Rezension zu: Bernd Janowski, „Anthropologie des Alten Testaments“

Janowski, Bernd: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019

Der Titel dieses Buches wirft lange Schatten voraus. Bernd Janowski erweitert den Kanon der alttestamentlichen Werke zum Menschen, seinem Sein und Wesen um eine monumentales Monographie auf knapp 800 Seiten. Über Jahrzehnte war das Standartwerk zum Thema der gleichnamige Band von Hans Walter Wolff. Nicht von ungefähr kommt es daher, dass sich Janowski selbst – gleich zu Beginn – einer Methodenkritik unterzieht und Wolffs Ansatz kritisch würdigt. Ihm gelingt dabei, wie auch im gesamten Band, gleichzeitig Nachschlagewerk und spannende Lektüre zu sein. Janowskis Stil und Sprache laden sporadisch Suchende zum Weiterlesen ein und fesseln Lektürewillige an die Seiten. Sein Ansatz verspricht dabei einerseits, die Aspekte der alttestamentlichen Menschenbilder zu systematisieren und gleichzeitig ihren integrativen Charakter zu bewahren. Janowski kann dabei sehr umsichtig auf dogmatische Festlegungen zu verzichten und gleichzeitig Besonderheiten in der Lebensführung verschiedener Epochen und literarischer Kontexte sowie anthropologische Konstanten würdigen. (Vgl. S. 39-42)

Die Anthropologie des Alten Testaments gliedert Janowski in sieben Teile (Teil 1 ist die Einführung). Danach widmen sich vier große Abschnitte den fundamentalen Themen von Lebensphasen, Personenbegriff, sozialem Handeln sowie der menschlichen Welterfahrung. Er beschränkt sich jedoch nie allein darauf, sondern ergänzt seine Ausführungen stets durch Querverweise und Exkurse, die aufzeigen, wie vernetzt alle Bereiche sind. Das Nachschlagen in einem Kapitel wird Lesende nicht selten durch verschiedene Abschnitte führen.

Janowski nimmt zunächst die Beschreibung der „menschlichen Lebensphasen“ auf, die er biographisch und sozial erfasst. Er beschreibt dabei die fundamentalen menschlichen Positionsbestimmungen, der Schöpfung, der Geburt und des Todes. Hierbei verzahnt er nicht nur anatomische, psychologische und theologische Gesichtspunkte. So findet sich hier beispielsweise das bei Wolff viel beachtete Kapitel zu næfæš (vgl. 48ff.). Janowski allerdings bringt gleichzeitig soziale und lebensgestaltliche Aspekte zur Sprache. Ebenso ist beachtlich, dass dieses Kapitel durch eine sehr umsichtige Behandlung von „Gender- und Generationsaspekten“ geschlossen wird. In der Einleitung dazu spricht Janowski selbst von den familiären, biographischen, sozialen und personenbegrifflichen Implikationen dieser Thematik und verweist indirekt auf die vorhergehenden und folgenden Abschnitte seines Werkes.

Im Anschluss daran beleuchtet er den Personenbegriff mittels der Sphären des Leibes und der Sozialsphäre des Menschen. Weckt der erste Abschnitt Erinnerungen an den Beginn von Wolffs Anthropologie, klang bei Wolff letzteres erst am Schluss kurz an. Janowski differenziert den leiblichen Personenbegriff im Spiegel der in der Zwischenzeit geleisteten Forschung und erweist mit der sozialen Positionsbestimmung des Personenbegriffs dem Verständnis der alttestamentlichen Lebens- und Gedankenwelt einen unschätzbaren Dienst. So betrachtet er die Person im sozialen Kontext unter dem Thema der Anerkennung als Form der Resonanz in menschlichen Beziehungen vor dem Hintergrund der Resonanztheorie von Hartmut Rosa (vgl. S. 184f.). Er interpretiert diese entsprechend biblisch weiter, unter den Begriffen der Hingabe und der Gastfreundschaft. Beachtlich ist hier besonders der Exkurs zu Ruth (S. 191-195).

Der systematische Aufbau des Werkes setzt sich auch in den folgenden Kapiteln fort. So unterteilt Janowski die Formen des sozialen Handelns in Tätigkeit und Kommunikation des Menschen. Ähnlich im Abschnitt zu Räumen und Zeiten, wo er zwischen natürlichem und sozialem Raum gegenüber dem symbolischen Raum von Erzählungen und Narrativen differenziert. Mit der Einteilung der Zeit verhält es sich ebenso: der „realen“ Zeit der Welt steht die konstruierte Einteilung der Zeit durch religiöse Deutungen, Festlichkeiten, Einschnitte und Höhepunkte als Parallelentwurf untrennbar nicht gegenüber, sondern anbei.

Janowski weiß dabei darum, dass es eine besondere Schwierigkeit darstellt die Konstanten der Anthropologie des Alten Testaments in einem Guß herauszuarbeiten. Daher wendet er sich im sechsten Abschnitt des Buches den verschiedenen Textbefunden zu und arbeitet mit den Anthropologien des Alten Testaments im Hinblick auf Urgeschichte und Priesterschrift, Königtum, Propheten und weisheitliche Literatur sowie – und hier sei ein besonderes Augenmerk gelegt – eine Anthropologie der Psalmen. Janowskis Betrachtungen zur sozialen Dimension des Betens und die damit einhergehenden Zeitebenen (vgl. S. 486ff.) sind ebenso erhellend, wie seine Beobachtungen zu Diesseits- und Jenseitsgegenüberstellungen, die, besonders im Hinblick auf Unterweltsvorstellungen im Alten Testament in ihrer Deutlichkeit einzigartig sind.

Was ist der Mensch? In Kapitel sieben schließlich kehrt Janowski zur Frage aus Psalm 8 zurück und resümiert seine Betrachtungen in der Kontrastierung zu Kants Kritik der praktischen Vernunft. Die Anthropologie des Alten Testaments leiste ihren Beitrag in der steten Ausrichtung auf Gott den Schöpfer, worin wir ein „wesentlich anspruchsvolleres Konzept als die reduktionistische Selbstbezüglichkeit des vernunftbestimmten Menschen von Kant und seinen idealistischen Erben“ (S. 547) fänden. Dabei geht es Janowski nicht darum, zu einem alttestamentlichen Menschenbild zurückzukehren, sondern darum, unsere daherkommenden Prägungen verstärkt wahrzunehmen und uns kritisch und konstruktiv damit auseinander zu setzen, um einer vorurteilsbehafteten Banalisierung biblischer Gedankenwelten im aktuellen gesellschaftlichen, aber auch theologischen Diskurs entgegenzuwirken.

Dieses Buch stellt die alttestamentliche Anthropologie erfrischend neu, übersichtlich und umfassend dar und ist ein unschätzbarer Beitrag nicht nur zur alttestamentlichen Wissenschaft, sondern ebenfalls zur praktischen Theologie. Darüber hinaus sei es ausdrücklich als Nachschlagewerk oder zur Gesamtlektüre in Studium, Vikariat und Pfarramt empfohlen.

Pfarrer Lukas Altvater

Rezension: Rainer Kessler, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments

Rezensiert für www.nthk.de von Nina Beerli

Kessler, Rainer: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh 2017.

Erstmals seit Eckhart Ottos Theologischer Ethik von 1994 erscheint mit Der Weg zum Leben von Rainer Kessler wieder eine Ethik des Alten Testaments in deutscher Sprache. Entstanden ist das Buch nicht zuletzt aus dem Anliegen heraus, ethisches Nachdenken und biblische Überlieferung (wieder) näher zusammenzubringen und die Relevanz der alttestamentlichen Texte auch für heutige ethische Fragestellungen aufzuzeigen. Diesen Anspruch löst Kessler in seinem rund 700 Seiten umfassenden Werk ein. Obwohl der Autor seine Hauptaufgabe in der historischen Rekonstruktion der Ethik der Hebräischen Bibel sieht und diese auch den grössten Raum einnimmt, will er dabei nicht stehenbleiben. Bereits bei der Darstellung der Texte weist er immer wieder auf aktuelle Fragestellungen hin. Zudem werden in 20 Impulsen ethische Problemstellungen aufgenommen, die auch in heutigen Diskursen eine Rolle spielen. Der knappe letzte Teil des Buches widmet sich der Frage, wie sich Altes Testament und christliche Ethik zueinander verhalten und wie sich ethische Implikationen des Alten Testaments in eine moderne Ethik übertragen lassen. Damit leistet Kessler auch einen Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Ethik und Bibelwissenschaft.

Im einführenden ersten Teil seines Werks setzt sich Kessler mit grundlegenden Fragen auseinander, die sich bei der Konzeption einer Ethik des Alten Testaments stellen. Gegenstand einer solchen Ethik sind nach Kessler die Schriften der Hebräischen Bibel (und nicht das moralische Leben der Israeliten). Unter dem Begriff Ethik versteht Kessler die wissenschaftlich verantwortete Reflexion auf das gelebte Ethos. Dieses speise sich aus bestimmten Verhaltensweisen (Konvention, Etikette, Brauch, Sitte) sowie aus gesellschaftlichen Normvorstellungen darüber wie man leben sollte (Ethos, Moral), wobei die Grenzen zwischen „faktischem Tun“ und der „Formulierung normativer Gedanken“ (53) häufig fliessend seien. Das Alte Testament bietet nach Kessler keine Ethik i.S. einer wissenschaftlichen Theorie, sondern die ethischen Vorstellungen und Haltungen müssen allererst aus den Texten rekonstruiert werden. Kessler spricht daher auch von der „impliziten Ethik der Hebräischen Bibel“ (60).

Für die Darstellung dieser impliziten Ethik wählt Kessler die kanonische Perspektive, wobei er sich am hebräischen Kanon orientiert wie ihn bspw. die Biblia Hebraica bietet. Seine Entscheidung begründet Kessler u.a. damit, dass gerade die kanonische Darstellung einer Vereinheitlichung entgegenwirke, die der Vielfalt und dem spannungsvollen Nebeneinander ethischer Vorstellungen zuwiderlaufe. Indem eine kanonische Darstellung die Texte der Reihe nach betrachte und sie mit Hilfe von Einsichten in ihre Entstehung und Sammlung besser zu verstehen suche, werde die Widersprüchlichkeit der Texte nicht aufgehoben und harmonisiert, sondern thematisiert und stehengelassen. Nach Kessler kommen so die biblischen Texte in ihrer Vielfalt und zugleich in ihrer Einheit als kanonisierte Texte zur Geltung.

Der kanonische Zugang bedingt, dass alle Schriften der Hebräischen Bibel als Quellen für die Rekonstruktion ethischer Vorstellungen in Betracht kommen. Hier grenzt sich Kessler von Otto ab, der für seine Ethik nur jene Texte berücksichtigte, die sich explizit mit ethischen Fragestellungen auseinandersetzten, was dann im Endeffekt auf eine Reduktion auf Rechts- und Weisheitstexte hinauslief. Kessler sieht aber sowohl in den narrativen als auch in den prophetischen Texten der Hebräischen Bibel eine Fülle ethischer Themen verhandelt. Allerdings müsse bei der Darstellung der Ethik darauf geachtet werden, wie ethische Fragestellungen in den Texten zur Sprache kämen. Während in narrativen und prophetischen Texten ethische Themen v.a. implizit zur Darstellung kämen, hätten Rechts- und Weisheitstexte i.d.R. normativen Anspruch. Hinzu kämen noch einige Texte (z.B. Ps 15, aber auch der Dekalog), die „so etwas wie ethische Grund-Sätze formulieren“ würden (73). Den Schwerpunkt legt Kessler – genau wie Otto – auf die normativen Texte, im Ablauf der Darstellung folgt er jedoch dem kanonischen Prinzip. Das hat zur Folge, dass zunächst Erzähltexte und erst dann Rechtstexte behandelt werden. Anschliessend wendet sich Kessler den prophetischen Texten zu, die – in kanonischer Perspektive – auf dem Fundament der Tora aufruhen. Erst zum Schluss kommen dann auch die weisheitlichen Texte in den Blick.

„Die Tora ist ihrem Wesen nach sowohl Erzählung als auch Weisung“ (85). Während die Urgeschichte und die Erzelternerzählungen vom Motiv des Segens durchzogen seien, sei die Geschichte der beginnenden Volkwerdung Israels geprägt durch die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten und den Bundesschluss am Sinai. Auf diesem Fundament ruhe schliesslich die Gabe der Weisung und mit ihr die Forderung nach Gerechtigkeit auf. Kessler spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zwei-Säulen-Modell“ (89): Auf den beiden Säulen Segen und Befreiung baut das Thema Gerechtigkeit auf, welches in dem Moment in den Vordergrund tritt, in dem erstmals Recht gesetzt wird (Ex 15,25f.) und seinen Höhepunkt in den grossen Rechtsammlungen und deren Aufnahme im Deuteronomium hat. Segen und Befreiung als Gaben Gottes fordern, so Kessler, zum Tun der Gerechtigkeit heraus. Beide lassen sich auch nur im Tun der Gerechtigkeit bewahren. Ohne Regeln würden sie sich nur allzu rasch in ihr Gegenteil verkehren: Segen würde zu Fluch, Freiheit zu Anarchie und Unterdrückung.

Mit der Orientierung an diesen drei grossen Motivkomplexen, die nach Kessler den gesamten Erzählbogen des Pentateuchs prägen, will der Autor auch eine Engführung vermeiden, die sich auf die Themen Bund, Erwählung und Erlösung beschränkt und damit „das, was sie aus der narrativen Begründung und Einbettung der Weisung aufgreif[t], kanonisch gesprochen auf den Anfang des Exodusbuches“ reduziert (87). Dies zu vermeiden gelingt Kessler insofern, als er durch das Zwei-Säulen-Modell und dem darauf aufbauenden Thema der Gerechtigkeit tatsächlich einen viel breiteren Textbereich für die Ethik des Alten Testaments fruchtbar machen kann. Auf der anderen Seite bedeutet diese Schwerpunktsetzung – wie jede andere auch –, dass eine Auswahl getroffen und gewisse Motive nicht oder nur am Rande aufgenommen werden können (so z.B. das Motiv von Bund und Verheissung).

Für die prophetischen und weisheitlichen Texte gilt das Zwei-Säulen-Modell so nicht mehr. Kessler zeigt aber auf, dass sie sich mit dem Thema Gerechtigkeit auseinandersetzen – wenn auch unter jeweils anderen Vorzeichen. Während insbesondere die hinteren Propheten in ihrer Sozialkritik die konkret erfahrene Ungerechtigkeit anprangern und zugleich eine Gerechtigkeit fordern würden, die sich an den sozial Schwachen orientiere, setzten die weisheitlichen Schriften bei der umfassenden Bildung des Einzelnen an und versuchten so, Einfluss zu nehmen auf die innere Motivation eines Menschen. Relevant für die Ethik ist nach Kessler, dass beide Textbereiche – genau wie die Tora – eine „Option für die Armen“ sowie einen „starken Gottesbezug“ propagieren (354).

Es fällt auf, dass Kessler im Vergleich zur Arbeit am Pentateuch bei den beiden folgenden Textbereichen stärker exemplarisch vorgeht, wobei klar ist, dass bei solch einem Buchprojekt nie alle Texte und Themen behandelt werden können. Gelegentlich weist der Autor zwar darauf hin, dass bestimmte Schriften weggelassen werden, eine Begründung dafür liefert er jedoch leider nicht. Ausgehend von dieser Beobachtung stellt sich die Frage, ob bei der Auseinandersetzung mit anderen Schriften nicht auch andere Themen stärker in den Vordergrund getreten wären. So dient der schlaglichtartige Durchgang durch die weisheitlichen Texte m.E. eher dazu, zu zeigen, dass die beiden Grundthemen „Gottesbezug“ und „Option für die Armen“ auch hier begegnen, als dass wesentliche neue Erkenntnisse hinzukämen. Doch hätte bspw. eine genauere Betrachtung der Psalmen wohl noch mehr und andere Einsichten im Hinblick auf ihre ethischen Implikationen zu Tage gebracht. Zumindest einzelne Psalmen vermitteln einen tiefen Einblick in die Selbst- und Fremdbilder, die Menschen von sich und anderen sowie von Gott haben, oder zeigen, wie Menschen Konfliktsituationen schildern, wie sie solche Situationen zu lösen versuchen bzw. wie sie mit ungelösten Konflikten umgehen. Für ethische Fragestellungen wäre hier m.E. noch einiges zu gewinnen.

Aufs Ganze gesehen bietet Kesslers Ethik jedoch einen breiten Überblick und einen sehr informativen Durchgang durch die Texte der Hebräischen Bibel. Die zusammenfassenden Einleitungen zu jedem Paragraphen und die reflektierenden Kapitel zum Verhältnis von Tora, prophetischen und weisheitlichen Texten helfen bei der Orientierung und bringen zentrale Einsichten auf den Punkt. Kessler nimmt immer wieder entstehungsgeschichtliche Fragen auf und bringt diese ins Gespräch mit dem von ihm gewählten kanonischen Ansatz. Auch werden ethisch kontroverse Themen angesprochen (so z.B. die Frage nach der Moral Gottes). Kessler liefert mit seinem Werk einen für das eigene ethische Nachdenken anregenden Beitrag, der an dieser Stelle zur Lektüre wärmstens empfohlen sei.

 

 

Nina Beerli hat von 2009 bis 2015 in Zürich evangelische Theologie studiert und arbeitet derzeit als Assistentin am Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaft und Altorientalische Religionsgeschichte am Theologischen Seminar der Universität Zürich.

Rezension zu: Körtner, Ulrich H. J., Arbeit am Kanon.

von Tobias Jammerthal

Rezension zu: Körtner, Ulrich H. J., Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015.1

Der biblische Kanon ist in jüngster Zeit wieder einmal Gegenstand theologischer Kontroversen gewesen. Eines sollte dabei jedem Beteiligten deutlich geworden sein: die Theologie, und zumal die protestantische, hat wieder viel intensiver darüber nachzudenken, was die Kanonizität der biblischen Texte eigentlich bedeutet.

Einen vielversprechenden Impuls liefern die hier vorgelegten Studien des Wiener Systematikers Ulrich Körtner aus den Jahren 2010 bis 2013. Während der Theologie gegenwärtig häufig nur noch eine kulturhermeneutische Aufgabe zugeschrieben wird, sind Körtners Studien getragen von einer ganz anderen Auffassung der theologischen Aufgabe: „Alle Theologie ist Arbeit am Kanon, so gewiss christliche Theologie ganz wesentlich als Schriftauslegung zu begreifen ist“ (5) stellt er emphatisch im Vorwort fest. In unterschiedlichen christlichen Konfessionen ist indes der Aufbau der biblischen Bücher unterschiedlich und auch die Frage der Kanonizität derjenigen Schriften, welche sich nur in der Septuaginta finden, beantworten die Konfessionen nicht einheitlich. Diese Pluralität, so Körtner, gilt es mit zu bedenken, wenn über den Kanon nachgedacht wird.

Wie ein solches Nachdenken über den Kanon aussehen könnte, demonstrieren die sieben Kapitel des von der Evangelischen Verlagsanstalt ansprechend ausgestatteten Büchleins in jeweils unterschiedlicher Ausrichtung: Kapitel 1 (17-58) analysiert unter der Überschrift „Im Anfang war die Übersetzung“ das komplexe Verhältnis zwischen Kanon und Übersetzung. Körtner weist zu Recht darauf hin, dass das Christentum von Anfang an selbstverständlich davon ausging, dass der biblische Text durch seine Übersetzung nicht an Kanonizität einbüßt. Besonders reizvoll ist es, dass Körtner im Anschluss an seine Beobachtungen nach den Konsequenzen für das reformatorische Schriftprinzip fragt, wie überhaupt das Bewusstsein für und das Verdeutlichen von Konsequenzen der jeweils bedachten Frage zu den Stärken der vorliegenden Studien gehört.

Dem Band seinen Namen gegeben hat das zweite Kapitel (59-102), in dem sich Körtner mit dem Beitrag Rudolf Bultmanns und seiner Schüler zur Diskussion über die hermeneutische Bedeutung des biblischen Kanons auseinandersetzt. Im Gespräch mit Bultmann und seinen Schülern erörtert Körtner seine grundlegende These, dass der Kanon als „hermeneutisches Prinzip“ und nicht einfach als Textabgrenzung zu verstehen sei. Gerade angesichts der im ersten Kapitel skizzierten Unterschiede zwischen den Konfessionen bei Aufbau und Umfang des Kanons leuchtet es ein, wenn Körtner die Funktion des Kanons als „Richtungspfeil, der über sich hinausweist“ (13) verstehen will. Damit ist der Bibeltext als „Zeugnis der Offenbarung des Gottes Israels, der nach christlicher Überzeugung in Jesus Christus Mensch geworden ist“ ernstgenommen.

Wiederaufgegriffen werden diese Überlegungen im abschließenden siebten Kapitel (215-250). Hier entwickelt Körtner eine „Hermeneutik der Transzendenz und des Unverständnisses“, die sich mit den Grenzen der Bibelhermeneutik beschäftigt. Souverän verbindet der Wiener Systematiker den wichtigen Hinweis von Jürgen Habermas, dass eine ernstzunehmende Hermeneutik immer auch ihre Grenzen bedenken muss, mit hamartiologischen Beobachtungen: Weil der Mensch ein Sünder ist, ist seine spontane Reaktion auf den Gott, der ihm im Zeugnis der biblischen Texte entgegentritt, die Abwehr und das Unverständnis. Dies ist der vielleicht wichtigste Beitrag zur aktuellen Debatte um den Kanonbegriff gerade gegenüber solchen Positionen, die im Rekurs auf den Kulturprotestantismus lieber eine Hermeneutik des Einverständnisses konstruieren.

Eine weitere Stärke der hier vorgelegten Studien ist es, dass Körtner theologische Wissenschaft und kirchliche Praxis ins Gespräch miteinander bringt. Besonders deutlich wird dies in den Kapiteln 3 (103-136) und 4 (137-150). Unter der Überschrift „Die Bibel im Gottesdienst“ finden sich beachtliche Überlegungen über die Bedeutung der Perikopenordnungen. Körtner kann hier auf seinen 2010 auf einer wissenschaftlichen Fachtagung zur Perikopenrevision gehaltenen Vortrag aufbauen, wie man auch den Ausführungen zum Thema „Was hilft eine systematisch-theologische Schriftlehre für die Predigt der Episteltexte?“ im vierten Kapitel anmerkt, dass sie im Kontext der Erarbeitung einer neuen Perikopenordnung entstanden sind. Auch die in Kapitel 5 (151-174) anhand des Bibliodramas angestellten Überlegungen zu „Bibelhermeneutik und Leiblichkeit“ verbinden systematisch-theologische Reflexion mit angenehmer Sprachfähigkeit insachen gegenwärtiger kirchlicher Entwicklungen.

Dies gilt auch für Kapitel 6 (175-214), in dem sich Körtner der Kreuzestheologie des Paulus und ihrer Rezeption in der gegenwärtigen systematischen Theologie widmet. In diesem zuerst 2013 in der Festschrift für Andreas Lindemann erschienenen Beitrag untersucht Körtner die Wechselwirkungen zwischen Exegese und systematischer Theologe bei der Interpretation der paulinischen Formel des Wortes vom Kreuz. In angenehmer Präzision werden relevante Positionen der letzten Jahrzehnte skizziert, mit dem zuvor erhobenen exegetischen Befund abgeglichen und daraufhin reflektiert, was sie hermeneutisch implizieren. Die abschließende Einschätzung, dass im Wort vom Kreuz etwas zum Ausdruck kommt, was menschliche Sprache nur bedingt auszudrücken vermag, führt anschaulich vor Augen, was eine Hermeneutik zu leisten vermag, die sich über ihre Grenzen bewusst geworden ist und die sich gerade deshalb immer wieder neu hinterfragt.

Sprachlich gelingt Körtner der Spagat zwischen Allgemeinverständlichkeit und fachlich gebotenem Abstraktionsniveau gut, weswegen der Band gerade auch Studenten jüngerer Semester ans Herz gelegt sei. Ärgerlich ist, dass es immer wieder Tippfehler durch das Korrigat geschafft zu haben scheinen, verständnishemmend wirkt sich dies jedoch nicht aus.

1 Leicht überarbeitete Fassung einer im ichthys 1/2016 erscheinenden Rezension.

Einführende Überlegungen zum Bibelverständnis Teil 1: AT

von Leif Rocker

Einleitung:

Die folgenden Zeilen sind durch eine Diskussion in einer der Theologie gewidmeten Facebook-Gruppe entstanden und wurden dort in unwesentlich anderer Form auch veröffentlicht.

Ausgehend von den Pariser Terroranschlägen vom 13.11.2015 und den bekannten Ressentiments gegen die Religion des Islam, wurden dort die immer gleichen Argumente genannt, um den Islam als Religion der Gewalt darzustellen. Islamfeindliche Gruppierungen wie „PEGIDA“ u.ä. sind bei solchen Diskussionen immer vorne mit dabei. Dass die genannten Argumente sich aber meist nur auf dieselben, aus dem Kontext herausgerissenen Suren beschränken, dafür aber auch bei vielen Teilen der Bevölkerung, denen man ein gewisses Maß an Reflexion zutrauen würde, Anklang finden, scheint meiner Meinung nach u.a. darauf hinzuweisen, dass eben diese Leute es nicht gewohnt sind, das heilige Buch einer Religion anders als wörtlich und beliebig fragmentierend zu benutzen. Das heißt im Rückschluss, dass sie auch die heilige Schrift ihrer eigenen Religion so auffassen. Dabei ist es nicht mal nötig, eine größere Affinität zur Kirche zu haben. Die Gefahr dabei ist, dass wir uns darauf gefasst machen müssen, dass der Konflikt durch sich gegenseitig an den Kopf geworfene Bibel- und Koranzitate befeuert wird, was ja auch schon durch die sogenannten „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ angedeutet ist.

Für Theologen oder den an Bibelforschung interessierten Leser dürfte der folgende Text keine neuen Erkenntnisse bieten. Er eignet sich wohl eher als Versuch, den theologischen Laien an das Thema heranzuführen. Dabei sei das Wort „Versuch“ betont. Es handelt sich hier um meine Sicht der Dinge, die ich in kurzer Zeit ohne viele Quellen heranzuziehen abgefasst habe. Es ist gut möglich, dass ich einige Aspekte im Nachhinein anders gewichten würde. Im Großen und Ganzen dürfte die Hauptaussage jedoch klar sein.1

Altes Testament:

Das AT ist eine Sammlung von Büchern verschiedenster Gattungen und Quellen. Es finden sich sowohl originäre Werke als auch Mythen, die man aus anderen Kulturen übernommen hat (etwa die Sintflut-Erzählung) bzw. solcher, die schon lange vor der letztendlichen Niederschrift im religiösen und/oder kultischen Bereich „Israels“ vorhanden waren (Befreiung aus der Knechtschaft).

Wir wissen auch, dass die Texte in den meisten Fällen nicht in ihrer jetzigen Form komponiert wurden, sondern dass sie über die Jahrhunderte wuchsen, fortgeschrieben, möglicherweise (aber das ist schlecht zu zeigen, ohne entsprechende Quellen wohl unmöglich) auch verkürzt wurden. Aller-, aller-, allerspätestens seit der Auswertung der Qumran-Rollen (1. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr.) kann es als bewiesen gelten, dass die Fortschreibung von Texten praktiziert wurde; man kann es aber auch schon im Vergleich von Hebräischer Bibel und LXX (Septuaginta) sehen.

Die Geschichten sind natürlich nicht als historische Berichte oder historisch detaillierte Rückblenden auf Ereignisse zu sehen (dies ist übrigens ebenfalls im Christentum keine Idee der Moderne, sondern ist auch schon innerhalb der frühen Kirche zu finden). Das zeigt auch ein Blick auf die Kohärenz der Texte. So werden nicht nur dieselben Ereignisse auf unterschiedliche Weisen berichtet, es kommen auch schlicht totale Widersprüche in ihnen vor.

Die ersten etwas festeren historischen Inhalte finden wir in den Samuel- und Königebüchern. Dort scheint es sich so zu verhalten, dass man Notizen aus Staatschroniken (jeweils für Israel und Juda – in der Form von „Im soundsovielten Jahr des Königs von Israel/Juda wurde xx König über Juda/Israel, regierte soundso lange und tat, was dem Herrn gefiel/missfiel“) in einigen Fällen mit vorgegebenem inhaltlichen Stoff aufgefüllt hat, der auf Legenden beruht. Diese Legenden können natürlich auch stets historische Erinnerungen beinhaltet haben.

Die Tora aber ist ein Konstrukt verschiedener Überlieferungen; was nicht bedeutet, dass diese nicht auch auf gewissen historischen Begebenheiten beruhen. Diesen Punkt möchte ich hier jetzt allerdings nicht vertiefen. Es gibt aber schöne Bücher zu dem Thema, wie überhaupt zu einer ersten Beschäftigung mit den Schriften des AT.2

Die Frage ist dann wohl, was einem diese Texte denn geben, wenn sie historisch in den meisten Fällen nicht haltbar zu sein scheinen. Nun, es handelt sich bei der Hebräischen Bibel („unser“ AT) natürlich um Texte, die nicht zusammengestellt wurden, um eine Geschichtschronik wie wir sie heute verstehen vorliegen zu haben, sondern um Glaubenstexte, deren Hauptaufgabe es ist, den Glauben der Autoren und das als von den Glaubensgemeinschaften empfundene Verhältnis von Gott zu seinem Volk Israel wiederzugeben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es ist mit dem Göttlichen/Ausserweltlichen so, dass es übermenschlich ist. (Folgende Gedanken finden sich übrigens auch in Schleiermachers Glaubenslehre3): Als Menschen haben wir nicht die Möglichkeit, das Göttliche seiner Fülle nach in Worten wiederzugeben. Anders gesagt: wir können das Unfassbare nicht (in Worte) fassen. Daher kann jede Rede über Gott nur in bildhaften, symbolischen Äußerungen stattfinden, die natürlich darauf basiert – da man in einem kulturellen Zusammenhang lebt -, dass jeder diese Bilder auch in dem Sinne versteht, wie sie gemeint sind (in der orientalischen Kultur haben einige Bilder eine andere Bedeutung, als sie in der europäischen Kultur haben etc.).

Gott selber müssen wir in Anthropomorphismen darstellen, weil unserem Vorstellungsvermögen Grenzen gesetzt sind. Ich denke, es ist den meisten klar, dass es sich bei Gott nicht um einen alten Mann mit langem Bart, der wortwörtlich oben im Himmel sitzt, handelt. Aber so eine Vorstellung kann durchaus Ausdruck des Glaubens etwa an eine über einen wachende Kraft sein.

Die Stories sollen also den Glauben ausdrücken, nicht historische Tatsachen, auch wenn natürlich oft historische Ereignisse als Ausgangslage benutzt wurden.

Was z.B. den Bericht des Sündenfalls angeht, ist dies auch in der Bibel nicht als Tatsachenbericht dargestellt (es gibt in der Bibel zwei Schöpfungsberichte), denn niemand war dabei, der das alles mit angesehen hat und anschließend niederschrieb. An Adam und Eva und den Garten Eden sollte man nicht zu viele Gedanken verschwenden. Gerade mit dem Wissen, das wir heute haben, dürfte es extrem schwer sein, auch nur festzustellen, wen oder was man als ersten Menschen bezeichnen kann und was noch Affe (oder gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Affen) anzusehen ist. Es gibt selbstverständlich unterschiedliche Auslegungen, was dieser Mythos denn in der Bibel aussagen soll. Ich denke, eindeutig, ist dass damit das gestörte Verhältnis zwischen Gott und Mensch (biblisch gesprochen: die Sünde) erklärt werden soll. Was sie ist und wie sie in die Welt gekommen ist, wissen wir nicht. Aber sie ist da und sie ist das (hier jetzt wieder mit Schleiermacher gesprochen) was Gott nicht will.

1 Es gilt auch zu berücksichtigen, dass ich aufgrund des Zeit- und Platzmangels auf näher gehende Kommentare und Überlegungen zu ganzen Blöcken von Büchern und Gattungen (wie z.B. den prophetischen Schriften) verzichten musste, wodurch der Charakter des Textes als grober Einstieg für den Laien wohl noch hervorgehoben wird; als nichts weiter können die nun folgenden Worte angesehen werden.

2 Genannt sei hier nur: Gertz, J. Chr. (Hg.), Grundinformation Altes Testament, UTB 2745, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 32009.

3 Schäfer, R. (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Erster und zweiter Band, De Gruyter, Berlin 2008.

 

Fortsetzung folgt…

Leif Rocker ist Student der evangelischen Theologie und steht kurz vor der Examensvorbereitung. Er ist studentische Hilfskraft beim Qumran-Wörterbuchprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

 

Seelenspiegel oder Wetzstein?

Bemerkungen zu Begriff und Funktion des Kanonsi

von Tobias Jammerthal

Notger Slenczkas Infragestellung der Kanonizität des Alten Testaments hat in der ersten Hälfte des Jahres 2015 für einigen Wirbel gesorgt.ii Im Folgenden soll untersucht werden, welchen Kanonbegriff Slenczka verwendet und inwieweit dieser Kanonbegriff tragfähig ist.

1 Notger Slenczkas Kanonbegriff

In Slenczkas Vortrag vor dem Theologischen Arbeitskreis Pfullingen aus dem Jahre 2013iii findet sich keine explizite Definition des Kanonbegriffs. Allerdings referiert Slenczka zustimmend die entsprechenden Ausführungen Friedrich Schleiermachers und vor allem Adolf von Harnacks. Demnach ist eine Schrift kanonisch in dem Maße, in welchem sich das christlich-fromme Bewusstsein in ihr zu finden vermag. Da dies für die alttestamentlichen Texte nicht oder höchstens stark selektiv der Fall sei, könne man dem Alten Testament im Anschluss an Harnack höchstens apokryphale Stellung zubilligen.

Im Februar 2015 trug Slenczka in Bad Boll erneut zum gleichen Thema vor. Dabei wollte er das 2013 Ausgeführte nicht wiederholen, sondern erläutern und präzisieren. Gleich eingangs nennt Slenczka als „erste[n] Sinn der Kanonizität von Schriften: Sie sind Kanon – Richtschnur, lateinisch norma – für die Lehre und für das Leben der Kirche“.iv Einen zweiten Sinn wird man vergeblich suchen, stattdessen konzentriert sich der Systematiker auf die Begründung dieser Autorität. Er benennt mit der Apostolizität das klassische formale altkirchliche Kriterium für die Kanonisierung der Evangelien und Episteln des Neuen Testaments und gibt sodann als inhaltliches Kriterium an: „Kanonisch sind Schriften, weil die Kirche in ihnen das Evangelium von Jesus Christus hört und dieses Evangelium durch diese Schriften lebensverändernd wirkt.“v Dieses spitzt Slenczka im Folgenden auf das inhaltliche Kriterium zu, ob eine Schrift Christus verkündige. Dies sei im alttestamentlichen Schrifttum historisch nicht der Fall; eine rezeptionsästhetische Aufnahme aber durch den christlich-jüdischen Dialog verunmöglicht.

Das inhaltliche Kriterium der Christusverkündigung indes erfährt in Slenczkas Vortrag eine vielsagende weitere Präzisierung: auf einem Umweg über Martin Luthers 1525 verfasste Schrift „Ein Unterricht, wie sich die Christen in Mose schicken sollen“ erklärt er, dass „[n]ur das im AT, was uns im Gewissen berührt und was uns als allgemeine Verbindlichkeit, als Naturgesetz einleuchtet, […] auch wirklich verbindlich für uns“ sei.vi Nach Slenczka geht der Lektüre der biblischen Bücher bereits eine „vorchristliche Gotteserfahrung“vii voraus, die sich in der Begegnung mit dem Christuszeugnis dieser Literatur neu bestimmt. Diese vorchristliche Gotteserfahrung sei für die Urgemeinde im Alten Testament ausgedrückt – für den heutigen Menschen indes nicht mehr.

Damit hat Slenczka das religiöse Selbstbewusstsein zur maßgeblichen Instanz in Sachen Kanon erhoben: kanonisch ist, was Christum treibet. Was aber Christum treibet, entscheidet das „fromme christliche Bewusstsein“. Letztlich macht Slenczka also das (postulierte) gegenwärtige Unverständnis alttestamentlicher Texte zum Kriterium dafür, dass ihnen keine Verbindlichkeit mehr zukomme, mit anderen Worten: dass sie nicht kanonisch sein könnten. Denn kanonisch, also verpflichtend, könne doch nur sein, was mir jetzt und heute einleuchtet.

2 Der Kanonbegriff im aktuellen allgemein-geisteswissenschaftlichen und theologischen Diskurs

In allgemein-geisteswissenschaftlicher Perspektive sind hierzu vor allem die in souveränem Gespräch mit der relevanten Literatur entwickelten Überlegungen Jan Assmanns von Bedeutung. Nach Assman gehört es konstitutiv zum Wesen eines Kanons, dass er als bleibendes Gegenüber zur sich stets verändernden Gegenwart existiert und deswegen in die aktuelle Situation hinein ausgelegt werden muss: „Ein kanonischer Text […] verkörpert die normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft, die ‚Wahrheit‘. Diese Texte wollen beherzigt, befolgt und in gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden. Dafür bedarf es weniger der Rezitation als der Deutung.“viii Die Auslegung gehört nach Assmann zentral in die sinnstiftende Beziehung von kanonischem Text und Rezipient, weil die Distanz zwischen kanonischem Text und wandelbarer Wirklichkeit nur so fruchtbar werde: „Die normativen und formativen Impulse des kulturellen Gedächtnisses können nur durch unausgesetzte, immer erneuerte Textauslegung der identitätsstiftenden Überlieferung gewonnen werden.“ix Der auszulegende Text steht aber nicht im individuellen Belieben des Auslegers – er muss schon den Text auslegen, der kanonisch ist, und zu dessen Wesen ja gerade diese Dualität gehört, dass er aufgrund seines die Zeiten überdauernden Charakters fremd wirkt und doch identitätsstiftend, sinnstiftend und handlungsleitend ist.

Auch Ulrich Körtner konstatiert, dass ein gewisses Maß an Fremdartigkeit zum kanonischen Text gehöre. Er entwickelte unlängst in intensivem Gespräch mit der theologischen und außertheologischen Hermeneutik sein Modell einer „Hermeneutik der Transzendenz und des Unverständnisses“. Ihm zufolge ist die Fremdheitserfahrung beim erstmaligen Lesen oder Hören biblischer Texte theologisch als Folge der sündhaften conditio humana zu verstehen: „Theologische Hermeneutik hat nicht nur unter den Bedingungen unserer Gegenwart und ihrer Gottesvergessenheit, sondern grundsätzlich davon auszugehen, dass das Lebensverhältnis des Menschen zum biblischen Evangelium grundlegend gestört ist.“x Beispielhaft zeigt sich dies in der skeptischen Frage der Schlange in Gen 3: „Sollte Gott gesagt haben…?“xi Insofern erscheint der in den biblischen Texten bezeugte Gott den sündigen Menschen als der Ganz Andere, weswegen Körtner die Rede vom biblischen Text als einem „fremden Gast“xii positiv aufgreift. Der grundlegenden Fremdheit biblischer Texte gegenüber sich regende Abwehrstrategien sagen so nach Körtner mehr über den Rezipienten als über das zu Rezipierende aus, das „doch der Welt eine Torheit und ein Skandalon ist und bleibt.“xiii Auch sich spontan regende theologische Sachkritik tue gut daran, sich nicht über die Schrift, sondern unter das Wort zu stellen, da sie sich bei näherem Hinsehen „bisweilen als zeitgeistig“xiv erweise, wie Körtner mit Blick auf die Diskussion um die Deutung des Todes Jesu attestiert. Mit Jürgen Habermas macht der Wiener Systematiker energisch deutlich, dass zu einem hermeneutischen Bewusstsein auch „die Reflexion der Grenze des hermeneutischen Verstehens“xv gehöre. Eine Hermeneutik, die ihre eigene Vorläufigkeit und Fragmenthaftigkeit ausblende, erhebe unter der Hand den totalen Sinndeutungsanspruch der vorkritischen Metaphysik.

Wenn also Slenczka das Fremdeln (seines?) religiösen Bewusstseins als ausschlaggebenden Grund gegen die Kanonizität des Alten Testaments ins Feld führt, macht er, im Lichte des aktuellen Kanon-Diskurses besehen, den Bock zum Gärtner: die Fremdheit gehört zum kanonischen Charakter eines Textes und spricht nicht gegen ihn. Um es pointiert auszudrücken: Nach gegenwärtigem Diskussionsstand ist der Kanon nicht das ‚Spieglein an der Wand‘ der frommen Seele.

3 Wetzstein oder Seelenspiegel?

Was aber ist der Kanon dann? Die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche verstehen die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments als „Regel und Richtschnur“, als „Probierstein“ für Lehre und Leben der Kirche.xvi Damit ist der Kanon vor allem funktional bestimmt: Er dient gewissermaßen als Lackmustest für Leben und Lehre der Kirche – ob etwas christlich ist, entscheidet eben nicht das gegenwärtig herrschende fromme Bewusstsein,xvii sondern der christliche Charakter einer Aussage entscheidet sich daran, ob sie im Kontext des Kanons plausibel gemacht werden kann. Just das ist auch der Sinn des reformatorischen Schriftprinzips, das nicht die Konstitution des biblischen Kanons beschreibt, wie Slenczka suggeriert,xviii sondern dessen Anwendung. Im Sinne der lutherischen Bekenntnisschriften ist der Kanon also der frommen Seele wohl gegenübergestellt – aber nicht als Spiegel ihres schon längst vorhandenen religiösen Bewusstseins, sondern als der „reine[], lauter[e] Brunnen Israelis, […] nach [welchem] alle Lehrer und Lehre zu richten und zu urteilen“ ist,xix also als orientierendes und darum bestimmendes Gegenüber.

Dieses Gegenüber erschöpft sich aber nicht darin, Kontrollinstanz zu sein: Die Brunnen-Metapher (der lateinische Text spricht noch offensichtlicher von einer Quelle, fons) weist vielmehr auf den sinn-stiftenden Charakter der kanonischen Texte. Dazu passt, dass der Kanon nach Assmann auf die Frage antwortet „Wonach sollen wir uns richten?“xx Durch die Trennung „zwischen A und Nicht-A“, die Assmann als „die erste und entscheidende Orientierungsleistung“ des Kanons beschreibt,xxi eröffnet der Kanon einen Deutungsraum, innerhalb dessen sich dann durchaus Pluralität einstellen mag – der Bezug auf den Kanon ist es, durch den in diesem wahrscheinlichen Falle die Gemeinsamkeit der Positionen deutlich wird. Ausdruck dieser legitimen Pluralität im Deutungssystem des Christentums ist, wie Körtner zu Recht bemerkt, dass Umfang und Anordnung des alttestamentlichen Teils des christlichen Kanons unter den Konfessionen variieren:xxii das Luthertum bietet den Text des hebräischen Kanons in der heilsgeschichtlichen Anordnung der griechischen Septuaginta, der römische Katholizismus hat sich in Trient entschieden, den in der Vulgata übernommenen Umfang der Septuaginta in der dort vorfindlichen Anordnung zu verwenden. Dass aber die im Hebräischen vorliegenden alttestamentlichen Schriften Teil des biblischen Kanons seien, ist unumstritten – mit zwei theologiegeschichtlich bedeutsamen Ausnahmen. Markion und seine Nachfolger sehen im Alten Testament einen fremden Gott bezeugt – und der Neuprotestantismus findet sein religiöses Gefühl durch die im Alten Testament schonungslos realistisch gebotene Schilderung menschlicher Abgründe und bisweilen gar nicht so zarten göttlichen Handelns verletzt.

Es ist Slenczka also Recht zu geben: die Funktion kanonischer Schriften besteht darin, „Kanon – Richtschnur, lateinisch norma – für die Lehre und für das Leben der Kirche“xxiii zu sein. Es ist ihm aber um der Sache willen energisch zu widersprechen, wenn er meint, als inhaltliches Kriterium von Kanonizität das Einverständnis der frommen Seele aufstellen zu müssen: im Kosmos der romantisch beeinflussten Berliner Theologie des 19. Jahrhunderts mag die Autorität eines religiösen Gefühl als ‚Probierstein des Probiersteins‘ plausibel sein – im Nachhinein betrachtet und durch den Kanondiskurs des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts informiert, ist diese Plausibilität nicht gegeben. Gerade durch seinen Abstand zu unserer Alltagswelt vermag das alttestamentliche (wie übrigens auch das neutestamentliche) Schrifttum seiner Funktion als Wetzstein für Leben und Lehre der Kirche zu walten. Ein jeder Versuch, das alttestamentliche Schrifttum zu entkanonisieren, weil sich das religiöse Bewusstsein nicht mehr in ihm finden könne, ist daher mit Ulrich Körtner zu charakterisieren: „Statt sich den Mühen der Interpretation des Anstößigen und Fremden zu unterziehen, geht man lieber den Weg der Eliminierung, mit der Folge von Traditionsabbruch, Selbstsäkularisierung und Trivialisierung der Verkündigung.“xxiv

Tobias Jammerthal MA hat in Neuendettelsau, Tübingen, Jerusalem, Durham (UK) und Heidelberg Evangelische Theologie studiert. Seit 2015 arbeitet er in Tübingen an einer kirchenhistorischen Dissertation.

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Endnoten

i Gekürzte Fassung eines in Textes, der im ichthys 1/2016 erscheinen wird.

ii Die wichtigsten Texte in diesem Zusammenhang sind gesammelt in: „Niemand will das Buch zerschneiden“. Texte aus der Debatte um die Thesen von Prof. Slenczka zum Alten Testament (epd-Dokumentation 23/2015).

iii Abgedruckt unter dem Titel „Die Kirche und das Alte Testament“ in: Gräb-Schmidt, Elisabeth (Hg.), Das Alte Testament und die Theologie (Marburger Jahrbuch für Theologie 25), 2013, 83-119.

iv Slenczka, Notger, Was soll die These: ‚Das AT hat in der Kirche keine kanonische Geltung mehr?‘, Vortrag in der Evangelischen Akademie Bad Boll, abgedruckt in: „Niemand will das Buch zerschneiden“. Texte aus der Debatte um die Thesen von Prof. Slenczka zum Alten Testament (epd-Dokumentation 23/2015), 5-14, hier: 6. (im Folgenden: Slenczka, Was soll die These).

v Slenczka, Was soll die These, 6.

vi Slenczka, Was soll die These, 12. Dieser methodisch häufig anzutreffende Vorgang wird zurecht problemastisiert von Gehring, Hans-Ulrich, Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. Rezeption in Martin Luthers Predigt und bei Hans Robert Jauß, Neukirchen-Vluyn 1999, 159: „Die Abständigkeit zwischen spätmittelalterlicher Theologie und moderner Literaturtheorie kann nicht überspielt werden […]. Eine Übersetzung beider Ansätze ineinander wird nur möglich sein als produktive Rezeption, die gegenüber beidem Neues bildet.“

vii Slenczka, Was soll die These, 13.

viii Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013, 94/95. (im Folgenden zitiert als: Assmann, Gedächtnis)

ix Assmann, Gedächtnis, 96.

x Körtner, Ulrich H. J., Arbeit am Kanon, Leipzig 2014, 241/242. (im Folgenden zitiert als: Körtner, Kanon)

xi Vgl. Körtner, Kanon, 243.

xii Körtner, Kanon, 133-136, mit Bezug auf Weder, Hans, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986 .

xiii Körtner, Kanon, 134.

xiv Körtner, Kanon, 134.

xv Körtner, Kanon, 216. Vgl. Habermas, Jürgen, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: ders. u.a. (Hg.), Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971, 120-159.

xvi Formula Concordiae: Epitome, BSLK 767, 14-19; 769, 19-27 = BSELK 1216, 9-14; 1218, 11-16 sowie die Solida Declaratio der Konkordienformel, BSLK 834,16-22 = BSELK 1310, 6-9.

xvii Und wessen Bewusstsein wäre das auch? Das jedes beliebigen Einzelnen? Die unfehlbare notio fidei, die der römische Katholizismus der Kirche in Gestalt ihres durch den Papst vertretenen Kollegiums der Bischöfe zuschreibt?

xviii Vgl. etwa Slenczka, Was soll die These, 8.

xix Formula Concordiae: Solida Declaratio BSLK 834, 16-22 = BSELK 1310, 6-9. Lateinisch ist die Rede von den limpidissimos purissimosque Israelis fontes (BSELK, 1311, 7).

xx Assmann, Gedächtnis, 123.

xxi Beides Assmann, Gedächtnis, 124.

xxii Vgl. Körtner, Kanon, 17-38.

xxiii Slenczka, Was soll die These, 6.

xxiv Körtner, Kanon, 135.