Rezension zu: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch

Fechter, Kristian/Hermelink, Jan/Kumlehn, Martina/Wagner-Rau, Ulrike: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (Theologische Wissenschaft, Bd. 15), Stuttgart 2017.

Rezensiert von Claudia Kühner Graßmann

Lehrbücher zur Praktischen Theologie gibt es viele auf dem Markt, sei es als Entwurf (Grethlein oder Rössler1), Arbeits- und Studienbuch (Meyer-Blanck/Weyel2) oder als Behandlung einer Subdisziplin (Klessmann3). Dennoch schafft es das hier zu besprechende Lehrbuch, eine Lücke zu füllen, indem es die Varianz praktisch-theologischen Arbeitens schon durch die Mehrautorenschaft4 darstellt, indem es explizit auf akademische Prüfungen zuspitzt, aber auch die praktische theologische Ausbildungsphase im Blick behält (vgl. S. 16) und nicht zuletzt durch seinen problemorientierten Zugriff. Allgemein gesagt, geht es den Autor*innen um einen Überblick über die Praktische Theologie, ihren Aufgaben und Problemen vor dem Hintergrund empirischer Befunde und (theologie)geschichtlicher Einsichten.

Praktische Theologie wird als „Theorie pluraler christlich-religiöser Praxis in der Gegenwart“ definiert, die auf „Zeitgenossenschaft“ (S. 16) aus sei. Damit wird der Gegenwartsbezug deutlich, der die Gliederung sowie den Zugriff auf die Subdisziplinen Praktischer Theologie durchzieht. Deren Behandlung geht zunächst ein Abschnitt zu Querschnittsthemen (I.) voraus. Ulrike Wagner-Rau erläutert dabei den Begriff der Praktischen Theologie als Theorie christlicher Religionspraxis. Sodann wird das Verhältnis von Christentum und moderner Gesellschaft, von Religion und Gegenwartskultur dargestellt (Kristian Fechtner). Das Kapitel endet mit Martina Kumlehns Ausführungen zu Religion und Individuum. Es kommt hier also allgemein das Setting in den Blick, in und mit dem es die Praktische Theologie zu tun hat. Dem informierten Theologen mag hier einiges schon selbstverständlicher sein als die Darstellungen mit ihrem gewissen Moderne-Pathos verraten. Die Skizzierung der Grundlagen Praktischer Theologie sind dennoch wichtig und hilfreich für das Verständnis der weiteren Abschnitte. Zudem geben die angeführten Literaturverweise Theorien und Namen an die Hand, mit deren Hilfe sich gegenwärtige Diskussionen erschließen.

Herzstück und Hauptteil des Buches bilden die sog. Handlungsfelder (II.), in denen die Autorinnen und Autoren jeweils einen Überblick über Probleme und Debatten geben. Der Anspruch des Lehrbuchs ist, diese Kapitel als selbstständig zu betrachten. Kohärent und vergleichbar werden sie durch ihren Aufbau: Ausgangspunkt der Abschnitte bildet die Betrachtung von exemplarischen Herausforderungen. Der Blick geht dabei auf Probleme der Gegenwart, denen ebenfalls an manchen Stellen ein eigentümliches Modernepathos entgegentritt. Es folgt eine Orientierung im jeweiligen Handlungsfeld, in dem es wiederum erst einmal nicht um praktisch-theologische Theoriebildung, sondern um Erläuterungen von Bedingungen, Typisierungen und Vorkommnissen geht. Im dritten Abschnitt werden empirische Befunde erläutert, bevor viertens nach historisch-systematischen Anschlussstellen gefragt wird. Es folgen fünftens praktisch-theologische Grundbestimmungen, sechstens eine Darstellung aktueller Diskurse und schließlich siebtens ein Ausblick auf Zukunftsfragen. Die Abschnitte fallen je nach Handlungsfeld und Autor*in ausführlicher oder kürzer aus. Hier liegt eben ein Reiz dieses Lehrbuchs: die Gewichtung der einzelnen Abschnitte bzw. Herangehensweisen findet in jedem Kapitel anders statt. Durch die gleiche Gliederung wird allerdings ein Blickwinkel vorgegeben, der einen organisierenden Blick auf die jeweiligen Disziplinen Praktischer Theologie (mit Ausnahme des Themas „Frömmigkeit/Spiritualität [II.10] handelt es sich dabei um die gängige Unterteilung der Praktischen Theologie) ermöglicht. Dieser läuft, wie in der Darstellung der Gliederung angedeutet wurde, über die Einbettung in den praktischen Vollzug – wie der Begriff „Handlungsfelder“ ebenfalls zeigt. Dahinter steht die Intention, praktisch-theologische Debatten problemorientiert zu erläutern (vgl. S. 15). Das mag einer eher historisch und akademisch ausgerichteten Praktischen Theologin zunächst fremd sein, aber die Herangehensweise bringt gerade in ihrer anwendungsorientierten Perspektive durchaus interessante Impulse mit sich. Sie lenkt dadurch auf Probleme und bringt exemplarisch und durchaus jeweils perspektivisch und konzeptionell (vgl. S. 15f.) Anregungen für die theologische Auseinandersetzung. Nimmt man die eigene Grenzwahrnehmung der Autor*innen ernst, das eigene Studium nicht ersetzen zu wollen, wofür rein äußerlich schon die Literaturangaben am Ende jedes Kapitels und die Kürze der jeweiligen Beiträge spricht, ist dieses Buch eine wunderbare Einführung und Bündelung zugleich, die zu weiterer Auseinandersetzung, Problemstellungen und Theoriearbeit anregt. Zudem nimmt man gleichzeitig durch die Varianz der Autor*innen exemplarisch die Breite praktisch-theologischer Arbeit und Herangehensweisen wahr. Durch die Kürze, das sei extra betont, stellt die Lektüre auch keine allzugroße Zumutung für Theolog*innen im Pfarrdienst dar, die mit diesem Buch ihre Wahrnehmung auf die Handlungsfelder hinterfragen können. Dabei zeigt die aus dem zugrundeliegenden Begriff der Praktischen Theologie als „Theorie pluraler christlich-religiöser Praxis in der Gegenwart“ (S. 15) Chance und Gefahr zugleich auf. Aber der exemplarische Blick auf die Problemlage kirchlicher Praxis kann mit diesem Buch geschult und geschärft werden – in Zustimmung, Abgrenzung und Weiterarbeit.

1Vgl. Grethlein, Christian: Praktische Theologie, Berlin/Boston 2012 und Rössler, Dietrich: Grundriß der Praktischen Theologie, 2., erw. Aufl., Berlin/New York 1994.
2Vgl. Meyer-Blanck, Michael/Weyel, Birgit: Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie, Göttingen 2008.
3Vgl. Klessmann, Michael: Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 42012.
4Hierbei sei zudem noch Tobias Braune-Krickau genannt, der den Abschnitt zur Diakonik (II.8) beisteuert.

nachgehakt! — Praktische Theologie und Ethik

Neue Rubrik: nachgehakt! – Hinführung

Was macht eigentlich…? Im Raum der Kirche wie im Bereich der Theologie eine Frage, die sich immer wieder stellt – sowohl innerhalb als auch durch diese beiden Sphären hindurch. Bei der Ausdifferenzierung der verschiedenen Sphären ist es schwer, den Überblick zu behalten. Aber auch mangelnde Austauschforen tragen dazu bei, dass viel „nebeneinanderher“ gearbeitet wird.

Unsere neue Rubrik nachgehakt! möchte sich diesem Problem stellen und zu einer Vernetzung, zu vermehrter Transparenz und zum Austausch kirchlicher und theologischer Arbeitsfelder beitragen.

Ziel ist es, verschiedene, auf den ersten Blick vielleicht nicht immer gleich zusammenpassende Personen aus verschiedenen Bereichen in ein Gespräch zu bringen, das aus einer Frage und einer Reaktion darauf (und gerne natürlich auch aus mehr) besteht. Um zu zeigen, wie nachgehakt! funktionieren könnte, beginnen wir selbst mit der Frage einer Praktischen Theologin an einen Ethiker.

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre und hoffen, dass die Rubrik nicht nur auf Interesse stößt, sondern auch Vernetzungen anregt. Gerne nehmen wir auch Vorschläge für Paarungen entgegen!

Claudia Kühner-Graßmann und Niklas Schleicher

Die Praktische Theologin fragt den Ethiker

Lieber Niklas,

unsere Disziplinen leben ja – nicht nur wegen diverser persönlicher Verbindungen – in guter Nachbarschaft.1 Zwar sind die Differenzen nicht zu übersehen, etwa bezüglich der Themen oder Adressaten. Dennoch bezieht auch Ihr Ethiker Euch in gewisser Weise auf die „Praxis“. Die Praxis, auf die wir Praktische Theologen uns beziehen, kann in gewisser Weise eingegrenzt werden als kirchliche Praxis, die etwa durch CA VII theologisch näher qualifiziert wird. Sehr grob gesagt, geht es um die Reflexion kirchlicher Vollzüge – vornehmlich für Pfarrerinnen und Pfarrer bzw. Theologinnen und Theologen im weiteren Sinne –, wobei der Charakter der Reflexion, die die Praktische Theologie ist, durchaus strittig und unterschiedlich bestimmt ist.

Wie siehst Du Euren Bezugspunkt qualifiziert? Inwieweit seid Ihr Ethiker also auch „Praktische Theologen“? Kommen wir uns gar in gewisser Weise in die „Quere“? Was bedeutet das für eine Zusammenarbeit von Praktischer Theologie und Ethik? Was erwartest Du als Ethiker dabei von der Praktischen Theologie? Was kann die Praktische Theologin von Euch Ethikern lernen? Und wo siehst Du die Grenzen unserer Nachbarschaft und die größere Nähe zur Schwester Dogmatik?

Liebe Claudia,

eigentlich könnten wir die Frage lösen, indem wir, in guter Münchner Tradition, auf die Genese des Faches Ethik schauen. Wenn man es ganz grob fasst, dann wird man festhalten müssen, dass beide Fächer ziemlich zeitgleich als eigenständige entstanden sind (vgl. dazu das historische Kapitel in Grethleins Praktischer Theologie) und zunächst eng verbunden waren. Nun wissen ja aber mittlerweile auch die Münchner, dass allein ein Verweis auf die Historie nicht hilft, um Dinge zu erklären oder zu bestimmen. Ich versuche dann einfach mal mit deinen Fragen und Hinweisen zu arbeiten.

Unseren gemeinsamen Bezugspunkt verortest du in der Praxis und differenzierst dann, dass der Bezugspunkt der praktischen Theologie vielleicht durch den Bezug auf die kirchliche Praxis besser beschrieben wird. Mir leuchtet diese Bestimmung des Bezugspunktes sehr ein, es fällt mir aber schwer, eine ähnlich präzise Bestimmung für die Ethik zu finden. Ich schlage deshalb vor, dass wir, auch um einen Vergleichspunkt zu bekommen, eine komplementäre Bezugspunkt-Bestimmung vornehmen: Man könnte es mit dem Leben des Menschen versuchen. Unsere beiden Fächer beziehen sich, vor allem auch in ihrer deskriptiv-hermeneutischen Aufgabe (vgl. dazu Körtners Aufgabenbestimmung der Ethik in seiner „Evangelischen Sozialethik“) auf das gelebte Leben von Menschen. Die praktische Theologie beschreibt dieses Leben vielleicht unter der Perspektive des Bezugs auf kirchliche Bezüge, die Ethik unter verschiedenen Kategorien der Orientierung im Vollzug. Offensichtlich ist, dass beide Fächer „mehr zu tun haben“, wenn das Leben des Einzelnen unter einer besonderen Frage steht: Ethik wird eher in Grenzfällen „aktiv“, aber auch kirchliche Praxis, selbst der Sonntagsgottesdienst durchbricht in gewisser Form den Alltag.

Unter dieser Perspektive können wir vielleicht bestimmen, wie sich Ethik und Praktische Theologie zueinander verhalten: Sie setzen dort ein, wo das Leben des Menschen unter besonderen Vorzeichen thematisiert wird.

Für die Praxis beider Fächer ergeben sich dementsprechend wichtige und vielleicht noch zu wenig erforschte und gelehrte Bezugspunkte. Ich denke hier zunächst an Bereiche der Seelsorge in Grenzfällen gerade medizinischer Natur. Man könnte zum Beispiel den ganzen Komplex der „Reproduktionsmedizin“ und damit einhergehenden Verfahren wie z.B. IVF-Maßnahmen betrachten. Die ethische Theoriebildung ist in diesen Feldern, sowohl was die hermeneutische als auch die normative Perspektive angeht, mittlerweile sehr ausdifferenziert und bietet unterschiedliche Umgänge. Die praktische Theologie hat mit diesem Bereich wahrscheinlich zunächst im Bereich der Seelsorge zu tun. Wichtig und gewinnbringend wäre es nun, wenn die Ethik von der Praktischen Theologie insofern hinterfragen lässt, als dass diese aufzeigt, welche Fragen denn eigentlich in konkreten Situationen des Lebens von Betroffenen auftritt. Gleichzeitig kann die praktische Theologie von der Ethik so profitieren, als dass diese aufzeigt, wo eventuell ethische Probleme auftreten können und wie diese modelliert sind, so dass die praktische Theologie Wege findet, unter diesen Vorzeichen, Möglichkeiten der Kommunikation zu erarbeiten.

Es ist durch das gesagte offensichtlich, dass die praktische Theologie und die Ethik wenigstens zwei Wissenschaften außerhalb der Theologie haben, auf die Sie sich in höherem Maße als die anderen Kernfächer der Theologie beziehen: Die Soziologie und die Psychologie2. Dies ist insofern auch so simpel wie evident, da diese beiden Fächer versuchen, die Struktur und die Verfassung menschlichen Lebens zu beschreiben und zu deuten (womit sie sich von der Biologie und verwandten Fächern abheben).

Die größere Nähe der Ethik zur Dogmatik besteht wahrscheinlich eher in geistesgeschichtlicher Natur, indem man sich verdeutlicht, dass Ethik und Dogmatik auf philosophischen Wurzeln ruhen und andererseits die Trennung von Lehre und Leben etwas ist, dass erst in der Neuzeit aufkommt. Prinzipiell jedoch ist die Nähe zu praktischen Theologie für die Ethik für die zukünftige Bedeutung des Faches vielleicht von größerer Bedeutung: Etwas größeres als Leben des einzelnen Menschen gibt es – jedenfalls in hermeneutischer Perspektive – nicht zu beschreiben und zu deuten.

1Vgl. die Darstellung bei Albrecht, Christian: Enzyklopädische Probleme der Praktischen Theologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 10), Tübingen 2011, S. 89-104.

2Freilich hat v.a. die praktische Theologie noch viele andere Bezugswissenschaften, die hier nicht aufgezählt werden können. Mir geht es vor allem, hervorzuheben, dass Soziologie und Psychologie innerhalb der theologischen Landschaft fast ausschließlich von der Ethik und der Praktischen Theologie rezipiert werden. Eine gewisse Zeit hat die Dogmatik sich noch um religionspsychologische Fragen gekümmert; dies spielt in der gegenwärtigen Landschaft m.M.n. aber keine Rolle mehr.

Theologische Enzyklopädien vorgestellt – 5: Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums

Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hrsg. von Dirk Schmid, Berlin/New York: de Gruyter 2002.

Von Benedikt Friedrich

Einführung und Verortung

Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums bietet eine kleine Einführung in die theologische Welt des Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts. Diese theologische Enzyklopädie sollte seinen Studierenden als Begleitheft für seine Einführungsvorlesungen an der Berliner Fakultät dienen. In Druck gegeben war die Kurze Darstellung bereits in ihrer ersten Auflage ein Erfolg und verbreitete sich schnell um auch an anderen Fakultäten die Grundlage für Einführungsseminare zu bieten.

Für damalige Leser bestach das Werk vor allem durch seine thesenhafte Prägnanz, die Stringenz mit der er in seinen Ausführungen dem Prinzip der Einleitung folgte und der gekonnte Versuch, eine theoretische Basis für eine lebensnahe und für kreative Neuentwicklungen offene Praxis bieten zu wollen. So verschwimmen an manchen Stellen die Grenzen zwischen Enzyklopädie, philosophischer Grundlegung und Methodenlehre, die sich an ihrer praktischen Durchführbarkeit messen lassen möchte.

Die erste Auflage der Kurzen Darstellung wurde 1811 veröffentlicht und erst nach der ersten Konzeption seiner Glaubenslehre, gab Schleiermacher im Jahr 1830 eine völlig überarbeitete Neuauflage, welche heute meist rezipiert wird.1 Diese zweite Auflage, welche repräsentativ für Schleiermachers reife theologische Enzyklopädie steht, soll Grundlage dieser Darstellung und Besprechung sein.

Einleitung und Aufbau

In insgesamt 338 Paragraphen führt Schleiermacher die Leser einmal durch seine Vorstellung der Theologie, die stets im Spannungsfeld von Theorie und Praxis steht und diese Spannung nie zugunsten einer einseitigen Betrachtung aufgibt: Keine fruchtvolle Kirchenleitung ohne Theorie – kein gewinnbringendes Denken ohne seinen Bezug zur Praxis (vgl. § 30)!

Schleiermacher stellt damit ein theologisches Bildungsprogramm dar, welches die Verknüpfung von Theorie und Praxis als Grundmotiv hat und bietet damit, was auch heute von manchen Studierenden so leidlich vermisst und z.T. zurecht eingeklagt wird: Eine Möglichkeit das theologische Studium in seiner Verbindung zur Arbeit im Pfarramt oder Schuldienst zu verstehen.

Bereits die ersten Paragraphen seiner Kurzen Darstellung sind heute klassische Formulierungen der theologischen Enzyklopädie geworden und man kann ihren formenden Einfluss sogar in aktuellen Prüfungsordnungen der evangelischen Theologie wiedererkennen:

„Die Theologie […] ist eine positive Wissenschaft, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise […]; die der christlichen [Theologie; B.F.] also durch die Beziehung auf das Christentum“ (§. 1). Mit der Bezeichnung „positive Wissenschaft“ (im Gegensatz z.B. zu einer absoluten Wissenschaft) ist der Bezug der Theologie auf ein konkretes, praktisches Problemfeld gemeint: Die Theologie arbeitet nicht in Form einer Selbstevaluation an eigenständig erarbeiteten Fragen, sondern sie bezieht sich auf ein ihr vorgegebenes Aufgabengebiet. Dieses Fragencluster ergibt sich, so Schleiermacher, aus den Anforderungen an diejenigen, die an der Kirchenleitung beteiligt sind (§§. 3ff.). Die grundlegende Aufgabe des theologischen Studiums ist also das Geflecht von „Kenntnissen und Kunstregeln“ die aus der Frage nach der richtigen Art eine Kirche zu leiten entstehen. Damit stellt die Theologie ein klassisches Professionsstudium dar, wie es Studierende der Medizin, Musik oder Jura kennen.

Schleiermacher hat also einen Fächerkanon vor Augen, der nicht aufgrund des behandelten Gegenstandes (z.B. Gott, der Mensch, die Religion, etc.) „theologisch“ zu nennen ist, sondern rein aufgrund der bestimmten Fragestellung nach der Befähigung zur Kirchenleitung aus der besonderen Perspektive der christlichen Religion dieses Prädikat erhält. Sollten diese beiden Voraussetzungen nicht gegeben sein, so gilt für Schleiermacher die Umkehrung: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf theologisch zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.“ (§. 6)ii2

Für die Theologie bedeutet dies, dass sie idealerweise von zwei Grundanliegen bestimmt ist, welche im optimalen Fall im Gleichgewicht stehen: der wissenschaftliche Geist einerseits und das religiöse (bzw. kirchliche) Interesse, wobei Theologietreibende auf keine der beiden Seiten kippen dürfen.

In der Konzeption der Einleitung ist ein Geflecht von Grundspannungen der modernen Theologie formal und inhaltlich dominant: Praxis und Theorie, Frömmigkeit und Rationalität sollen sich auf eine differenzierte Weise die Hand geben und zu einer kritischen Urteilsbildung im Feld kirchlicher Verantwortung führen.

Schleiermacher tröstet bei allem Idealismus mit der wohlwollenden Bemerkung, dass bereits die Differenziertheit der Theologie im 19. Jahrhundert eine vollständige Kenntnis der gesamten Theologie von niemandem erwartet werden könne. Stattdessen sieht er es als Notwendigkeit an, ein gewisses Grundwissen in allen Disziplinen zu erreichen (§. 16), wobei individuelles Talent eine Vertiefung in einzelnen Gebieten ermöglicht (17).

Die drei Hauptfächer

Bereits in der Einleitung weist Schleiermacher auf eine grundlegende Dreiteilung des Fächerkanons hin: Philosophische Theologie, Historische Theologie und Praktische Theologie bilden gemeinsam eine Trilogie, in der das ganze theologische Studium beschlossen ist. Im weiteren Verlauf seiner detailliert konstruierten Enzyklopädie3 führt Schleiermacher seine Leser durch die Begründung, innere Aufteilung und Entfaltung dieser drei Fächer und stellt immer wieder die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen theologischen Abteilungen heraus.

Noch in der ersten Auflage seiner kurzen Darstellung gebraucht Schleiermacher die Analogie des Baumes der Theologie, dessen Wurzel die philosophische, Korpus (Stamm) die historisch und Krone die praktische Theologie ist (kD1 §§. 26ff). In der zweiten Auflage behält schließlich nur noch die historische Theologie ihre Bezeichnung.

Die philosophische Theologie

Es ist bemerkenswert, dass Schleiermacher seine theologische Enzyklopädie mit einem Fach beginnt, welches bis dato keinen eigenständigen Ort in der universitären Theologie hat. Nichts destotrotz stellt die philosophische Theologie für Schleiermacher die alles Weitere bestimmende Grundlage da. Sie behandelt auf kritische (griech. krinein = unterscheiden) Weise das Wesen bzw. die formativen Ideen des Christentums, welche in den verschiedenen geschichtlichen Formen empirische Gestalt gewinnen. Man könnte sagen, dass die philosophische Theologie damit die theoretischen Voraussetzungen der Entstehung christlicher Glaubensgemeinschaften untersucht. Der Ausgangspunkt dieses Fachs steht für Schleiermacher über dem Christentum (§. 33), sofern es neben diesem auch andere Glaubensformen gibt, die sich mit der Zeit entwickelt haben.

Schleiermacher teilt die philosophische Theologie wiederum in zwei Unterabteilungen, welche sich durch ihre unterschiedliche Blickrichtung unterscheiden: Die Apologetik stellt die Eigenarten und Abgrenzungen des christlichen Glaubens in Bezug nach außen dar: Dabei werden sowohl die Diskontinuitäten (z.B. der christliche Offenbarungsbegriff) als auch Kontinuitäten (z.B. das Verhältnis zum Judentum) ausgearbeitet und stellen eine Art fundamentaltheologische Begriffserarbeitung dar. Im Zentrum steht dabei die Frage, was das Wesen des Christentums in Abgrenzung von anderen Religionen und Lebensformen ist und was seine begrifflichen Fundamentstützen sind.

Was die Apologetik mit Blick nach außen ist, stellt die Polemik nach innen dar. Dabei soll das Wesen des Christentums binnenperspektivisch bestimmt werden um dessen Reinheit zu wahren. Als einen wesentliche Grundzug erkennt Schleiermacher, dass die christliche Frömmigkeit als etwas Gemeinschaftliches kommuniziert und gelebt wird: Die Entwicklung der Kirche(n) ist daher der Signatur des Christentums eingeschrieben. Schleiermacher unterscheidet daher nach innen zwei wesentliche „Krankheiten“, woran sich die Polemik immer wieder abarbeiten muss: Zum einen steht ihm der Indifferentismus vor Augen, welcher eine Schwächung der christlichen Frömmigkeit darstellt und damit zu religiöser Gleichgültigkeit und Unbestimmtheit (§. 56). Als komplementäres Problem sieht Schleiermacher den Separatismus welcher seinen Ausdruck in einem geschwächten Gemeinschaftstrieb zugunsten einer separierenden Bekenntnisfestigung findet (§. 57). Schleiermacher hat damit eine klassische Kippwaage vor Augen, die das notorische Problem religiöser Gemeinschaften verdeutlicht: Die schwierige Balance aus gemeinschaftlicher Integrationskraft (nach außen wie nach innen) einerseits und die pointierte und selbstverbindliche Kommunikation religiöser Inhalte.

Insofern stellt die Polemik eine selbstkritische Funktion der Kirche dar: „Was als krankhaft aufgestellt wird, davon muß nachgewiesen werden theils seinem Inhalte nach, daß es dem Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Verfassung ausgedrückt hat, widerspricht oder es auflöst, theils seiner Entstehung nach, daß es nicht mit der von den Grundthatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweisen zusammenhängt.“ (§. 60)

Schleiermacher weist in seiner zusammenfassenden Schlussbetrachtung der philosophischen Theologie auf ihren grundsätzlichen Charakter hin. Sie setzt „zwar den Stoff der historischen als bekannt voraus, begründet aber selbst erst die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christentums.“ (§. 65)

Die Aufgabe einer philosophischen Theologie scheint bei Schleiermacher eine gewisse Verwandtschaft zur platonischen Ideenlehre zu haben: Es geht um die wesentlichen Grundsätze und Vorstellungen, um die eigentlichen Ideen, die den empirischen Formen und Gestaltungen der christlichen Frömmigkeit zugrunde liegen. Im Gegensatz zur historischen Theologie werden die Ergebnisse der philosophischen Theologie eine überzeitliche Perspektive für sich in Anspruch nehmen, da hier in prinzipieller Weise vor bzw. über seinen geschichtlichen Formen nach dem Wesen des Christentums gefragt wird.

Schleiermacher bewahrt dieser Perspektive gleichzeitig eine Dynamik indem er in der Ausbildung des Fachs auch auf eine prinzipielle Subjektivität hinweist. So müsse „jeder Theologie sie [die philosophische Theologie; B.F.] ganz für sich selbst producieren“ (67). Bedeutet das aber nicht eine Beliebigkeit des Wesens des Christentums, wenn jede/r dazu angehalten ist einen eigenen Kern herauszuarbeiten? Dem wäre in der Tat so, wenn Schleiermacher nicht stets auf die Verbindung zur historischen Theologie und die Aufgabe der Kirchenleitung hinweisen würde: Die Theologie hat einen Standpunkt und ist ihrer Geschichte, ihrem Geworden-sein, verpflichtet. Sie ist an empirische Tatsachen geknüpft, in denen sie zwar nicht aufgeht (sonst würde die Theologie nur aus der historischen Perspektive bestehen), aber von denen sie sich auch nicht lösen kann (sonst wäre sie eine absolute Wissenschaft).

Für heutige Leser_innen wäre eine etwas handfestere Behandlung dieses Fachs wünschenswert gewesen. Gerade im Bewusstsein, dass dieses Fach noch auf seine Entfaltung wartet, hätten einige Konkretionen der schleiermacherschen Darstellung gutgetan. Ist z.B. eine Erlösungsvorstellung dem Wesen des Christentums eingeschrieben oder stellt diese nur eine geschichtlich gewordene Form eines grundlegenderen Prinzips dar? Wir befinden uns mit Anfrage dieser Art unmittelbar an der Schwelle zur historischen Theologie.

Die historische Theologie

Die historische Theologie stellt in dieser Enzyklopädie auch vom Textumfang her den größten Abschnitt dar. Im Gegensatz zur philosophischen Theologie erkennen auch heutige Theologiestudierende viele Fragestellung des Fächerkanons wieder. In Anschluss an einige für das Denken Schleiermachers aufschlussreiche geschichtsphilosophische Bemerkungen unterteilt er die historische Theologie in drei Abteilungen (85): die Kenntnisse um das Urchristentum (v.a. Exegese), den Gesamtverlauf des Christentums (Kirchengeschichte) und eine Analyse des (geschichtlich gewordenen) gegenwärtigen Zustands des Christentums (Systematische Theologie und Religionssoziologie). Die historische Theologie befasst sich damit sowohl mit der geschichtlichen Gründung und ihren ältesten Urkunden als auch mit der Entwicklung samt all ihrer Wege und Irrwege bis zur Genese des status quo.

Wen die Fülle der nun folgenden Perspektiven der historischen Theologie erschlägt, dem sei Schleiermachers ermutigende Unterscheidung zwischen dem Überblickswissen der theologischen Allgemeinbildung und dem „Besitz der Virtuosen“ (§§. 92.123 u.ö.) vorausgeschickt: Auch Schleiermacher weiß, dass niemand alles wissen kann. Diese Feststellung hat jedoch nicht nur pädagogischen sondern auch einen prinzipiellen Grund: Sie gewinnt insofern eine strukturelle Bedeutung für die Methodik dieses Fachs, als dass jede historische Anschauung perspektivisch ist und nur einen kleinen Ausschnitt des Ganzen hinter einer bestimmten Folie portraitiert (100) um damit zu einem vielstimmigen Wissenschaftsdiskurs beizutragen.

1. Inhaltlich beginnt die historische Theologie mit dem, was wir heute als neutestamentliche Wissenschaft kennen. Eine gewisse Offenheit dieser Formulierung muss gewahrt bleiben, sofern Schleiermacher auch die Offenheit des christlichen Kanons proklamiert. Das Spektrum dieses Fachs ist heutigen Studierenden des Neuen Testaments an Universitäten grundsätzlich bekannt: Sprach- und Umweltkunde, Einleitungswissenschaften und Hermeneutik sind die wesentlichen Voraussetzungen, die eine gute Auslegung der Ursprungszeugnisse ermögliche, welche „eigentlicher Mittelpunkt“ des Fachs ist (§. 137).

Innovativ und zugleich aus heutiger Sicht höchst fragwürdig ist Schleiermachers Bestreben, außerkanonische Hilfsquellen für die Auslegung zuzulassen: Innovativ ist diese Bestrebung, weil damit generell ein tieferes Verständnis der biblischen Texte in ihrem breiteren Kontext und ihre Genese in ihrem spezifischen Kontext ermöglicht wird – eine Forderung, die in gewisser Weise erst die sozialwissenschaftliche Leben-Jesu-Forschung der Third Quest im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchzuführen vermochte. Mehr als fragwürdig hingegen ist in diesem Kontext Schleiermachers Verortung des Alten Testaments als eines dieser außerkanonischen Hilfsmittel (§. 141). Weder gilt es für ihn als Teil des biblischen Kanons, noch hat es einen eigenen Stellenwert als theologisches Fach. Diese Entscheidung Schleiermachers ist begründet in seinem religiös-rezeptiven Zugang zur Bibel. Die großen Debatten um dieses Thema können an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Sie wurden zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch A. von Harnack aufgenommen und vor Kurzem wieder durch N. Slenczka aufgewärmt und von den überregionalen Zeitungen medial befeuert. Abgesehen davon, dass die gewichtigen Einflüsse der alttestamtlichen Wissenschaft auch im interdisziplinären Gespräch für sich sprechen, wird eine theologisch-konstruktive Rede etwa von der bleibenden Erwählung Israels obsolet, wenn den schriftlichen Grundlagen dieses Bekenntnisses ihr eigener Stellenwert in den theologischen Wissenschaften verwehrt wird. Knapp: Schleiermacher macht hier einen Fehler, der sich jedoch im heutigen Fächerkanon nicht bemerkbar gemacht hat.

2. In chronologischer Kontinuität folgt auf die Geschichte der Entstehung der christlichen Frömmigkeit deren weiterer Verlauf in Form der Kirchengeschichte. Schleiermacher unterscheidet dabei zwischen einer Chronik und der eigentlichen Geschichte (§. 153). Erste ist eine mechanische Methode, die die Abfolge von Veränderungen der Historie darstellt. Sie stellt eine notwendige Voraussetzung für geschichtliche Forschung dar; diese geht in ihr jedoch nicht auf. Die Kirchengeschichte als theologische Disziplin hat das, „was aus der eigenthümlichen Kraft des Christenthums hervorgegangen ist, von dem, was theils von der Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Organe, theils in der Einwirkung fremder Principien seinen Grund hat unterschieden, und beides in seinem Hervortreten und Zurücktreten zu messen suchen“ (160).

Theologische Kirchengeschichte hat also das dialektische Wechselspiel der Prinzipien des Christentums (Philosophische Theologie) und ihren empirischen Gestalten, die selbst wieder generisch auf erstere zurückwirken, zur Darstellung zu bringen. Damit ist sie nicht nur eine deskriptive Wissenschaft, sondern unterzieht die Geschichte des Christentums einer Kritik. Einfacher gesagt, lautet die Frage der Kirchengeschichte: Wie christlich ist eigentlich das Christentum? Die historische Theologie stellt damit eine Brücke zwischen deskriptiver Analyse und normativen Urteilens dar. Sie liefert nicht nur eine Darstellung des Geschehenen, sondern auch die Deutung und Interpretation von Geschichte aus einer heutigen Sicht, die orientierend und konstruktiv auf zukünftiges Handeln ausgelegt ist.

Dabei stehen die Ereignisse in der Geschichte des Christentums zwar stets im Fokus, werden jedoch immer in der wechselseitigen Beeinflussung von Profan- und Kirchengeschichte und im Fluss politischer, geistesgeschichtlicher, kultureller und sittlicher Entwicklungen untersucht (§§. 167-170).

Schleiermacher unterscheidet dazu zwischen dem Gegenstand der Kirchengeschichte und ihrer Darstellung wobei er eine Vielstimmigkeit von Geschichtsdarstellungen für angemessen hält. Alle große Konzeptualisierung und Perspektivierung geschichtlicher Anschauung des Christentums beinhaltet auch hier wieder letztlich eine pragmatische Wendung, wenn Schleiermacher eine fast propädeutische Auflistung liefert, was eigentlich für Studierende der Kirchengeschichte wesentlich zu wissen ist, sofern sie als theologische Disziplin, also in Bezug auf die eigene Beteiligung an der Kirchenleitung, geübt wird. Auch hier finden sich so manche Standards des kirchengeschichtlichen Proseminars wieder (§§. 186ff).

3. Die geschichtlichen Entwicklungen führen zur Genese der Gegenwart und so stellt die dritte Abteilung den stets immer wieder vorläufig und neu zu umschreibenden status quo der geschichtlichen Entwicklung des Christentums dar. Die Gegenwartskunde des Christentums umfasst die dogmatische Theologie sowie die Kirchen- und Religionssoziologie.

Die Dogmatik stellt sich so als eine binnenkirchliche Darstellung der vorherrschenden Glaubenslehre heraus. Sie ist perspektivisch von der Frömmigkeit ihrer Autoren geprägt und kann verschiedene Ausformungen annehmen; umgekehrt kann sie aber niemals „ohne eigene Ueberzeugung“ geschehen (§. 196): Theologie entwickelt sich mit den sie erforschenden Theologietreibenden. Schleiermacher denkt hier jedoch nicht nur an die subjektive Unterscheidung zwischen diesem oder jenem Theologen, sondern hat vor allem auch unterschiedliche geistesgeschichtliche Epochen vor Augen, die ihren eigenen Leitprinzipien folgen um andere hinter sich zu lassen. Vergleicht man aufeinander folgende Perioden gibt es immer orthodoxe (übereinstimmende) und heterodoxe (sich verändernde) Auffassungen, welche das theologische Denken vorantreiben.

Nicht nur die jedoch Frömmigkeit, sondern auch die Orientierung an der biblischen Tradition wird von Schleiermacher als maßgeblich erachtet (209), wenngleich sich exegetische und dogmatische Theologie eine relative Freiheit voreinander bewahren sollen. Ebenso verweist Schleiermacher auf die Theologie-begründende Funktion der altkirchlichen Symbole (211) und deren Fortschreibung in der Reformationszeit (212). Damit führt Schleiermacher das konstruktive Interesse der Kirchengeschichte systematisch-theologisch weiter.

Wieder schließen sich einige propädeutische Paragraphen an, die den Studierenden die Beschäftigung mit einem oder mehrerer ganzer dogmatischer Entwürfe empfehlen (220) und zu einer Ausbildung eigener dogmatischer Urteile die über ein reines Auswendiglernen altprotestantischer Orthodoxie hinausgehen (219).4

Den Abschluss des Abschnitts zur Dogmatik bilden einige Überlegungen zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik, welche Schleiermacher nur in einer relativen Trennung von Glaubens- und Sittenlehre gelten lässt, sofern die eine auf der anderen aufbaut. Die vollkommene Trennung der beiden hält Schleiermacher für einen Fehler, der u.a. falsche Begründungsmuster zur Folge hat.5

Als abschließende Abteilung des Abschnitts über den „gegenwärtigen Zustandes des Christentums“ widmet sich die Kirchliche Statistik dem Zustand der kirchliche als gesellschaftlichem Akteur. In diesem Fach kommen wesentliche kirchen- und religionssoziologische Fragen zu ihrem Recht: Dabei geht es sowohl um die inneren Verhältnisse der Kirche (Kirchenleitung und Kirchengemeinde, Konfessionskunde, Form kirchlicher Gemeinschaften) wie auch um die Beziehungen der kirchlichen Gesellschaft zu anderen religiösen Gemeinschaften bzw. staatlichen- und bürgerlichen Institutionen. Viele dieser Fragen gehören mittlerweile zum Standardrepertoire der Forschung an Systematisch-Theologischen Lehrstühlen.

Interessant sind einige Bemerkungen Schleiermachers, die heute im Licht postkolonialer Fragestellungen neu zur Geltung kommen: Schleiermacher bemängelt in der bisherigen Behandlung dieses Fachbereichs eine allzu enge Fixierung auf die protestantische Perspektive. Heute würde man diesen Vorwurf vielleicht um die Warnung vor unreflektierten Eurozentrismen erweitern, welche die meisten Ausführungen zu „Kirche und Staat“, „Kirche und Zivilgesellschaft“ oder „Kirche und Bürgertum“ lange Zeit begleiteten und immer noch begleiten. Ein offener Blick ist auch hinsichtlich einer lebendigen kirchlichen Praxis von Nöten, welche sich heute im Fragenpool global vernetzter Gesellschaftssysteme orientieren muss (§. 243).

Die praktische Theologie

Schlussendlich reflektiert die Praktische Theologie das kirchliche Engagement in Bezug auf die Kirchenleitung. Sie ist gewissermaßen das Ziel des theologischen Fächerkanons und steht für die Praxis schematisch am Ende vieler theologischer Zwischenergebnisse. Schleiermacher bietet damit eine der ersten theoretischen und systematischen Grundlegungen kirchlichen Handelns, welche über eine Ansammlung von Handlungsregeln des kirchlichen Dienstes hinausgeht. Er verfährt nach dem Prinzip „Gutes fördern und Schlechtes verhindern“, wobei er zunächst die Tiefengrammatik dieses Paradigmas erforscht: Weder heiligt der Zweck die Mittel, noch kann verantwortlich kirchliches Handeln durch einen Regelcodex gestaltet werden. Stattdessen sollen Zweck und Mittel in eins fallen und vielmehr die Regeln als Methode verstanden werden (261ff.)

Die Praktische Theologie arbeitet an „Kunstregeln“, die stets ein „besonderes Talent erfordern“ (265). Insofern ist klar, dass sich nicht jede/r für die Kirchenleitung im Sinne Schleiermachers eignet. Gleichzeitig ist eine solche Leitung durch einige Personen aus praktischen Gründen unerlässlich: Eine anarchisch verfasste Kirche ist nicht denkbar. Gerade darum ist es aber um so notwendiger, die „Vorschriften“ für die Kirchenleitung in der praktischen Theologie zu reflektieren, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren (275).

Insofern die praktische Theologie eine Theorie der Kirchenleitung ist, ist sie von Schleiermacher wiederum nach pragmatischen Gesichtspunkten in zwei Abteilungen aufgegliedert. Man mag im bisherigen Verlauf der Darstellung eine gewisse Unschärfe im Begriff „Kirchenleitung“ bei Schleiermacher bemängelt. Spätestens mit der Aufteilung der Praktischen Theologie beweist Schleiermacher allerdings sowohl seinen Blick für das große Ganze (das „Kirchenregiment“) wie auch für die Arbeit in der lokalen Kirchengemeinde (der „Kirchendienst“).

Schleiermacher arbeitet sich an der Frage nach Lehrenden und Lernenden in der Gemeinde und nach Autoritäten ab und bespricht das Problem der pastorale Wahrnehmung einzelner Gemeindemitglieder als Individuen ohne partikularistisch zu werden.

Vor allem in Bezug auf die Praxis in der lokalen Kirchengemeinde lassen sich viele Felder von heute wiedererkennen: Pastoraltheologie, Seelsorge, Liturgik und Homiletik haben alle ihren gewohnten Ort. Die Religionspädagogik ist eher im Rahmen der Katechetik zu finden – die Situation des staatlichen Religionsunterrichts von heute ist natürlich eine andere als zu Schleiermachers Zeiten (vgl. auch §326). Interessanterweise tauchen viele der auch heute noch in der praktischen Theologie drängenden Fragestellung – wenn auch in etwas anderem Sprachgewand und mit anderen Vorzeichen – auf. Deutlich ist z.B. zu sehen, wie sich auch Schleiermacher an dem Verhältnis von Seelsorger und Gemeindemitglied, von fester Liturgie und individueller Persönlichkeit des Liturgen oder an der Frage nach der religiösen Mündigkeit des Menschen abarbeitet.

Durch die Anordnung beider Teile (der Vorschaltung der lokalen gegenüber der globalen Praxis) tönt Schleiermachers Bekenntnis zu einer demokratisch-synodalen Kirchenverfassung: Die grundsätzlichen Aufgaben kirchlichen Handelns finden vor Ort statt und das übergeordnete und logisch nachgeschaltete Kirchenregiment stellt einen Hintergrund dar, der unterstützend operiert und damit v.a. die Großwetterlage der Kirche im Blick hat.

Im letzten Abschnitt, welcher „die Grundsätze des Kirchenregimentes“ behandelt, kommt Schleiermacher auf die Entwicklung kirchenrechtlicher und verfassungsrechtlicher Fragen zu sprechen. Dabei fällt v.a. Schleiermachers besonnene Überlegungen auf, selbst nach den Wirren der französischen Revolution zwar Kontinuitäten zu sichern aber ebenso veränderungswilligen Tendenzen (Bewegungen der „freien Geistesmacht“, §. 328) Realisierungsmöglichkeiten zu bieten. Schleiermacher schließt hier wieder den Kreis aus wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Frömmigkeit, wenn er hier ein Wechselspiel aus freier theologischer Forschung und der Bewährung von Überzeugungen der Gemeine (sic!; vgl. §. 323) beobachtet. Mit der Auffassung eines wechselseitigen Diskurses von Frömmigkeit und Theologie sieht Schleiermacher die Möglichkeit einer Verwirklichung der protestantischen Vorstellung einer herrschaftsfreien Kirche ohne auf die kontrollierte Entwicklung von Standards in der Bekenntnisbildung und -interpretation zu verzichten.

Kritische Würdigung

Die Kurze Darstellung von Schleiermacher ist ein beeindruckendes Werk, das als theologische Enzyklopädie zu den Klassikern dieses Genres gehört und gleichzeitig exemplarisch für Schleiermachers dynamische Auffassung von theologischer Arbeit steht. Seinen Prinzipien folgend und diese gleichzeitig immer wieder neu ausbildend entwickelt sich das Christentum im Fluss der Geschichte indem es immer neue Ausdrucksformen findet. Aufgabe der Theologie ist es, diese Entwicklung zu begleiten und den Verantwortlichen der Kirchenleitung einen Methodenkanon zur Hand zu geben, der kirchliche Handlungs- und Entscheidungsprozesse hinterfragt.

Die unterschiedlichen Fächer werden durch das in der Einleitung entworfene Programm sehr plausibel miteinander verknüpft. Folgt man den grundsätzlichen Feststellung der ersten Paragraphen, dass Theologie alleine ihrem Bezug zur Aufgabe der Kirchenleitung ihre Existenz verdankt, so liefert Schleiermacher eine kohärente Verstehenshilfe für Theologinnen und Theologen, die einen roten Faden in der Mannigfaltigkeit universitärer Theologie suchen. Man muss sich dann jedoch klar machen, dass es schwierig wird, genuin theologische Fragestellungen und Methoden zu finden, sofern allein ihre christliche Bündelung und kirchliche Funktionalisierbarkeit das wesentlich Theologische der Theologie sind. Die Frage nach dem Wesen Gottes ist grundsätzlich nicht theologisch. Und sie gehört unter bestimmten Umständen nicht einmal in das Feld der Theologie. Lediglich vermittels ihrer Notwendigkeit für die leitende Tätigkeit in der Kirche wird sie theologisch relevant. Dieser logischen und sachlichen Vorordnung der Funktion von Theologie vor ihre Gegenstände ist nicht evident. Aber sie ist das Grundschema von dem her Schleiermacher die Theologie versteht.

Benedikt Friedrich studierte von 2007 bis 2014 evangelische Theologie in Heidelberg und Marburg (Examen der Landeskirche in Baden). Seit 2015 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität in Bochum und promoviert im Fachbereich der Systematischen Theologie.

1Erwähnenswert bleibt die Einordnung der praktischen Theologie in der ersten Auflage der Kurzen Darstellung, welche von Schleiermacher dort noch als Krone der Theologie bezeichnet wird und daher ist es verständlich, dass die ältere Auflage auch heute noch gerne in Einführungsveranstaltungen dieses Fachs Erwähnung findet.

2Mit diesen Grundvoraussetzungen stellt Schleiermacher eine pointierte Position dar, welche sich im Laufe seine Ausführungen erst noch bewähren muss: Die Vorstellung, dass Theologie auch Theo-Logie (also Rede von Gott) erscheint aus dieser Perspektive jedenfalls nicht evident und die Beweislast für die Durchführbarkeit und den Ertrag dieser Prämisse liegen auf der Seite Schleiermachers. Es soll an dieser Stelle bei einer Andeutung der Schwierigkeit dieser religionstheologischen Grundlage bleiben, auf welcher das gesamte Gerüst der Schleiermacherschen Theologie steht.

3Alle Fächervorstellungen folgen einem einheitlichen Schema von theoretischer Grundlegung, Entfaltung und konkreten Problemstellungen, praktischen Hinweisen und letztlich einigen Schlussbemerkungen, die meist noch einmal den Blick auf das große Ganze werfen.

4Schleiermachers Glaubenslehre (Der Christliche Glaube (1830/31), Berlin/New York: de Gruyter 2008) ist bspw. eine solche Gesamtdarstellung. Auf eine ausführliche Einleitung, die selbst nicht dogmatischer Natur ist, sondern vielmehr Teile Schleiermachers philosophischer Theologie darlegen, folgt eine zusammenhängende Darstellung des christlichen Glaubens, wie er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rational kommuniziert werden kann.

5Sehr ähnlich argumentiert ein Jahrhundert später Karl Barth, der die ethischen Teilbänder seiner Kirchlichen Dogmatik den jeweiligen dogmatischen Ausführungen folgen lässt und auf diese konsekutiv entfaltet.

Erleben, dass wir viele sind

von Annette Haußmann

Was ist ein Event und was hat Kirche damit zu tun? Diese Frage stellte sich die Übung „Kirche – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ im Vorfeld zum gemeinsamen Besuch des 35. Evangelischen Kirchentags in Stuttgart. Mit der Grundlage des Textes von Harald Schroeter-Wittke1 zum Eventbegriff und der Bedeutung des Kirchentags gelang eine erste Näherung an das Phänomen des christlich-kirchliches Events. Es stellte sich heraus, dass nahezu alle TeilnehmerInnen bereits Erfahrungen mit derartigen Veranstaltungen gemacht hatten – wobei sich die Grenzen als fließend offenbarten: ist ein Weltgebetstag, ein Gemeindefest oder ein monatlich stattfindender Jugendgottesdienst ein Event oder eine ritualisierte Feier oder beides? Die Eindrücke, die von solchen Events zurückbleiben, waren ebenso vielfältig wie die Teilnehmenden:

Viele sind Christen. Wir sind viele.“

Man erlebt Gemeinschaft, und das bestärkt dann auch den Glauben.“

Die reden dort wie wir heute.“

Auch Atheisten gehen dorthin, aber dann verändert sich gar nichts. Und ich frage mich, warum gehen die dann überhaupt dort hin?“

Harald Schroeter-Wittke ist der Überzeugung: „Events sind gut und große Klasse.“2 Stimmt das? In Theorie und Praxis würde das zu überprüfen sein.

Im in der Übung inszenierten Streitgespräch wurde die Frage nach der Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit und Zielsetzung des christlichen Events erörtert. Am Beispiel des Kirchentags übernahmen die Studierenden abwechselnd die Perspektive von Teilnehmenden, Mitarbeitenden, aber auch von Ortsgemeinde und PfarrerInnen. Die Argumente für und gegen die Durchführung von Events wurden aus Texten und eigener Erfahrung rekonstruiert und in lebendiger Debatte von pro und contra ausgetragen.

Erstaunliche Erkenntnis: Es geht um Nachhaltigkeit, um Zukunft und Gestalt der Kirche, nicht um das Event selbst. Der stereotyp aufbrechende Kontrast zwischen der Forderung regelmäßiger Mitwirkung in der (Orts-)Gemeinde und punktuellem berechtigtem Projektcharakter brachte schnell an den Punkt, Perspektiven zu hinterfragen. Diskutieren wir in der Rolle des künftigen Pfarrers, der begeisterten Kirchentagsteilnehmerin oder -helferin, des Jugendleiters in der heimischen Ortsgemeinde oder als Kirchenmitglied? Denn das macht einen Unterschied in der Positionierung: stimmen wir in die Klage „zu wenig Beteiligung im Gottesdienst am Sonntag“, „zu wenige Mitarbeitende“, „ständige Herausforderungen durch Projekte“ ein oder sind wir bereit, die Vorzüge eines Großevents gerade im Projektcharakter, der Einmaligkeit, der überschäumenden Atmosphäre und der Unwiederholbarkeit zu sehen?

Das führte zur übergeordneten ekklesiologischen Fragestellung: Wird Kirche als Dienstleisterin verstanden, die durch wechselnde Angebote eine möglichst große Zahl von Menschen mit dem Evangelium anzusprechen hat? Und in welchem Verhältnis stehen dann Tradition bzw. traditionelle Formen und Neuerungen? Pastoraltheoretische, kybernetische und ekklesiologische Aspekte sind also in der Beurteilung des Events so eng miteinander verflochten, dass sich eine systematische Betrachtung nahelegt.

Die Heuristik, die hier im Hintergrund steht, ist die einer Teilnahme- und Mitmach-Kirche, die das Ideal einer regelmäßigen Partizipation an verschiedenen Formen gelebten Christseins – insbesondere die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst – in sich trägt. Vor dieser Folie wird das Event schnell zur Angelrute, die Gemeindeglieder begeistern und an Land der Orts-Gemeinde ziehen soll. Vereinfacht: „Menschenfischen“ – eine Aufgabe des Events? Eine ähnliche Verkürzung findet sich in missionarischen Kontexten, die solche Massenveranstaltungen als Methode der Gemeindeentwicklung und zur Gewinnung von Ehrenamtlichen verstehen möchten.3

Das Event als Selbstzweck?

Müssen Events funktionalisiert werden oder kommt ihnen nicht eine eigene Daseinsberechtigung zu, die im Moment des Erlebens, der Punktualität und Eventualität aufgeht und die Frage nach Nachhaltigkeit, Folgen und Mission hinten anstellen lässt? Das Event Kirchentag weckt Begehrlichkeiten, die Gestalt von Kirche zu erneuern, zu verändern, Verbindlichkeiten zu erzeugen, Mission praktisch erlebbar zu machen, dem wahrgenommenen Verlust der Kirchenmitgliederzahlen Einhalt zu gebieten. Diese Gedanken sind verständlich aus der Perspektive einer kleiner werdenden Gemeinschaft, die Angst und Sehnsucht prägt: „wir sind wenige“ – „wir wollen mehr werden“. Eine verkürzte, wenn auch ansteckende Sichtweise, die die Erkenntnis aus der vorletzten Sitzung wegzuwischen drohte. Dort waren wir zur Einsicht gekommen, dass auch gelegentliche oder sogar keine Partizipation an Angeboten eine berechtigte Form der Kirchenmitgliedschaft ist.

Nun sollte das Diskutierte aber praktisch und erlebbar werden: Mit viel Theorie und Reflexion im Gepäck in die Erlebniswelt bunter Schals, neuer geistlicher Lieder und politischer Podien einzutauchen – eine bereichernde Erfahrung für die Übungsteilnehmer, die zum Teil das erste Mal bei einem Kirchentag dabei waren.

Von Perspektiven, Zukunftsentwürfen und Sozialarbeitern. Eindrücke vom Kirchentag

Vor allem auf die Perspektive kommt es an, denn wenn man nur genau hinschaut, entdecke man, wo sich Erneuerungen regen und Heiliger Geist weht, so Dr. Christian Hennecke, dessen Impuls sich als Ermutigung zum Abschied vom Verständnis der Angebotskirche verstehen ließ. „Man muss Altes auch sterben lassen können“, ergänzte Gabriele Viecens.4 Aber wer entscheidet, was sterben muss und was weiterleben soll und weiterbelebt wird? Als Indikator für gute und zukunftsweisende Gemeindearbeit sei die Leidenschaft, das „Brennen für die Sache“, mit der etwas betrieben werde. Diese positivistische Sicht hinterfragten die Studierenden kritisch. Brennen allein reicht nicht, notwendig sind auch personelle, finanzielle und strukturelle Ressourcen. Und was geschieht wenn sich Tradition und Neues nicht miteinander vereinen lassen? Fragen, über die sich ein längeres Nachdenken lohnt.

Apropos Perspektive: Theologen und Pfarramtsstudierende hören anders hin. Genauer, differenzierter und theologischer. Die Vernetzung mit Wissensinhalten und das Hineinstellen der Informationen in einen größeren theologischen Horizont, das gehört mit zu den theologischen Kompetenzen, die im Studium erworben werden und es schützt vor Pauschalisierung und dem Glauben an zu einfache Lösungen.

Zweitens hören gerade Pfarramtsstudierende mit sehr aufmerksamen ‚Appellohren‘, wenn es um Veränderungsprozesse in Kirche und Gemeinde geht. Der stereotype Ruf nach den besser ausgebildeten Pfarramtskandidaten nahm in den Veranstaltungen immer wieder prominenten Raum ein. Mehr Netzwerken, das Wachsende unterstützen, aus den wenigen mehr machen, Atheisten für die Kirche gewinnen.5 Diese floskelhaften Forderungen stellen nicht nur Rückfragen an die Eignung des Einzelnen, sondern hinterfragen auch die theologische Ausbildung. Kommen in der Lehre die Persönlichkeitsbildung und der Ausbau von Kompetenzen wie (Selbst)Management und Beziehungspflege zu kurz? Provokant gefragt: Wird der Theologe/Pfarrer zum Sozialarbeiter? Wie kann es gelingen, die wahrgenommene Zweiteilung von Praxiselementen und theologischer Theorie aufzubrechen und deren unteilbare Zusammengehörigkeit deutlicher zu machen?

Am Ende steht die Beobachtung im Raum, dass sich die Perspektive der werdenden PfarrerInnen nicht von der der Teilnehmenden, Mitfeiernden, Konsumierenden trennen lässt. Der Gedanke an die eigene berufliche Zukunft lässt sich gerade beim Nachdenken über kirchliche Zukunft nicht wegwischen. Wie wird es sein, wenn ich selbst die Kanzel besteige: Wie viele werden mir zuhören? Wie gewinne ich die junge Generation? Vorbilder sind notwendig, um der neuen Generation im Pfarramt Wind in die Segel zu geben. Es erfordert Mut, diesen vielfältigen und herausfordernden Beruf beherzt zu ergreifen, nach eigenen Vorstellungen zu formen und Kirche mitzugestalten.

Damit wir klüger werden!

Unser Fazit am Ende der Veranstaltung: Das Event Kirchentag ist klasse, die Stimmung und Atmosphäre, das Erleben der Massen und die lebendigen gesellschaftspolitischen Diskussionen. Kehrseite der Massenveranstaltung ist die Pauschalisierung von Inhalten und Argumenten – eine Ermutigung dazu, differenzierte, theologische und wissenschaftliche Perspektiven einzunehmen. Und eine Ermutigung, das Studium als einen Ort der Erkenntnis und des kritischen Hinterfragens in seiner inhaltlichen Berechtigung verstärkt wahrzunehmen. Die Studierenden sind dabei auf einem sehr guten Weg

Selbstvorstellung:

Annette Haußmann, Diplom-Theologin und Diplom-Psychologin, aktuell Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie der LMU München bei Prof. Dr. Christian Albrecht. Ich arbeite an einer Dissertation in der Praktischen Theologie zum Thema Religiosität, Belastungen und Ressourcen in der Pflege, Zur Rolle von Religiosität bei pflegenden Ehepartnern, betreut von Prof. Dr. Birgit Weyel, Universität Tübingen. Sonstiges: Grenzgängerin zwischen Theologie und Psychologie, München und Tübingen, Natur und Kultur, Arbeit und Leben, engagiert in der Diakonie (Vorträge, ehrenamtliche Mitarbeit in Gremien) und Jugendarbeit (Organisation von Tagen der Orientierung für Schulklassen, ejw Stuttgart).

1 Harald Schroeter-Wittke, Evangelische Kirche und Eventkultur, in: Jahrbuch für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 62 (2013), 221–240.

2 A.a.O., 222.

3 Z.B. Michael Herbst, „Event-ualität“ – neue Normalität in Gemeinde und Kirche? In: Theologische Beiträge 44. 2013, 4 / 5., 202-217.

4 Veranstaltung „Glänzende Aussichten – wie Kirche neu aufbricht“.

5 Veranstaltung „Ich bin nicht religiös. Ich bin normal!“ Konfessionslosigkeit als Herausforderung für die Kirche.