von Niklas Schleicher
Johannes Fischer, der emeritierte Zürcher Sozialethiker, ist durchaus dafür bekannt, pointiert und die richtigen Fragen stellend mit moralischen Positionen der EKD und ihrer Vertreter ins Gericht zu gehen. Besonders eindrücklich und, jedenfalls für mich, nachhaltig beeindruckend war die Auseinandersetzung, die er mit Kathrin Göring-Eckardt, der damaligen Präses der EKD-Synode, über die Fragen der Präimplantationsdiagnostik geführt hat. Die Argumente dieser Debatte, die an dieser Stelle nicht neu aufzurollen ist, lassen sich wie folgt umreißen: Göring-Eckardt führte das christliche Menschenbild an, um die unhintergehbare Würde des Einzelnen grundzulegen. Fischer widersprach mit dem Verweis darauf, dass dieses christliche Menschenbild in dieser Zuspitzung selbst zum Götzen wird und es einer Abwägung der jeweiligen Situation bedarf. Ohne die Argumente bewerten zu wollen, war es hier doch irgendwie für die breite Mehrheit innerhalb der Kirche gut möglich, einer der beiden Seiten zuzustimmen. Freilich, die EKD tendierte zur Position Göring-Eckardts und immer noch wird Fischers Position in medizinethischen Debatten als eine exzentrische wahrgenommen – mich jedenfalls überzeugen seine Argumente nach wie vor.
Nun meldet sich Fischer in neuen Publikationen1 zu einem ganz anderen Thema zu Wort, nämlich – mehr oder weniger – zur Flüchtlingsfrage. Hier ist Zustimmung, jedenfalls auf den ersten Blick, weniger leicht. Es scheint so, als kritisiere er prinzipiell den Einsatz der EKD für die Flüchtlinge und ihre Zustimmung zur Politik der Kanzlerin, auf Obergrenzen zu verzichten. In dieser Zuspitzung fällt es mir schwer, der Argumentation Fischers etwas abzugewinnen – konsequenterweise, wie es scheint, bekommt er Applaus von der Seite des protestantischen Christentums, die die Positionen der AFD offen oder verdeckt teilt2.
Ich möchte im Folgenden zwei Gedanken skizzieren, nämlich erstens, dass Fischers Kritik im Prinzip zuzustimmen ist, und dass sich zweitens die AFD-Sympathisanten innerhalb des Protestantismus zu Unrecht auf ihn berufen, da seine Kritik sie selbst in gleichem Maße trifft.
Der erste Punkt erfordert eine etwas differenziertere Darstellung von Fischers Position. Besonders konzentriert findet diese sich in einem Leserbrief in der FAZ, der allerdings insofern schwer zu durchdringen ist, als dass gewisse Punkte des Fischer‘schen Denkens vorausgesetzt werden, die daher hier ebenfalls kurz zu erklären sind. In diesem Leserbrief stellt sich Fischer der Frage, ob „alle Notleidenden unsere Nächsten“ sind und kommt zu der Einschätzung, dass dies so nicht postuliert werden kann. Damit aber gehe eine gewisse Art der moralischen Argumentation fehl, wie sie gerade auch in EKD-Publikationen vorfindbar ist, eine Argumentation nämlich, die Nächstenliebe zu einem moralischen Gebot, zu einer moralischen Regel macht.
Es ist hier m.E. wichtig, festzuhalten, dass Fischers Kritik nicht daraus entspringt, dass für ihn „Nächstenliebe“ ein schlechtes Modell für eine moralische Orientierung wäre, sondern dass für Fischer der Gedanke daran verfehlt ist, dass sich Ethik prinzipiell als Regelethik konstituiert,. Dies wird auch daran deutlich, dass Nächstenliebe im ethischen Werk von Johannes Fischer eine entscheidende Bedeutung hat. Allerdings ist sie eben nicht als eine Regel zu verstehen, an die sich der Einzelne qua seiner moralischen Pflicht zu halten hat, sondern als ein Modus, in dem der Nächste wahrgenommen wird und in dem ich mich zu ihm zu verhalten habe. Damit ist Nächstenliebe etwas, das in engem Bezug zu konkreten Situationen steht und immer eine Art des jeweiligen Verhaltens darstellt.
Dieses Verhalten zu fordern und es zu einer allgemeinen Regel zu machen, unterläuft diese Art des Wahrnehmens insofern, als dass es dann eben nicht mehr um den konkreten Nächsten geht, dem ich helfe, sondern der Nächste quasi nur das Mittel ist, durch das ich diese moralische Regel befolgen kann. Neben einer Überführung der protestantischen Ethik in eine neue Gesetzlichkeit3 begeht eine solche Ethik den Fehler, die Bedeutung von emotionaler und intuitiver Wahrnehmung des Anderen für ein Verhalten zu negieren. Eine solche Ethik abstrahiert von der Begegnung mit dem Nächsten, um den es ihr eigentlich gehen sollte.
Außerdem begeht diese Regel der Nächstenliebe, die vorschreibt, dass der Nächste prinzipiell jeder ist und man jedem aus Prinzip gleich begegnen muss, einen weiteren folgenschweren Fehler: Sie erweitert den Bereich der eigenen Verantwortung ins Grenzenlose. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine gesteigerte Form der eigenen Verantwortung, sondern bewirkt das Gegenteil: Eine ins grenzenlos gesteigerte Verantwortung ist deshalb insuffizient, da sie die Möglichkeiten des Einzelnen faktisch negiert und so Verantwortung in konkreten Situationen gerade erschwert – oder gar verunmöglicht4.
So ist m.E. die Kritik Fischers an der Position zu verstehen, dass die Nächstenliebe eine moralische Regel zu sein habe, an der sich der Einzelne um dieser Regel willen zu halten habe.
Wenn nun allerdings – und hier komme ich zum zweiten Gedanken dieses Textes – die Position Fischers so verstanden wird, als müsse man der EKD ein anderes Prinzip moralischer Orientierung entgegensetzen, ist dies falsch. Nächstenliebe ist im christlichen Sinne für ethisches Verhalten von höchster Bedeutung nur eben nicht als Regel, sondern als Art, den Anderen zu sehen. So ist Fischers Kritik gegen die Vorstellung gerichtet, dass es Aufgabe (christlicher) Ethik sei, Regeln aufzustellen, an die sich der moralische Mensch, wenn er denn Christ sein will, gefälligst halten soll. Diesen Hinweis finde ich immer noch sehr einleuchtend, trifft er doch in hohem Maße auch genau die Personen, die jetzt der Position Fischers zustimmen.
Gerade die vermeintlichen Gralshüter eines konservativen Protestantismus sind ja nicht eben zurückhaltend, wenn es darum geht, ihre ethischen Urteile aufgrund scheinbar fester Normen und Regeln zu fällen, die sie oft einem mehr oder weniger willkürlich zusammengestellten Potpourri entkontextualisierter biblischer Sätze entnommen haben. Auch z.B. die Erhebung des Prinzips der Volksabstimmung in den Bereich des absolut Richtigen – weil man sich nur so über die für alle am meisten überzeugende Art des richtigen Handelns überzeugen könne – fällt unter das Verdikt Fischers, dass die Regel, aufgrund derer eine Handlung vollzogen wird, noch lange nichts über die Motivation zu diesem Handeln aussagt.
Wer also Fischer in diesem Gedanken folgt, sollte nicht den Fehler begehen, zu meinen, es ginge darum, das Prinzip christlicher Nächstenliebe gegen andere Prinzipien in Abwägung zu bringen. Vielmehr geht es darum, dass ethisches Denken falsch läuft, wenn es sich im Aufstellen von ethischen Prinzipien erschöpft.
Zwei Konsequenzen, die man aus dieser Position ziehen könnte, sind nun erstens, dass damit jede ethische Orientierung dem Einzelnen anheimgestellt bleiben muss, und zweitens, dass damit Kirche in ethischen Fragen eher nichts beizutragen hat.
Die erste Konsequenz ist richtig, gilt aber jedoch freilich für jede Art von Ethik. Auch, ob ich einem Prinzip folge, entscheide ich im besten Fall dadurch, dass ich mich von Argumenten überzeugen lasse. Empirisch lässt sich das wohl auch mit dem einfachen Hinweis auf die diversen unterschiedlichen Zugänge zur (normativen) Ethik belegen, für die alle Gründe sprechen, aus denen man aus unterschiedlichen Motivationen zustimmen kann.
Zur zweiten Konsequenz vielleicht so viel: Wenn ethische Orientierung vor allem in einem bestimmten Wahrnehmen eines Menschen besteht, ist darauf Wert zu legen, dieses Wahrnehmen zu schärfen. In diesem Bereich besteht eine enge Beziehung zwischen Ethik und „Spiritualität“. Fischer verweist n seinem „Grundkurs Ethik“ in Rückgriff auf Fulbert Steffensky selbst auf diese Beziehung:
„Geformte Aufmerksamkeit meint demgegenüber: die Dinge unter einer bestimmten Wahrnehmung auffassen, wie Steffensky mit der Frage zum Ausdruck bringt, wie wir die Schmerzen der Menschen lesen und wie wir uns davon berühren lassen. Christliche Spiritualität hat es mit der Einübung in eine solch bestimmte Wahrnehmung zu tun.“5
Die Ressourcen, die der christlichen Kirche für eine solche Einübung ethischer Wahrnehmung zur Verfügung stehen, sind vielfältig und reichen von biblischen Geschichten und der Auslegung in der Predigt über die Fürbitte bis zu verschiedenen Gottesdienstformen.
In seinem Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ weist der amerikanische Philosoph Richard Rorty auf die Bedeutung von Geschichten, von Narrativen für unsere ethische Wahrnehmung hin:
„[Solidarität] wird dadurch geschaffen, daß wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, und nicht vertrauter Arten von Menschen steigern. Diese gesteigerte Sensibilität macht es schwieriger, Menschen an den Rand unseres Bewusstseins zu drängen“6.
Hierin könnte die ethische „Aufgabe“ der Kirche liegen: Unter Rückgriff auf Erzählungen und Narrative den Blick des Einzelnen dafür schärfen, wer der Nächste ist und was es bedeutet, diesem im Geist der Liebe zu begegnen.
1 Dankenswerterweise veröffentlicht Fischer die Beiträge, die in unterschiedlichen Zeitschriften und Zeitungen (FAZ, Zeitzeichen, Evangelische Theologie) erschienen sind, auf seiner privaten Homepage: http://www.profjohannesfischer.de/ .
2 Vgl. zum Beispiel die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „CA – Confessio Augustana: Das Lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur“.
3 Hierzu ist der Aufsatz von Elisabeth Anscombe: Die Moralphilosophie der Moderne (zu finden in G.E.M. Anscombe: Aufsätze, Frankfurt 2014) immer noch entscheidend.
4 Vgl. dafür auch den Ansatz von Körtner: Evangelische Sozialethik, Göttingen 32012, S. 92-124.
5 Johannes Fischer u.a.: Grundkurs Ethik, Stuttgart 22008 S. 365.
6 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1992, S. 16.