Applaus von der falschen Seite und die EKD in der Flüchtlingsdebatte – Neuere Beiträge von Johannes Fischer

von Niklas Schleicher

Johannes Fischer, der emeritierte Zürcher Sozialethiker, ist durchaus dafür bekannt, pointiert und die richtigen Fragen stellend mit moralischen Positionen der EKD und ihrer Vertreter ins Gericht zu gehen. Besonders eindrücklich und, jedenfalls für mich, nachhaltig beeindruckend war die Auseinandersetzung, die er mit Kathrin Göring-Eckardt, der damaligen Präses der EKD-Synode, über die Fragen der Präimplantationsdiagnostik geführt hat. Die Argumente dieser Debatte, die an dieser Stelle nicht neu aufzurollen ist, lassen sich wie folgt umreißen: Göring-Eckardt führte das christliche Menschenbild an, um die unhintergehbare Würde des Einzelnen grundzulegen. Fischer widersprach mit dem Verweis darauf, dass dieses christliche Menschenbild in dieser Zuspitzung selbst zum Götzen wird und es einer Abwägung der jeweiligen Situation bedarf. Ohne die Argumente bewerten zu wollen, war es hier doch irgendwie für die breite Mehrheit innerhalb der Kirche gut möglich, einer der beiden Seiten zuzustimmen. Freilich, die EKD tendierte zur Position Göring-Eckardts und immer noch wird Fischers Position in medizinethischen Debatten als eine exzentrische wahrgenommen – mich jedenfalls überzeugen seine Argumente nach wie vor.

Nun meldet sich Fischer in neuen Publikationen1 zu einem ganz anderen Thema zu Wort, nämlich – mehr oder weniger – zur Flüchtlingsfrage. Hier ist Zustimmung, jedenfalls auf den ersten Blick, weniger leicht. Es scheint so, als kritisiere er prinzipiell den Einsatz der EKD für die Flüchtlinge und ihre Zustimmung zur Politik der Kanzlerin, auf Obergrenzen zu verzichten. In dieser Zuspitzung fällt es mir schwer, der Argumentation Fischers etwas abzugewinnen – konsequenterweise, wie es scheint, bekommt er Applaus von der Seite des protestantischen Christentums, die die Positionen der AFD offen oder verdeckt teilt2.

Ich möchte im Folgenden zwei Gedanken skizzieren, nämlich erstens, dass Fischers Kritik im Prinzip zuzustimmen ist, und dass sich zweitens die AFD-Sympathisanten innerhalb des Protestantismus zu Unrecht auf ihn berufen, da seine Kritik sie selbst in gleichem Maße trifft.

Der erste Punkt erfordert eine etwas differenziertere Darstellung von Fischers Position. Besonders konzentriert findet diese sich in einem Leserbrief in der FAZ, der allerdings insofern schwer zu durchdringen ist, als dass gewisse Punkte des Fischer‘schen Denkens vorausgesetzt werden, die daher hier ebenfalls kurz zu erklären sind. In diesem Leserbrief stellt sich Fischer der Frage, ob „alle Notleidenden unsere Nächsten“ sind und kommt zu der Einschätzung, dass dies so nicht postuliert werden kann. Damit aber gehe eine gewisse Art der moralischen Argumentation fehl, wie sie gerade auch in EKD-Publikationen vorfindbar ist, eine Argumentation nämlich, die Nächstenliebe zu einem moralischen Gebot, zu einer moralischen Regel macht.

Es ist hier m.E. wichtig, festzuhalten, dass Fischers Kritik nicht daraus entspringt, dass für ihn „Nächstenliebe“ ein schlechtes Modell für eine moralische Orientierung wäre, sondern dass für Fischer der Gedanke daran verfehlt ist, dass sich Ethik prinzipiell als Regelethik konstituiert,. Dies wird auch daran deutlich, dass Nächstenliebe im ethischen Werk von Johannes Fischer eine entscheidende Bedeutung hat. Allerdings ist sie eben nicht als eine Regel zu verstehen, an die sich der Einzelne qua seiner moralischen Pflicht zu halten hat, sondern als ein Modus, in dem der Nächste wahrgenommen wird und in dem ich mich zu ihm zu verhalten habe. Damit ist Nächstenliebe etwas, das in engem Bezug zu konkreten Situationen steht und immer eine Art des jeweiligen Verhaltens darstellt.

Dieses Verhalten zu fordern und es zu einer allgemeinen Regel zu machen, unterläuft diese Art des Wahrnehmens insofern, als dass es dann eben nicht mehr um den konkreten Nächsten geht, dem ich helfe, sondern der Nächste quasi nur das Mittel ist, durch das ich diese moralische Regel befolgen kann. Neben einer Überführung der protestantischen Ethik in eine neue Gesetzlichkeit3 begeht eine solche Ethik den Fehler, die Bedeutung von emotionaler und intuitiver Wahrnehmung des Anderen für ein Verhalten zu negieren. Eine solche Ethik abstrahiert von der Begegnung mit dem Nächsten, um den es ihr eigentlich gehen sollte.

Außerdem begeht diese Regel der Nächstenliebe, die vorschreibt, dass der Nächste prinzipiell jeder ist und man jedem aus Prinzip gleich begegnen muss, einen weiteren folgenschweren Fehler: Sie erweitert den Bereich der eigenen Verantwortung ins Grenzenlose. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine gesteigerte Form der eigenen Verantwortung, sondern bewirkt das Gegenteil: Eine ins grenzenlos gesteigerte Verantwortung ist deshalb insuffizient, da sie die Möglichkeiten des Einzelnen faktisch negiert und so Verantwortung in konkreten Situationen gerade erschwert – oder gar verunmöglicht4.

So ist m.E. die Kritik Fischers an der Position zu verstehen, dass die Nächstenliebe eine moralische Regel zu sein habe, an der sich der Einzelne um dieser Regel willen zu halten habe.

Wenn nun allerdings – und hier komme ich zum zweiten Gedanken dieses Textes – die Position Fischers so verstanden wird, als müsse man der EKD ein anderes Prinzip moralischer Orientierung entgegensetzen, ist dies falsch. Nächstenliebe ist im christlichen Sinne für ethisches Verhalten von höchster Bedeutung nur eben nicht als Regel, sondern als Art, den Anderen zu sehen. So ist Fischers Kritik gegen die Vorstellung gerichtet, dass es Aufgabe (christlicher) Ethik sei, Regeln aufzustellen, an die sich der moralische Mensch, wenn er denn Christ sein will, gefälligst halten soll. Diesen Hinweis finde ich immer noch sehr einleuchtend, trifft er doch in hohem Maße auch genau die Personen, die jetzt der Position Fischers zustimmen.

Gerade die vermeintlichen Gralshüter eines konservativen Protestantismus sind ja nicht eben zurückhaltend, wenn es darum geht, ihre ethischen Urteile aufgrund scheinbar fester Normen und Regeln zu fällen, die sie oft einem mehr oder weniger willkürlich zusammengestellten Potpourri entkontextualisierter biblischer Sätze entnommen haben. Auch z.B. die Erhebung des Prinzips der Volksabstimmung in den Bereich des absolut Richtigen – weil man sich nur so über die für alle am meisten überzeugende Art des richtigen Handelns überzeugen könne – fällt unter das Verdikt Fischers, dass die Regel, aufgrund derer eine Handlung vollzogen wird, noch lange nichts über die Motivation zu diesem Handeln aussagt.

Wer also Fischer in diesem Gedanken folgt, sollte nicht den Fehler begehen, zu meinen, es ginge darum, das Prinzip christlicher Nächstenliebe gegen andere Prinzipien in Abwägung zu bringen. Vielmehr geht es darum, dass ethisches Denken falsch läuft, wenn es sich im Aufstellen von ethischen Prinzipien erschöpft.

Zwei Konsequenzen, die man aus dieser Position ziehen könnte, sind nun erstens, dass damit jede ethische Orientierung dem Einzelnen anheimgestellt bleiben muss, und zweitens, dass damit Kirche in ethischen Fragen eher nichts beizutragen hat.

Die erste Konsequenz ist richtig, gilt aber jedoch freilich für jede Art von Ethik. Auch, ob ich einem Prinzip folge, entscheide ich im besten Fall dadurch, dass ich mich von Argumenten überzeugen lasse. Empirisch lässt sich das wohl auch mit dem einfachen Hinweis auf die diversen unterschiedlichen Zugänge zur (normativen) Ethik belegen, für die alle Gründe sprechen, aus denen man aus unterschiedlichen Motivationen zustimmen kann.

Zur zweiten Konsequenz vielleicht so viel: Wenn ethische Orientierung vor allem in einem bestimmten Wahrnehmen eines Menschen besteht, ist darauf Wert zu legen, dieses Wahrnehmen zu schärfen. In diesem Bereich besteht eine enge Beziehung zwischen Ethik und „Spiritualität“. Fischer verweist n seinem „Grundkurs Ethik“ in Rückgriff auf Fulbert Steffensky selbst auf diese Beziehung:

„Geformte Aufmerksamkeit meint demgegenüber: die Dinge unter einer bestimmten Wahrnehmung auffassen, wie Steffensky mit der Frage zum Ausdruck bringt, wie wir die Schmerzen der Menschen lesen und wie wir uns davon berühren lassen. Christliche Spiritualität hat es mit der Einübung in eine solch bestimmte Wahrnehmung zu tun.“5

Die Ressourcen, die der christlichen Kirche für eine solche Einübung ethischer Wahrnehmung zur Verfügung stehen, sind vielfältig und reichen von biblischen Geschichten und der Auslegung in der Predigt über die Fürbitte bis zu verschiedenen Gottesdienstformen.

In seinem Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ weist der amerikanische Philosoph Richard Rorty auf die Bedeutung von Geschichten, von Narrativen für unsere ethische Wahrnehmung hin:

„[Solidarität] wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, und nicht vertrauter Arten von Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen an den Rand unseres Bewusstseins zu drängen“6.

Hierin könnte die ethische „Aufgabe“ der Kirche liegen: Unter Rückgriff auf Erzählungen und Narrative den Blick des Einzelnen dafür schärfen, wer der Nächste ist und was es bedeutet, diesem im Geist der Liebe zu begegnen.

1 Dankenswerterweise veröffentlicht Fischer die Beiträge, die in unterschiedlichen Zeitschriften und Zeitungen (FAZ, Zeitzeichen, Evangelische Theologie) erschienen sind, auf seiner privaten Homepage: http://www.profjohannesfischer.de/ .

2 Vgl. zum Beispiel die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „CA – Confessio Augustana: Das Lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur“.

3 Hierzu ist der Aufsatz von Elisabeth Anscombe: Die Moralphilosophie der Moderne (zu finden in G.E.M. Anscombe: Aufsätze, Frankfurt 2014) immer noch entscheidend.

4 Vgl. dafür auch den Ansatz von Körtner: Evangelische Sozialethik, Göttingen 32012, S. 92-124.

5 Johannes Fischer u.a.: Grundkurs Ethik, Stuttgart 22008 S. 365.

6 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1992, S. 16.

Böhmermann und ein Versuch über die Gültigkeit unserer Werte

von Niklas Schleicher

Werte, so schreibt ein Teil der deutschen Werteethik des späten 19. Jahrhunderts, sind nicht, sie existieren nicht einfach. Damit ist nicht gemeint, dass Werte nichts Verbindliches haben, ganz im Gegenteil. Werte gelten, oder besser: sollen gelten. Sie sollen etwas sein, an dem sich der Einzelne oder eben auch die Gesellschaft ausrichten muss bzw. kann. Denn Werte können nicht schon aus sich heraus dafür sorgen, dass man sich an ihnen orientiert. Sie bestimmen Ziele oder, Grundsätze, aber formulieren damit vor allem einen Anspruch.. Dieser Anspruch ist teleologisch: Etwas, das verwirklicht werden soll. Nur wenn Werte gelebt werden, kann man auch sehen, was ein solcher Wert ist. Gleichzeitig sind diese Werte etwas, dass gewissermaßen gesellschaftliches Zusammenleben erst ermöglicht, indem sie fundieren und normieren sollen.

So ähnlich ist doch wahrscheinlich auch unser Grundgesetz zu verstehen, wo es über die Sphäre des Rechts hinausweist. Denn wie lässt sich Würde des Menschen anders erklären, als zu beschreiben, was für ein Leben menschenwürdig oder menschenunwürdig ist? Oder, noch genauer auf die Werte-Frage bezogen: Wie kann Gleichheit oder Freiheit in der Persönlichkeitsentfaltung verstanden werden, wenn einem nicht anhand gelebter Beispiele die Attraktivität und Bedeutung des Wertes der Freiheit einleuchtet?

Werte müssen gelebt, und das bedeutet eben auch: sie müssen oft gegen Widerstände verteidigt werden. Solche Verteidigung wird immer damit begründet, dass ohne diese Werte, ohne die Möglichkeit von Freiheit, Gleichheit und so weiter die Fundamente unseres Zusammenlebens gefährdet sind, dass eine freiheitliche Demokratie eben gewisse unveräußerliche Rechte voraussetzten muss, auch wenn Sie für andere Personen oder Gruppen, siehe PEGIDA, als belastend empfunden werden.

Wenn man insgesamt etwas mit dem Reden von den westlichen Werten anfangen will, dann doch wahrscheinlich in dieser Zuspitzung: Es gibt gewisse geltende Wertvorstellung, wie die Freiheit in der Meinungsäußerung, in der Persönlichkeitsentfaltung, oder der gleichen Wertigkeit aller Menschen, die für unser gesellschaftliches Zusammenleben unaufgebbar sind, weil sie unsere freiheitliche Demokratie fundieren. Wenn jetzt irgendjemand von Flüchtlingen die Anerkennung solcher fordert, dann meint er doch damit ziemlich genau, dass diese nur so Teil unserer Gesellschaft, die eben auch eine Wertegemeinschaft ist, werden kann. Soweit so gut.

Wenn nun z.B. in Paris Satiriker getötet werden ist dies natürlich erstmal eine Starftat. Diese strafrechtliche Relevanz mal außer Acht gelassen, wurde doch im Zusammenhang mit diesen Straftaten auf die Bedeutung unserer Werte und die Notwendigkeit der Verteidigung dieser hingewiesen. Denn das ist doch genau das Problem: Es gibt Menschen, für die die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung nichts gilt, die gewisse veröffentlichte Karikaturen nicht anders als als Angriff verstehen wollen. Aber dagegen standen damals alle hinter Charlie Hebdo und betonten, dass die Freiheit ein unverbrüchliches Gut sei und Satire auch an und über die Schmerzgrenzen gehen darf.

Und jetzt: Böhmermann. Ohne die Kettenrekation nachzuzeichnen, die er ausgelöst hat, bis zum aktuellen Stand, dass er unter Polizeischutz steht, ist doch hier der Fall anders. Kein geschlossenes Eintreten für die Freiheit von Satire kann hier beobachtet werden. Freilich, sein Schmähgedicht war beleidigend und freilich, nur weil man sich von etwas distanziert, das man zum Vortrag bringt, kann man damit nicht strafrechtliche Konsequenzen entgehen. Aber: Waren/Sind die Karikaturen, die Charlie Hebdo oder in Deutschland das Satiremagazin Titanic gegenüber verschiedenen Religionen veröffentlicht, weniger beleidigend. Auch hierfür gebe es einen Paragraphen, die strafrechtliche Konsequenzen ermöglicht (§166 StGB). Freilich, hat die katholische Kirche auch ein paar mal –erfolglos – gegen die Titanic geklagt. Jedoch: Distanzierte sich die Kanzlerin gegenüber des heiligen Stuhls jemals öffentlich von diesem Magazin?

Wieso also der Unterschied zwischen Böhmermann und Charlie Hebdo? Die Antwort erscheint genauso einfach wie bitter: Erdogan ist ein wichtige Partner für die „Bewältigung“ der Flüchtlingsfrage. Es ist also hier eine Abwägung zwischen politischen Interessen und der Geltung unsrer Werte vorgenommen worden, mit dem Ergebnis, dass freie Meinungsäußerung anscheinend eine Grenze auch darin hat, wo politische Ziele in Gefahr stehen. Man könnte für die Haltung der Bundesregierung nun ins Feld führen, dass hier im Interesse der flüchtenden Menschen eine Einschränkung gegen Böhmermann gemacht werden muss, weil nur gemeinsam mit der Türkei eine humane Lösung für die Flüchtlinge möglich ist.

Nur: Das ist doch wahrscheinlich eher blanker Hohn. Vielmehr verhindert ja gerade eine Abkommen mit der Türkei, dass der große Teil der geflüchteten Menschen west- und mitteleuropäische Standards erreichen können. Die Türkei ist doch vielmehr ein Puffer-Zone für die geflüchteten Menschen. Wir brauchen die Türkei, um uns der Illusion hingegeben zu können, dass Flüchtlingszahlen kurzfristig reduziert werden können. Menschen werden solange weiter auf der Flucht sein, bis die Umstände abgeschafft sind, die sie zu dieser zwingt. Nur, jetzt kommt eben ein großer Teil nur bis in die Türkei. Verteidigt werden damit allein deutsche Befindlichkeiten und nicht ein Wert, wie z.B. das Hochhalten einer unverbrüchlichen Würde aller Menschen, also auch der Geflüchteten.

Ob er es wollte oder nicht, ist kaum zu beurteilen. Aber Böhmermann zeigte durch sein Stück, wie ernst westliche Werte genommen werden, wenn es drauf ankommt und wenn es schwierig wird. Nämlich gar nicht. Ja, es ist offensichtlich: Satire kann nicht alles dürfen. Aber es ist auch offensichtlich: Werte können im Moment gar nichts.

Einführende Überlegungen zum Bibelverständnis Teil 1: AT

von Leif Rocker

Einleitung:

Die folgenden Zeilen sind durch eine Diskussion in einer der Theologie gewidmeten Facebook-Gruppe entstanden und wurden dort in unwesentlich anderer Form auch veröffentlicht.

Ausgehend von den Pariser Terroranschlägen vom 13.11.2015 und den bekannten Ressentiments gegen die Religion des Islam, wurden dort die immer gleichen Argumente genannt, um den Islam als Religion der Gewalt darzustellen. Islamfeindliche Gruppierungen wie „PEGIDA“ u.ä. sind bei solchen Diskussionen immer vorne mit dabei. Dass die genannten Argumente sich aber meist nur auf dieselben, aus dem Kontext herausgerissenen Suren beschränken, dafür aber auch bei vielen Teilen der Bevölkerung, denen man ein gewisses Maß an Reflexion zutrauen würde, Anklang finden, scheint meiner Meinung nach u.a. darauf hinzuweisen, dass eben diese Leute es nicht gewohnt sind, das heilige Buch einer Religion anders als wörtlich und beliebig fragmentierend zu benutzen. Das heißt im Rückschluss, dass sie auch die heilige Schrift ihrer eigenen Religion so auffassen. Dabei ist es nicht mal nötig, eine größere Affinität zur Kirche zu haben. Die Gefahr dabei ist, dass wir uns darauf gefasst machen müssen, dass der Konflikt durch sich gegenseitig an den Kopf geworfene Bibel- und Koranzitate befeuert wird, was ja auch schon durch die sogenannten „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ angedeutet ist.

Für Theologen oder den an Bibelforschung interessierten Leser dürfte der folgende Text keine neuen Erkenntnisse bieten. Er eignet sich wohl eher als Versuch, den theologischen Laien an das Thema heranzuführen. Dabei sei das Wort „Versuch“ betont. Es handelt sich hier um meine Sicht der Dinge, die ich in kurzer Zeit ohne viele Quellen heranzuziehen abgefasst habe. Es ist gut möglich, dass ich einige Aspekte im Nachhinein anders gewichten würde. Im Großen und Ganzen dürfte die Hauptaussage jedoch klar sein.1

Altes Testament:

Das AT ist eine Sammlung von Büchern verschiedenster Gattungen und Quellen. Es finden sich sowohl originäre Werke als auch Mythen, die man aus anderen Kulturen übernommen hat (etwa die Sintflut-Erzählung) bzw. solcher, die schon lange vor der letztendlichen Niederschrift im religiösen und/oder kultischen Bereich „Israels“ vorhanden waren (Befreiung aus der Knechtschaft).

Wir wissen auch, dass die Texte in den meisten Fällen nicht in ihrer jetzigen Form komponiert wurden, sondern dass sie über die Jahrhunderte wuchsen, fortgeschrieben, möglicherweise (aber das ist schlecht zu zeigen, ohne entsprechende Quellen wohl unmöglich) auch verkürzt wurden. Aller-, aller-, allerspätestens seit der Auswertung der Qumran-Rollen (1. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr.) kann es als bewiesen gelten, dass die Fortschreibung von Texten praktiziert wurde; man kann es aber auch schon im Vergleich von Hebräischer Bibel und LXX (Septuaginta) sehen.

Die Geschichten sind natürlich nicht als historische Berichte oder historisch detaillierte Rückblenden auf Ereignisse zu sehen (dies ist übrigens ebenfalls im Christentum keine Idee der Moderne, sondern ist auch schon innerhalb der frühen Kirche zu finden). Das zeigt auch ein Blick auf die Kohärenz der Texte. So werden nicht nur dieselben Ereignisse auf unterschiedliche Weisen berichtet, es kommen auch schlicht totale Widersprüche in ihnen vor.

Die ersten etwas festeren historischen Inhalte finden wir in den Samuel- und Königebüchern. Dort scheint es sich so zu verhalten, dass man Notizen aus Staatschroniken (jeweils für Israel und Juda – in der Form von „Im soundsovielten Jahr des Königs von Israel/Juda wurde xx König über Juda/Israel, regierte soundso lange und tat, was dem Herrn gefiel/missfiel“) in einigen Fällen mit vorgegebenem inhaltlichen Stoff aufgefüllt hat, der auf Legenden beruht. Diese Legenden können natürlich auch stets historische Erinnerungen beinhaltet haben.

Die Tora aber ist ein Konstrukt verschiedener Überlieferungen; was nicht bedeutet, dass diese nicht auch auf gewissen historischen Begebenheiten beruhen. Diesen Punkt möchte ich hier jetzt allerdings nicht vertiefen. Es gibt aber schöne Bücher zu dem Thema, wie überhaupt zu einer ersten Beschäftigung mit den Schriften des AT.2

Die Frage ist dann wohl, was einem diese Texte denn geben, wenn sie historisch in den meisten Fällen nicht haltbar zu sein scheinen. Nun, es handelt sich bei der Hebräischen Bibel („unser“ AT) natürlich um Texte, die nicht zusammengestellt wurden, um eine Geschichtschronik wie wir sie heute verstehen vorliegen zu haben, sondern um Glaubenstexte, deren Hauptaufgabe es ist, den Glauben der Autoren und das als von den Glaubensgemeinschaften empfundene Verhältnis von Gott zu seinem Volk Israel wiederzugeben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es ist mit dem Göttlichen/Ausserweltlichen so, dass es übermenschlich ist. (Folgende Gedanken finden sich übrigens auch in Schleiermachers Glaubenslehre3): Als Menschen haben wir nicht die Möglichkeit, das Göttliche seiner Fülle nach in Worten wiederzugeben. Anders gesagt: wir können das Unfassbare nicht (in Worte) fassen. Daher kann jede Rede über Gott nur in bildhaften, symbolischen Äußerungen stattfinden, die natürlich darauf basiert – da man in einem kulturellen Zusammenhang lebt -, dass jeder diese Bilder auch in dem Sinne versteht, wie sie gemeint sind (in der orientalischen Kultur haben einige Bilder eine andere Bedeutung, als sie in der europäischen Kultur haben etc.).

Gott selber müssen wir in Anthropomorphismen darstellen, weil unserem Vorstellungsvermögen Grenzen gesetzt sind. Ich denke, es ist den meisten klar, dass es sich bei Gott nicht um einen alten Mann mit langem Bart, der wortwörtlich oben im Himmel sitzt, handelt. Aber so eine Vorstellung kann durchaus Ausdruck des Glaubens etwa an eine über einen wachende Kraft sein.

Die Stories sollen also den Glauben ausdrücken, nicht historische Tatsachen, auch wenn natürlich oft historische Ereignisse als Ausgangslage benutzt wurden.

Was z.B. den Bericht des Sündenfalls angeht, ist dies auch in der Bibel nicht als Tatsachenbericht dargestellt (es gibt in der Bibel zwei Schöpfungsberichte), denn niemand war dabei, der das alles mit angesehen hat und anschließend niederschrieb. An Adam und Eva und den Garten Eden sollte man nicht zu viele Gedanken verschwenden. Gerade mit dem Wissen, das wir heute haben, dürfte es extrem schwer sein, auch nur festzustellen, wen oder was man als ersten Menschen bezeichnen kann und was noch Affe (oder gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Affen) anzusehen ist. Es gibt selbstverständlich unterschiedliche Auslegungen, was dieser Mythos denn in der Bibel aussagen soll. Ich denke, eindeutig, ist dass damit das gestörte Verhältnis zwischen Gott und Mensch (biblisch gesprochen: die Sünde) erklärt werden soll. Was sie ist und wie sie in die Welt gekommen ist, wissen wir nicht. Aber sie ist da und sie ist das (hier jetzt wieder mit Schleiermacher gesprochen) was Gott nicht will.

1 Es gilt auch zu berücksichtigen, dass ich aufgrund des Zeit- und Platzmangels auf näher gehende Kommentare und Überlegungen zu ganzen Blöcken von Büchern und Gattungen (wie z.B. den prophetischen Schriften) verzichten musste, wodurch der Charakter des Textes als grober Einstieg für den Laien wohl noch hervorgehoben wird; als nichts weiter können die nun folgenden Worte angesehen werden.

2 Genannt sei hier nur: Gertz, J. Chr. (Hg.), Grundinformation Altes Testament, UTB 2745, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 32009.

3 Schäfer, R. (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Erster und zweiter Band, De Gruyter, Berlin 2008.

 

Fortsetzung folgt…

Leif Rocker ist Student der evangelischen Theologie und steht kurz vor der Examensvorbereitung. Er ist studentische Hilfskraft beim Qumran-Wörterbuchprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

 

Über Sicherheit

von Niklas Schleicher

Sicher gibt das böses Blut, doch Sprache ist, das wissen wir, das allerhöchste Gut, und ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein Gartenzwerg

(Element of Crime)

Man kann eine beliebige Umfrage nehmen. Eine Umfrage über die Dinge oder Umstände, die einem Deutschen oder einer Deutschen wichtig sind. Ganz egal, ob es sich dabei um eine junge oder eine alte Person handelt. Oder ob die Zielgruppe reich ist. Oder ob, für deutsche Verhältnisse, arm. Ein wichtiger Umstand1, den man, darauf würde ich fast ein halbes Monatsgehalt wetten, immer zu hören bekommen wird, ist „Sicherheit“. Freilich: „Familie“ oder „Selbstverwirklichung“ oder „Zufriedenheit“ oder „Gesundheit“ oder „Wohlstand“ spielen auch eine Rolle, aber eben auch: Sicherheit.

Man kann nun den zweiten Schritt gehen und fragen: „Was heißt denn für Sie Sicherheit?“ Was werden Sie hören? Doch wohl beinahe das, was oben die anderen Begriffe ausdrücken, also vielleicht so: Sicherheit bedeutet für mich: Regelmäßiges Einkommen, eine stabile familiäre Basis, eine gewisse Rechtsstaatlichkeit, eine gute Krankenversorgung, usw. Ich stimme da völlig zu: Das ist doch etwas, dass man sich für ein „sicheres“ Leben wünschen kann.

Ich würde tippen, dass es eine leichte Deutungsverschiebung des Begriffes Sicherheit in diesem Umfragezusammenhang geben wird, je älter die Befragten sind. Dort sagen vielleicht einige: Sicherheit bedeutet auch, dass ich nicht Angst haben muss erschossen zu werden. Aber, wenn ich ehrlich bin, und ich vermute fast, dass ich hier exemplarisch sprechen kann, unsere Generation versteht doch, wenn sie sich Sicherheit wünscht, nicht primär, dass wir bitte keinen Krieg wollen. Die Gefahr eines bewaffneten Konflikts ist doch für das deutsche Land in recht weiter Ferne.

Für den dritten Schritt wechsele man kurz die Perspektive und folge mir und meinem Unbehagen. Es ist ja eine gängige Forderung in der ganzen Debatte um Asylbewerber, dass solche aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern zügig abgeschoben werden sollen. Eine neuere Entwicklung ist nun, dass diese Gruppe der Asylbewerber in sogenannten Transitzonen konzentriert werden, der ewige Jasper von Altenbrockum sieht darin, gemeinsam mit Peter Altmaier „nichts inhumanes“. Man könnte auch aus Spaß eine Umfrage machen mit der Frage: „Finden Sie, dass Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern beschleunigt abgeschoben gehören?“ Ich behaupte: Die zustimmende Mehrheit wäre überwältigend. Man weiß es ja sowieso: Flüchtlinge aus diesen sicheren Herkunftsländern haben keinen rechtlichen Anspruch auf Asyl, denn sie kommen allein aus wirtschaftlichen Interessen. Außerdem bringen diese vermeintlichen Asylbewerber, die sich nur auf der sozialen Hängematte von ein bisschen unter 400 Euro ausruhen wollen, die richtigen Asylbewerber, nämlich eben die aus unsicheren Herkunftsländern in Misskredit. Mal abgesehen von den Forderungen der AFD, PEGIDA und Hardlinern aus der Reihe der „Integrationsfernsehen zur Vermittlung deutscher Werte“-CSU  – die wollen grundsätzlich eher gänzlich auf Asylbewerber verzichten – ist das durchaus als eine Lösungsstrategie ziemlich angesehen: Wenn man etwas konsequenter mit den „Sicheren-Herkunftsländern-Asylbewerbern“ umgeht, dann werden wieder ordentlich Kapazitäten frei für die richtigen Asylbewerber2. Abgesehen mal von anderen prinzipiellen Debatten über das Asyl: Bleiben wir bei der Verlockung radikaler mit den „Sicheren-Herkunftsländern-Asylbewerbern“ umzugehen.

Was denn ist nun „Sicherheit“? Politisch werden doch als sichere Herkunftsländer solche festgelegt, in dem, um es salopp zu sagen, keine Kugeln fliegen und es im Prinzip keine gruppenbezogene Verfolgungen gibt. Das sind die Bedingungen, die ein Land erfüllen muss, um als sogenanntes sicheres Herkunftsland zu bestehen.

Und der Deutsche? Nickt mit dem Kopf und sagt, natürlich, Leute aus solchen Ländern haben bei uns, solange sie nicht qualifiziert in der Pflege unserer Großeltern oder beim Kloputzen arbeiten können, nichts verloren. Ihr Land ist doch sicher!

Wenn man jedoch versucht, beide Verständnisse von Sicherheit mal nebeneinander zu stellen, dann kommt niemand umhin, dass sich beide Verständnisse von Sicherheit vielleicht nicht widersprechen, aber doch beißen. Für Deutschland, für uns, meint Sicherheit natürlich auch die Abwesenheit von militärischer Gewalt, aber eben auch eine gewisse rechtsstaatliche Sicherheit und darüber hinaus noch eine halbwegs geregelte Krankenversorgung, eine Grundsicherung bei Arbeitlosigkeit, die Möglichkeit Kaptial anzusparen, und so weiter.

Wenn wir aber die Sicherheit von anderen Ländern bewerten, dann reicht es zu konstatieren, dass es keine staatliche Gewalt gegen irgendwelche Gruppen und keinen Krieg gibt. Vielleicht muss man es so auf den Punkt bringen: Wenn wir auf uns blicken, gehört zu einem gefüllten Begriff von Sicherheit die Gewissheit, dass meine Familie und ich morgen und auch die Tage nach morgen etwas zum essen haben, und wenn ich es, durch welche Umstände auch immer, mir nicht leisten kann, dann ist dies eben die Aufgabe des Staates, des Gemeinwohls. Wenn wir auf andere blicken, dann sind die sicher, wenn Sie nicht unbedingt Angst haben müssen, erschossen zu werden. Ob der Mensch – ja, der Begriff Mensch fällt vielleicht viel zu selten in diesem Zusammenhang – vom Balkan oder wer weiß wo her, samt seiner Familie morgen oder die Tage nach morgen, etwas zu essen kaufen kann, dass ist dem Deutschen dann herzlich egal.

Ich kann hierfür keine Lösung anbieten, nur darauf hinweisen, dass wir es uns nicht zu leicht machen sollen, von Sicherheit bei einem Herkunftsland zu sprechen. Denn würden wir wirklich einen Umstand als sicher bezeichnen, bei dem wir vielleicht darum bangen müssen morgen und die Tage danach etwas zu essen zu finden? Ich glaube, wenn ein deutscher Politiker diese Situation für Deutschland als sicher bezeichnen würde, nun, wir würden vielleicht etwas zornig werden. Um es hier mit Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen) zu sagen: Lassen wir unseren Verstand, der uns ein Bild von Sicherheit gibt, nicht durch die Sprache, nicht durch ein Reden von Sicherheit, dass wir nicht so verstehen würden, verhexen. Vielleicht sind wir dann etwas vorsichtiger zwischen uns und den anderen da draußen strikte Grenzen zu ziehen, denn: die wollen genau so leben wie wir. Oder, um es christlich zu formulieren: Auch der Hungernde vom Balkan ist mein Nächster. Mit Richard Rorty (Kontingenz, Ironie, Solidarität) kann festgehalten werden: „Der Prozeß, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als einen von uns sehen statt als jene, hängt ab von der Genauigkeit, mit der beschrieben wird, wie fremde Menschen sind, und neubeschrieben, wie wir sind.“ Und der gute Deutsche und der Hungerleider vom Balkan sind ja dann trotzdem gleich in ihrem Bedürfnis nach einem sicheren Leben, zu dem eben auch die Sicherheit einer regelmäßigen Mahlzeit gehört.

1Bitte, nennt es nicht Wert. Die Konjunktur dieses Begriffs in der Gegenwart hilft gar nichts und diejenigen, die von deutschen Werten reden, machen sich über die Versuche der Werteethik doch auch nur implizit lustig. Denn mit Habermas kann festgehalten werden: Werte sind etwas attraktives, etwas das anziehend ist. Dass was die CSU unter Werten versteht sind vielleicht noch irgendetwas wie Prinzipien, die man annehmen muss, egal ob sie einem attraktiv erscheinen.

2Ich behaupte das einfach mal, denn es kann nicht anders sein: Parteien die links von der AFD/CSU-Front stehen, halten sich immer ans Grundgesetz, und dort ist das Recht auf Asyl nun mal festgehalten.

Kierkegaards Grabstein oder: Stirner, Luther und vom „Ich“ und „Wir“

von Niklas Schleicher

Das Wir-Gefühl hat Konjunktur in Deutschland. Egal auf welcher Seite in egal welcher Debatte man steht, notwendig ist es, darauf hinzuweisen, dass man kein Einzelner ist, dass man Mitstreiter hat, sei es gegen Amerika, die Islamisierung des Abendlandes, gegen Zuwanderung oder auch Impfen. Aber auch der- und diejenige, die auf der anderen Seite, unbestrittenermaßen bei diesen Themen richtigeren, stehen, müssen sich absichern gegen die Meinung, dass sie alleine wären. Ja, die Demonstration gegen PEGIDA zum Beispiel wirbt eben damit, dass die Dresdner und Dresderinnen und auch ich, wäre ich ein solcher, sagen könnte, dass „wir Dresdner“ weltoffen sind, dass „unser Dresden“ eine bunte Stadt ist und so weiter. Oder wenn ich mich mehr mit meinem Arbeitsort München identifizieren würde, würde ich mich freuen, wie gut „wir Münchner“ mit den Flüchtlingen umgehen in den letzten Tagen. Inhaltlich und von der Intention her kann ich nicht anders, als dem zustimmen, genauso auch, wenn sich ein Kollektiv bildet, um sich kritisch mit der ideologischen und gefährlichen Verblendung von verschiedenen Verschwörungstheorien (vgl. „Pharmaindustrie will uns vergiften“ bei den Impfgegnern) auseinanderzusetzen. Ich möchte allen zustimmen, die ihre Stimme gegen Intoleranz und für Aufklärung erheben und sich dafür einsetzen, dass, egal wo, mittelalterliche Denkmuster überwunden werden. Aber: Wenn ich höre, dass „Wir als…“ gegen dieses und jenes sein sollten oder müssten, dann muss ich kurz schlucken, dann ist mir nicht ganz wohl bei der Sache.

„Ich habe meine Sache auf nichts gestellt.“ So beginnt das einzige Werk eines deutschen Philosophen, der weniger durch sich selbst wirkte, als vielmehr durch die Epigonen, die, beeinflusst von ihm, sich kritisch mit seinen Ideen beschäftigten. Dieser deutsche Philosoph, geboren als Johann Caspar Schmidt, veröffentlichte als Max Stirner 1844 das Buch Der Einzige und sein Eigentum. Verfasst ist es in einem recht spröden, jedoch sich pathetisch gebenden Stil, kaum vergleichbar mit der stilistischen Schärfe seines „Lehrers“ Schopenhauer oder seines „Schülers“ Nietzsche. Der Grundtenor des Buches ist die Überzeugung, dass, unter den gegenwärtigen Bedingungen, der Einzelne für sein Glück verantwortlich ist und weder Verantwortung gegenüber der Gesellschaft oder Gott trägt, noch sich darauf verlassen kann, dass es so etwas wie eine tragende Großerzählung geben kann. In dieser Zuspitzung ist es schon deutlich, das Stirner in gewisser Weise auch Lyotards These vom Ende der großen Erzählungen vorweg nimmt. Gleichzeitig ist es auch eine konsequente Form der Nachfolge Kierkegaards, nämlich im Sinne einer atheistischen Weiterführung seines Existenzialismus. Immer wenn ich höre, dass WIR dieses oder jenes so oder so machen sollten, ist es in meinem Hinterkopf Stirner, der mich warnt. In der Konsequenz kann ich jedenfalls aber auch nicht Stirner sein, denn irgendwie ist mir seine Ablehnung jeglicher intersubjektiver Verständigung, oder deutlicher, jeglicher Solidarität abschreckend. Ein reines Recht des Stärkeren oder dessen, der sich eben durchsetzt, mag man als Anhänger von Ayn Rand oder von gewissen AFDlern gut finden, ich kann es auch nicht, zumal sich, völlig kontraintuitiv, gerade diese libertären Kräfte sich zur Durchsetzung ihrer Ziele zu relativ geschlossenen Gruppen zusammenfinden.

Und doch: Ist nicht schon das Gefühl oder der Wille, ein Einzelner sein zu wollen, eigentlich irrational? Ist nicht auch die evangelische Kirche gerade heutzutage darauf bedacht, den Wert tragender Gemeinschaft in den Fokus zu stellen? 1520 schreibt Martin Luther seine sogenannten reformatorischen Hauptschriften und prägt in einer davon, in der Freiheit eines Christenmenschen, den Satz: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Nun, man ist relativ schnell dabei, freilich das erste Satzglied im Sinne einer Unvertretbarkeit und Freiheit des Einzelnen vor Gott betonend, das zweite Satzglied im Sinne tätiger Nächstenliebe etc. stark zu machen1. Unsozial oder gar asozial soll der Protestantismus nicht sein, war und ist doch schon die Rechtfertigung allein aus Glauben nicht unbedingt eine leichte Hypothek für die Konzeption einer evangelischen Ethik. Nein, sich im Anschluss an Luther wähnend – und nie ist man froher, dass Luther solche Sätze auch hatte – wird die Freiheit auf Dinge des Glaubens und der Religion beschränkt, in Sachen des Staates, der Politik etc. diese allerdings wieder eingehegt. Die Adelsschrift und v.a. die Obrigkeitsschrift Luthers einerseits und andererseits natürlich die Zwei-Regimente-Lehre, die freilich ob aller Dunkelheiten, die sie zwar nicht hervorgebracht, aber den sie auch nicht widerstanden hat, modifiziert werden muss, scheinen dieser Interpretation recht zu geben. Aber, ich denke, dass die Beziehung zwischen erstem und zweiten Satzglied der Freiheit eines Christenmenschen stärker betont werden muss und nicht zwischen den Regimentern einfach aufzuteilen ist. Denn die Freiheit eines Christen in Fragen des Glaubens heißt ja, dass er auf keinen Menschen angewiesen ist, der ihm weist, wie man ein gottgefälliges Leben führt. Dies muss in der Schärfe so verstanden werden, dass ein richtiges, was im Sinne Luthers ein doch ein gottgefälliges Leben ist, zuletzt und in schärfster Konsequenz nur dem Einzelnen und seinem Gewissen anheimgegeben ist. Vor den Menschen muss ich mich natürlich rechtfertigen, aber wenn ich nach gründlicher Prüfung des Gewissens meine Pflicht zum Widerstand erkannt habe, dann kann ich mich in dieser Entscheidung getragen wissen. Diese Pointe, sofern sie denn richtig ist, ist nicht hoch genug zu bewerten, heißt das doch, dass ich als Einzelner zu der Entscheidung ermächtigt bin, aber auch verpflichtet bin, zwischen Alternativen zu wählen. Leben heißt ein ständiges Wählen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten und durch die in Gott geschenkte Freiheit bin ich dazu in der Lage, selbst eine Entscheidung zu treffen. Die Kehrseite ist dann auch diejenige Tatsache, die Løgstrup in Anlehnung an Kierkegaard die Unvertretbarkeit der ethischen Forderung nennt. Ich bin als einzelner dazu aufgerufen, in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft wie auch immer zu handeln. Was geboten ist, erfahre ich durch Erziehung oder Dialog oder ähnliches. Die Aktualisierung des Gebotenen (und bei Løgstrup auch das Scheitern daran) allerdings liegt in meiner Verantwortung.

Im Lateinischen gibt es, wenn ich recht informiert bin, eine schöne Verbform: Den Kohortativ, also das „Lasst uns“. Man könnte dementsprechend von einer Kohortativisierung der Gesellschaft reden. Ich finde das nicht gut. Freilich, der Mensch ist auf Gemeinschaft angewiesen. Aber: Der Mensch ist nicht darauf angewiesen, vergemeinschaftet zu werden und sich in Sachen der eigenen Stellungnahme von Gruppen vertreten zu lassen. Vielleicht liegen meine Ausführung an meinem pathologischen Drang, mich theologisch und philosophisch mit Positionen zu identifizieren, die quer zum Konsens liegen. Und vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich immer als links-liberal bezeichnen würde, wobei ich liberal nicht als anderen Begriff für wirtschafts- oder markthörig benutzt wissen will, sondern liberal als Konsequenz eines Begriffs des Sozialen: Sozialer Ausgleich ist nur dann wirklicher Ausgleich, wenn er den Einzelnen dazu befähigt, ein Leben in größtmöglicher persönlicher Freiheit zu führen. Aber schlussendlich weiß ich nicht, wo dieses meine Denken seinen Ursprung hat.

Und vielleicht ist dies auch etwas, wenn schon sonst das Werk teilweise zu kryptisch ist, was von Kierkegaard zu lernen ist, um was es ihm eigentlich geht und was er anscheinend als seine Grabinschrift angedacht hatte: „Jener Einzelne“. An die einzelne, unvertretbare Existenz des konkreten Menschen, an das konkrete „Ich“ wendet sich, jedenfalls im evangelischen Sinne, die Botschaft, das Wort Gottes, auch wenn es in gemeinschaftlichen Vollzügen nahe gebracht wird. Ich denke dementsprechend, eine der wichtigsten Errungenschaften des protestantischen Christentums ist die emphatische Betonung des Gedankens der Freiheit: Der Freiheit des Einzelnen ein Einzelner zu sein.

1 Dabei ist ja eigentlich doch ein bisschen andersherum: Die Freiheit vor Gott ist eben keine, über die Mensch selbst verfügt, vielmehr ist sie eine, die durch den Glauben geschenkt wird. Aus diesem Glauben ergeben sich dann als Früchte die guten Werke an den Nächsten. Aber: Worin diese letztendlich bestehen, daran bleibt die Entscheidung des einzelnen Gewissens wenigstens beteiligt.