf einem Bauernhof in Holland auf. Als es vor Weihnachten befürchtet, dass sein Kaninchen geschlachtet wird, bittet es Gott darum, dass er lieber den Bruder Matthies zu sich nehmen soll. So kommt es dann auch, Matthies ertrinkt beim Schlittschuhlaufen. Die Tochter ist aber nicht die Einzige in ihrer Familie, die die Schuld für diese als Strafe Gottes empfundene Katastrophe in ihren vermeintlichen Verfehlungen sucht.

Von der ersten Seite an zieht dieses Buch in den Bann und stößt ab; es löst Mitgefühl und Ekel aus. Hier werden Abgründe ausgelotet, Vieles ist verstörend und nur schwer zu ertragen. Die Atmosphäre der beklemmenden Dunkelheit erinnert an Filme wie „Das weiße Band“ von Michael Haneke oder auch Lars von Triers „Breaking the Waves“, die beide ebenso in protestantisch geprägten Dorf- und Familienstrukturen spielen. Man spürt dem Buch ab, dass Marieke Lucas Rijneveld die Verhältnisse sehr genau kennt, die sie beschreibt. Manche Bibelworte lassen sich nicht mehr schmerzfrei zitieren, wenn man ihre autoritäre Instrumentalisierung in diesem Roman erlebt hat. Ein Schlag in die religiöse Magengrube. Dieses Buch eignet sich nicht als Weihnachtsgeschenk für die Schwiegereltern, man sollte es selbst lesen.


[1]https://netzwerktheologie.wordpress.com/2019/01/30/klaas-huizings-zu-dritt-ein-leseeindruck/

Die NThK-Weihnachtsbücherei

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Eigentlich stehen wir Theologinnen und Theologen ja völlig ironisch über dem kommerziellen Teil des Weihnachtsfestes. Klar, Geschenke für die Kinder und die Familie, aber alles nicht so kommerziell und bitte mit gutem Gewissen! Anders sieht es mit Büchern aus. Die kann man ja immer brauchen, oder? Weihnachten bietet eine gute Gelegenheit, sich selbst (oder auch einer anderen Person) ein gutes Buch zu schenken. Mit etwas Schützenhilfe von uns, dem Team des NThK, findet sich sicherlich schnell das richtige.

Die Vorschläge sind in drei Kategorien unterteil: Zunächst widmen wir uns den im engeren Sinne theologischen Werken, sodann den für die kirchliche Praxis nützlichen Büchern und schließlich der Kategorie „Sonstiges“, in der philosophische oder gesellschaftsrelevante Bücher zusammengefasst werden. Die Auswahl ist subjektiv und spiegelt Interessen des NThK-Teams wider.[1]

1. Theologische Bücher

1) Robert Kolb: Martin Luther and the Enduring Word of God. The Wittenberg School and Its Scripture-Centered Proclamation, Grand Rapids 2016: 27,90€

Tobias Jammerthal: Robert Kolb gehört zu den profiliertesten Reformationshistorikern und Lutherforschern des englischen Sprachgebiets. Kurz vor dem Beginn des Reformationsjubeljahrs 2017 erschien diese Sammlung mit einigen der wichtigsten Aufsätze aus seiner Feder rund um die Schriftauslegung als Zentrum von Luthers Theologie und der Wittenberger Reformation. Ich finde, dieser Aufsatzband gehört in die Hand all derer, die sich für einen gleichermaßen kenntnisreichen wie unaufgeregt-sachlichen Zugang zur Reformation als einem theologischen Gruppenereignis interessieren!

2) Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005: 49,90€

Tobias Graßmann: Lauster stellt in diesem programmatischen Buch –  für Sympathisanten und Kritiker gleichermaßen beeindruckend – die Leistungskraft hermeneutischer Theologie in der Tradition des sog. Kulturprotestantismus unter Beweis. Dabei macht gerade auch die luzide Auseinandersetzung mit individualistischen Verengungen der liberalen Theologie das Buch lesenswert. Im Anschluss an den cultural turn und insbesondere Jan Assmanns Konzeption des kulturellen Gedächtnisses verflüssigt Lauster nicht nur konfessionelle Gegensätze, sondern lotet als einer der wenigen gegenwärtigen Theologen auch Wege zur Bewältigung des nicht nur kirchlichen, sondern gesamtkulturellen Traditionsabbruchs aus. Dabei sticht besonders die zentrale Stellung ins Auge, die Lauster den nicht im klassischen Sinne lehrhaften Vermittlungsformen religiöser Erfahrung zumisst: Musik, Kunst und Architektur.

3) Michael Roth und Markus Held (Hgg.): Was ist theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin und New York  2018: 29,95 €

Niklas Schleicher: Das Buch gibt den aktuellen Lehrstuhlinhabern und Lehrstuhlinhaberinnen für evangelisch-theologische Ethik das Wort. Diese beschreiben in ca. 15 bis 20-seitigen Beiträgen ihre jeweilige Vorstellung vom Fach. So ergibt sich ein sehr differenziertes Bild der Zugriffe auf protestantische Ethik. Ergänzt wird das Ganze von Beiträgen von Vertretern und Vertreterinnen anderer theologischer Fächer, der Philosophie und der katholischen theologischen Ethik, die jeweils ihren Beitrag zur evangelischen Ethik darstellen. Ein Buch, dass sich gerade im Studium eignet, aber auch, um sich über den aktuellen Stand der Debatte zu informieren. [Eine ausführlichere Rezension folgt im kommenden Jahr.]

4) Kristian Fechtner/Jan Hermelink/Martina Kuhmlehn/Ulrike Wagner-Rau: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (Theologische Wissenschaft, Bd. 15), Stuttgart 2017: 30€

Claudia Kühner-Graßmann: Dieses Lehrbuch will einen Überblick geben über die Praktische Theologie, ihre Aufgaben und Probleme vor dem Hintergrund empirischer Befunde und (theologie)geschichtlicher Einsichten. Das alles geschieht anhand konzentrierter Darstellungen von Querschnittsthemen auf der einen und kirchlichen Handlungsfeldern auf der anderen Seite. In dieser Kürze bietet es Gelegenheit, den Blick auf die Problemlagen kirchlicher Praxis und ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung zu schärfen. Durch die feste, aber nicht steife Gliederung kann es auch gut zu dein einzelnen Themengebieten herangezogen werden. Eine gute Grundlage zur Auffrischung, zum Bündeln oder zum Weiterdenken. [Eine ausführlichere Rezension folgt im kommenden Jahr.]

2. Bücher für die kirchliche Praxis

1) Otto Dietz: Unser Gottesdienst – ein Hilfsbuch zum Hauptgottesdienst nach Agende 1 für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, München  21983 [antiquarisch günstig zu erwerben]

Tobias Jammerthal: Ein „Klassiker“, den jeder, der (zumindest lutherische) Gottesdienste zu leiten hat, meiner Meinung nach einmal gelesen haben sollte. Dieses Lesebüchlein ist kein fachwissenschaftlicher Agendenkommentar, sondern will einfach nur erzählen, warum was im „normalen“ Sonntagsgottesdienst an welcher Stelle und wie passiert. Sprachlich ist es schlicht und geht runter wie Butter – ungeheuer bildend ist es dennoch.

2) Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart (Neu bearbeitet von Christian Albrecht), München 92014: 14,95 €

Niklas Schleicher: Ein extrem nützlicher und gut lesbarer Klassiker das Buch „Das Kirchenjahr“ von Karl Heinrich Bieritz, das in einer neuen Auflage herausgegeben von Christian Albrecht vorliegt. In komprimierter Form wird darin das Kirchenjahr, seine Zeiten und Feste beschrieben und auf besondere Bräuche verwiesen. Gerade auch für den Einstieg z.B. ins Vikariat, aber auch im Studium ist das Buch sehr zu empfehlen.

3) Fulbert Steffensky (Hg.): Ein seltsamer Freudenmonat. 24 Adventsgedichte, 24 Adventsgeschichten, Stuttgart 2011: 16€

Julian Scharpf: Fulbert Steffensky, der Säulenheilige des Kirchentags-Protestantismus, hat vor sieben Jahre dieses hübsch gestaltete Adventsbuch auf den Markt gebracht. Dessen Verdienst ist, dass sich mit seinen 24 Gedichten und 24 Geschichten von Fontane bis Kreisler die vielen Advents- und Weihnachtsfeiern bestreiten lassen, die in dieser Kirchenjahreszeit vor einem liegen. Für die Auswahl gilt Steffenskys Satz: „Das Sentiment muss nicht sentimental sein, und wenn es dies gelegentlich ist, dann ist das nicht weiter schlimm.“

4) Niklaus Peter: Schachfigur – oder Schachspieler: Denkmodelle und Spielzüge auf den Feldern des Lebens und der Religion, Stuttgart 2018: 15€

Martin Böger: Niklaus Peter ist Pfarrer am Fraumünster in Zürich und nebenher ein ziemlich umtriebiger Theologe, der stets versucht, beides zusammenzubringen ohne das Eine gegen das Andere auszuspielen: Die theologische Wissenschaft und die pfarramtliche Praxis. Im vorliegenden Bändchen schafft er diese Verschmelzung auf sehr eindrückliche Art und Weise. Denn dieses Büchlein fasst Kolumnentexte zusammen, die Niklaus Peter für das wöchentliche Magazin einer großen schweizerischen Tageszeitung verfasst hat. Kolumnen, die auf eine katechetische Art die Grund- und Eckpfeiler des christlichen Glaubens auf gleichzeitig kluge wie inspirierende Art und Weise für eine (post)moderne Gesellschaft bedenken. Ein Büchlein, das zum Nachdenken anregen und vielleicht sogar die eine oder andre eigene Andacht inspirieren kann.

3. Sonstiges

1) Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Neue Historische Bibliothek, Frankfurt a.M. 92015: 16€

Tobias Graßmann: An neuen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges herrscht kein Mangel. Angesichts dieser unterschiedlich akzentuierten, mehr oder weniger ausführlichen Darstellungen lohnt sich dennoch der Blick in einen Klassiker. Denn wer über die grundlegenden Vorkommnisse informiert ist, findet in diesem Buch eine klare, knappe und unbestechliche Interpretation dieser traumatischen Epoche. Burkhardt erweist einige der klassischen Frontstellungen (z.B.: Religionskrieg oder nicht?) als Scheinalternativen und präsentiert den Dreißigjährigen Krieg als Ergebnis sich überlappender Staatenbildungskonflikte. Religion, Wirtschaft, technische Entwicklungen, Mediendynamik, dynastische Herrschaftsform und historisch hergeleitete Universalmachtansprüche werden auf ihre kriegstreibenden, aber auch friedensförderlichen Potentiale befragt und so manches Vorurteil gerade gerückt. Das Buch verschließt sich jeder raschen Verzweckung zur politischen oder gesellschaftlichen Sinnstiftung – und regt gerade darin zum Denken über den Frieden an!

2) Paul Feyerabend: Zeitverschwendung, Frankfurt a.M. 61997: 14,00 €

Niklas Schleicher: Ich habe eine große Schwäche für Autobiographien und eine genauso große für Paul Feyerabend. Seine Autobiographie mit dem Titel Zeitverschwendung ist, auch wenn man ihn, freilich zu Unrecht, für einen Scharlatan hält, großartig, zumal sie alles erhält: Krieg, Liebe, Operngesang, Wissenschaftstheorie und Harnack. Ja, genau, Feyerabend rezeptiert Adolf von Harnack, eine detaillierte Forschung dazu steht aber noch aus. Das Buch stellt einen guten Einstieg in das Denken Feyerabends dar, danach kann man sich dann dem nicht minder spannenden Hauptwerk „Wider dem Methodenzwang“ widmen. Oder sich von @luthvind erklären lassen, dass der @megadakka mit seiner Feyerabend-Besessenheit ein bisschen verrückt ist.

3) Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt a.M.  142017: 10€

Claudia Kühner-Graßmann: Wer immer schon einmal etwas von Foucault lesen wollte, aber weder wusste, was genau, noch viel Zeit hat, ist mit diesem schmalen Heftchen gut bedient. Und zwar nicht nur, weil man Einblicke in Foucaults Denken erhält, wozu der angehängte Essay von Konsersmann („Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults Lʼordre du discours“) zusätzlich beiträgt. Die Lektüre schult wunderbar den Blick für die Produktion des Diskurses und vor allem deren Ausschließungsprozesse. Nach Lektüre der knapp 50 Seiten meint man den intellektuellen Gestus der Foucault-Anhänger zu durchschauen – oder eignet ihn sich gleich selbst an. Jedenfalls ein gutes Buch für einen kalten Winterabend auf dem Sofa mit Tee oder Wein.

4) Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart  82018: 6€

Julian Scharpf: Der Arabist und Leibniz-Preisträger Thomas Bauer hat  es 2011 mit  „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ vermocht, das aus der Psychologie bekannte Konzept der Ambiguitätstoleranz nicht nur individuell aufzufassen, sondern auch als erstrebenswerte Errungenschaft einer Religionsgemeinschaft zu charakterisieren. Mit seinem aktuellen Essay weitet er seinen Blick im Grunde auf die ganze Welt und warnt davor, dass wir alle immer weniger bereit sind, Bedeutungsvielfalt anzuerkennen und uns fatalerweise nach Vereindeutigungen sehnen. Dieses Reclambüchle liest sich wie im Rausch.

Martin Böger: Wohl kaum ein Buch habe ich in letzter Zeit mit größerem Interesse und Gewinn gelesen. Der Leibniz-Preisträger und Professor für Islamische Theologie Thomas Bauer unternimmt einen überaus spannenden Parforceritt durch unsere Welt, ihre Wirklichkeit und wie wir über sie denken. Seine These lautet: Wir erliegen derzeit dem Verlangen, unsere Welt zu vereindeutigen und damit den Blick für die Vielfalt, für das Unerwartete, für das Einmalige zu verlieren. Die Religion spielt dabei für Bauer eine herausragende Rolle, da an ihr beides gelernt werden kann: Der Hang zur Vereinheitlichung zwischen schwarz und weiß, richtig und falsch und das große Potential der Ambiguität von Lebens- und Sinndeutungen. Thomas Bauer hält ein großes Plädoyer auf die Ambiguität, die er nicht als Drohung, sondern als große Chance erkennt. Ein Blick auf die Wirklichkeit, der spannend und der manchmal anstrengend ist, aber die Wirklichkeit so sein lässt wie sie ist: bunt, uneindeutig, dramatisch und manchmal auch herausfordernd.

 

[1]          Die angezeigten Preise dienen der Orientierung. Die tatsächlichen Preise können durchaus von den hier angegebenen abweichen.