Von den 90 Prozent, Hausbesuchen und der Zukunft der Kirche

Rezension zu: Erik Flügge und David Holte: Eine Kirche für Viele (statt heiligem Rest), Freiburg im Breisgau 2018.

von Niklas Schleicher

Erik Flügge kann man zurzeit ohne Übertreibung als shooting-star der aktuellen kirchlichen Debatten bezeichnen. Sein Buch über die Sprache der Kirche1 war ein Verkaufserfolg und seitdem ist Flügge ein gern gesehener Referent in Fortbildungsveranstaltungen. Zwischendurch verfasst er immer mal wieder viel beachtete Artikel zur Zukunft der Kirche. Interessanterweise genießt Flügge für seine Arbeit, wenn ich das richtig sehe, breite Zustimmung und stößt auf wenig harsche Kritik.

Vor zwei Wochen erschien Flügge neues Buch, zu dem David Holte ein Kapitel beigesteuert hat. Buch ist dabei freilich etwas hoch gegriffen, erweiterter Essay trifft es vielleicht eher; so entfaltet Flügge seine Thesen auf 78 Seiten im Kleinformat bei Herder. Das Buch ist erneut ein Verkaufsschlager, die erste Ausgabe ist bereits vergriffen und die Rezeption wieder äußerst positiv.

Ich wiederum lese gerne Bücher, die Verkaufsschlager sind, positiv rezipiert werden und Ideen beisteuern, wie man denn die Kirche(n) reformieren könnte. Meistens bin ich dann enttäuscht und manchmal lasse ich mich auch zu einer Rezension hinreißen.

„Eine Kirche für viele (statt heiligem Rest)“ lautet der Titel des Buches. Das Grundanliegen ist dabei ein gänzlich anderes, als es beispielsweise „Vom Wandern und Wundern“ hat. Ich erwähne das deshalb, weil dieses Buch, jedenfalls in meiner Filterblase, von den gleichen Personen ähnlich euphorisch begrüßt wurde. Flügge geht es nicht um Rückzugsorte oder Klientelkirchen, die ganz bestimmte Menschen in ganz bestimmten Situationen (mit ganz bestimmten Vorlieben für koffeinhaltige Heißgetränke) bedienen, sondern in gewisser Weise um eine Kirche, die alle Menschen erreicht – also im besten Sinne um so etwas wie Volkskirche. Ich finde diese Idee jedenfalls schon einmal gut und interessant. Löst das Buch auch ein, was es verspricht?

Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist im ersten Satz des Buches grundgelegt:

„90 Prozent der Kirchenmitglieder nehmen nicht am Gemeindeleben Teil. Sie zahlen nur für den Rest. Kann das wirklich die Idee einer Kirche sein? (S. 9)“2

Der Anstoß ist also, wie so oft, die Kirchensteuer. Viele zahlen, wenige nehmen die Angebote der Kirche wahr, gehen also regelmäßig in den Gottesdienst oder besuchen die Veranstaltungen, die in der Gemeinde angeboten werden. Dadurch verliert die Kirche an Relevanz im Leben derjenigen, die sie eigentlich finanzieren, und über kurz oder lang führt das zum Rückgang oder Verschwinden von volkskirchlichen Strukturen. Dabei ist es egal, ob es um das evangelische oder katholische Christentum geht; in dieser Frage unterscheiden sich beide nur um Nuancen.

Der Vorschlag, mit denen Flügge die 90 Prozent erreichen will, wird in einer Art Gedankenexperiment dargeboten, ist aber erstaunlich handfest: Man sollte die Arbeitszeit, die durch die Kirchensteuer finanziert wird nutzen, um Hausbesuche zu machen; und zwar nicht nur die üblichen 70+ Geburtstagsbesuche, sondern um alle Menschen der Gemeinde einmal im Jahr aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Dies ist erstmal, wenn man so will, die formale Seite des Vorschlags: Weniger Geld investieren in Erhalt der Häuser, Kirchen, usw., sondern als Kirche zu den Menschen gehen. Flügge zieht einen Vergleich aus seiner Arbeit für die SPD heran: Auch im Wahlkampf ist das Besuchen von Menschen von gutem Erfolg gekrönt.

Die Kehrseite der Medaille ist dann allerdings die Anschlussfrage, die der zweite Teil des Buches behandelt: Was soll denn bei den Hausbesuchen geschehen, was gesprochen werden? In Flügges Worten: „Für wen ist das katholische beziehungsweise evangelische Christentum überhaupt noch relevant?“ Denn, so weiter: „[U]nd wenn man an diese Frage herangeht, dann sieht es düster aus.“ (S. 47) Die Streitfragen, um die es in den Kirchen gerade geht, sei es Sexualmoral oder die Frage nach Laien, sind reine Kulturfragen und reines Marketing. Um das Christentum zu reanimieren, ist, so Flügge weiter, eine Rückbesinnung auf die Wurzeln nötig; und zwar weniger in einem inhaltlichen Sinne, sondern in einem formalen Sinne: Man spricht mit anderen Menschen über seinen christlichen Glauben, nicht (allein) um sie zu überzeugen, sondern um im Gespräch mit ihnen und von ihnen neues über das Christentum zu lernen, eben genauso, wie es die frühe Christenheit in Aufnahme der griechischen Philosophie getan hat.

Der zweite Modellversuch, den Flügge dann vorschlägt, ist ein Schritt unter den Hausbesuchen bei allen Kirchenmitgliedern und sieht vor, dass die gesamte Gemeinde mit selbst geschriebenen Karten z.B. anlässlich wichtiger Feste kontaktiert wird. Diese Karten sollen Ehrenamtliche und Hauptamtliche gemeinsam in einer konzertieren Aktion verfassen.

Das Buch schließt mit der Hoffnung, dass die Eindrücke und Einsichten, die man durch die Gespräche im Rahmen einer solchen Haustürmission Gewinnt , Eingang in den Glauben und die Lehre der Kirche finden und es so zu einer Revitalisierung kommt.

Flügges Vorschläge klingen auf den ersten Blick sehr plausibel und einleuchtend. Aber ich meine: Sie sind auch etwas einfach. Nun muss Einfachheit per se nichts Schlechtes sein. Aber trotzdem sollte sie wenigstens ein bisschen stutzig machen. Sollte die Forderung, dass „Kirche zu den Menschen kommen muss“, Theologinnen und Theologen wirklich noch nicht in den Sinn gekommen sein?

Tatsächlich haben sich Theologie und Kirche diesbezüglich schon einige Gedanken gemacht. Und der Vergleich mit dem Straßenwahlkampf hat eben seine Grenzen: Auch die SPD und die CDU/CSU erholen sich ja durch Hausbesuche nicht in dem Sinne, dass sie mehr oder besser gebundene Mitglieder gewinnen. Vielmehr funktioniert die Mobilisierung in der konkreten Wahlkampfsituation. Rübergespiegelt auf die Kirche trifft diese Parallele m.E. auch zu: Für ein konkretes Projekt oder eine konkrete Veranstaltung könnte so ein Hausbesuch oder ein direktes Ansprechen durchaus kirchenferne Mitglieder aktivieren, sei es, weil die Kirchturmuhr repariert werden soll, oder weil die Kirchgemeinde eine Brauereiführung organisiert hat. Einfach mal so zu kommen und über den Glauben zu reden, scheint mir demgegenüber schwieriger; zumal die Haustürmission der Zeugen Jehovas hier keine guten Assoziationen wecken dürfte.

Flügge schlägt zudem vor, dass die Mission mehr von gemeinsamen Gespräch geprägt sein soll und der Besuchende etwas von den Besuchten lernen soll. Dies klingt zunächst gut, aber wirft Fragen auf, zu deren Beantwortung Flügges Buch wenig beiträgt. Wenn das Christentum aus den Stimmen erneuert werden soll, die mit der christlichen Kirche und dem christlichen Glauben bislang wenig zu tun haben, was ist dann das, was der christliche Glaube dort finden und integrieren soll? Aus welcher Mitte heraus wird bestimmt, welche Anliegen aufgenommen werden? Gerade die frühe Christenheit hat sich in der Auseinandersetzung mit der Philosophie fest an ihr Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten gehalten. Nicht zuletzt erscheint das Unternehmen mit einer doppelten Agenda verbunden: Die Kirche soll vordergründig zu den Menschen, um diese zu erreichen und diesen was zu bieten. Allerdings ist dieser Besuch hintergründig für die Kirche selbst verzweckt, steht nämlich im Dienst der eigenen Erneuerung. Geht es im Endeffekt geht es dann gar nicht um die Besuchten, sondern um die Kirche, ihren Bestand und und ihr Bedürfnis nach Erneuerung?

Das Problem scheint mir allgemein weniger der Wille zu sein, mit Menschen und ihrer Lebenswelt in Kontakt zu kommen. Sondern es scheint darin zu liegen, wie mit diesen Menschen über den Glauben gesprochen und ihnen dabei auch glaubwürdig vom den Glauben erzählt werden kann. Theologen und Theologinnen sind in der Regel keine lebensweltfremden Fachidioten, die völlig fern von jeder Lebenswelt stehen und keine Ahnung von den Ideen und religiösen Bedürfnissen anderer Menschen haben. Im Gegenteil: Manchmal erscheint es mir vielmehr notwendig, zunächst einen Blick auf das zu werfen, was die eigene Botschaft ausmacht und was das Christentum von allgemeiner Religiosität unterscheidet.

Ein zweiter Punkt betrifft das Bild von Kirche, dass hier gezeichnet wird: Kirche erscheint dabei eine ganz konkrete, abgeschlossene Organisation mit ihren angestellten Mitarbeitenden. Als Gegenüber dieser Kirche gibt es dann die zahlenden Mitglieder, die etwas von ihrer Mitgliedschaft haben sollen. Mir scheint diese Betrachtungsweise zu verkennen, dass diese zahlenden Mitglieder selbst die Kirche sind. Daher könnte man darauf verweisen, dass es im freien Belieben der Einzelnen liegt, wo sie sich und wie beteiligen. Gerade z.B. bei der evangelischen Kirche sind die Strukturen so beschaffen, dass sie viele Möglichkeiten der Beteiligung bieten. Die meisten Hauptamtlichen sind für Ideen und Projekte aufgeschlossen und bieten Räume zur Verwirklichung. Aber andersherum gilt auch: Wenn ich meine Mitgliedschaft in der Kirche sozusagen „ruhen“ lassen möchte, weiter meine Kirchensteuer zahle, aber mich jenseits bestimmter biografischer Schwellensituationen nicht beteilige, dann ist das genauso legitim.

Möglicherweise wäre hier ein Punkt, den man vertiefen sollte: Möglichkeiten der Beteiligung an Konzeption und Umsetzung neuer Ideen innerhalb der Kirche aufzeigen. Das ist vielleicht weniger radikal, als mit der Erfahrung von Hausbesuchen im Rücken einen Großumbau der kirchlichen Lehre vorzunehmen. Aber man muss dafür dann auch keine Kirchen abreißen, weil man sie vielleicht noch brauchen kann.

Und wenn wir die Debatte darüber führen, was Kirchen leisten sollen und was nicht, sollte man nie vergessen, dass die Kirche auch eine Solidargemeinschaft ist. Manche Dinge, wie Sozialarbeit, Kinderbibelwochen oder Altenheimseelsorge finanzieren eben viele, während nur wenige sie in Anspruch nehmen, weil sie das entsprechende Angebot eben gerade brauchen. Das muss nicht ungerecht sein, ich jedenfalls kann gut damit leben.

Es gibt ausgehend vom vorliegenden Buch also viele Fäden, die man aufgreifen kann. Interessant ist der Ansatz allemal – auch wenn ich glaube, dass die Erneuerung der Volkskirche mehr braucht als Hausbesuche.

Niklas Schleicher

2Wie genau Flügge auf diese Prozentzahl kommt, wird leider nicht aufgeschlüsselt.

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