Rezension: Ulrich Körtner, Für die Vernunft

(Quelle Bild: Homepage des Verlags http://www.eva-leipzig.de/)

Rezension zu: Ulrich H.J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Leipzig 2017. 172 Seiten.

Es scheint am derzeitigen theologisch-gesellschaftlichen Debattenhimmel eine neuerliche Diskussion um ein altbekanntes Thema aufzuscheinen: Das Verhältnis von Staat und Kirche und deren gegenseitige Beeinflussung. Als profiliertester Kritiker der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Verlautbarungen der EKD und ihres Spitzenvertreters Heinrich Bedford-Strohm zeigt sich der Wiener Systematiker Ulrich H.J. Körtner, der nun in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig eine Studie mit Titel: »Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche« veröffentlicht hat.

Allein der Titel zeigt, welches Programm Körtner verfolgt und – das sei jetzt schon gesagt – auf eine sehr erfrischende und kluge Art ausbuchstabiert! Körtner versucht die Hintergründe zu klären, die zu einer derart starken Moralisierung und Emotionalisierung der politischen und gesellschaftlichen Debatten geführt haben und will gleichzeitig seine Vorstellung einer gesellschaftsorientierenden, weil zukunftsermöglichenden Verhältnissetzung von Politik und Theologie darlegen.

Ausgehend von einer über die allgemeine Larmoyanz hinausgehende und damit erhellenden Analyse zeigt Körtner unter dem Begriff der »Fuzzylogik« als der Diskussion subjektiver Empfindungen jenseits faktenbasierender Erkenntnisse die entscheidenden Charakteristika des Postfaktischen auf.

Als Signum moderner Gesellschaften, in denen dieses postfaktische Denken Fuß fassen konnte, benennt Körtner deren pluralistische Moralvorstellungen bei gleichzeitiger Suche nach moralischen Leuchttürmen, die in der Undurchsichtigkeit und Komplexität Orientierung versprechen. Den Kirchen unterstellt Körtner, dem Ruf nach Moral- und Wertevermittlung nur zu gern zu entsprechen, da sie für so manche eine Kompensationsstrategie der schwindenden gesellschaftlichen Relevanz bilde.

Die Gefahr dieses Rufs nach Moral- und Ethikagenturen beschreibt Körtner unter dem Stichwort der »Hypermoral«, die die Ansicht suggeriere, allein den Menschen in der Verantwortung für die Welt und ihr Schicksal zu sehen. Wenn sich nun die Hypermoralisierung des Politischen mit den postfaktischen Diskussionslinien verbinde, führe dies einerseits zu einer »Politik der Gefühle«, in der über menschliche (!) und damit korrumpierbare Emotionen, Werte, Abscheu und Hoffnungen (54) abgestimmt würde und andererseits letzten Endes allein in menschlichen Handlungen und Moralvorstellungen die Welterlösung vermutet werden müsse.

Doch wie kann es nun für Körtner zu einer »vernünftigen« Verbindung zwischen Politik und Kirche kommen? Unter dem Signum »Verlust der Zukunft« führt Körtner die handlungsleitende Maxime der »Zukunft« als hoffnungsvolle Kategorie ein, die in der Moderne Politik und Christentum dort verbinde, wo sie die Welt verändern und sie zum Besseren kehren wolle.

Für den Weg in diese Zukunft greift Körtner auf die klassische Unterscheidung von Staat und Kirche in Luthers Zwei-Reiche-Lehre und Barths Barmer Theologischen Erklärung zurück und definiert die Unterscheidung von Politik und Kirche funktional, als unterschiedliche Möglichkeitsräume und Handlungsbereiche mit jeweils unterschiedlichen Bereichsethiken. Für den theologischen Bereich verweist Körtner entscheidend auf das »Paradox von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung« (93), das wiederum zum kritischen Umgang mit menschlichen Gefühlen und Emotionen anleite. In dieser Logik müsse sich die Theologie leiten lassen und komme so zu einer Unterscheidung des vermeintlich Guten in letzten und vorletzten Dingen. Religion werde so gerade nicht zur Moralagentur, sondern zur Unterscheiderin zwischen »Gott und Mensch, Handeln Gottes und Handeln des Menschen« (98), zwischen Moral und Religion.

Die Kirche müsse ausgehend von dieser Einsicht vielmehr eine Ethik der Selbstbegrenzung einfordern, da alles menschliche Streben, Denken und Handeln als »Fragment«, theologisch als sündiges Sein, aufgefasst werden müsse. So sei gerade nicht in das zweifelhafte Unterfangen einer grundsätzlich korrumpierbaren Moralisierung zu verfallen, sondern mit der essentiellen Einsicht in die Unterscheidung von Religion und Moral die Hoffnung auf Gottes Zukunft wach zu halten, die dem Menschen einen bis dato unbekannten Möglichkeitsraum jenseits seiner eigenen Handlungsspielräume – gerade in seinem politischen Streben und Handeln – eröffne.

Körtners Studie liest sie sehr erfrischend und bereichernd, da er sich nicht scheut, eine klare Position zu beziehen und diese systematisch klug zu untermauern. Die besondere tagespolitische Bezugnahme der Studie erweist sich dabei als ihre Stärke und ihre Schwäche. Die Schwäche dort, wo er genau jene tagespolitischen Ereignisse im Genre eines politischen Feuilletonisten zu bewerten sucht und teilweise etwas ermüdende, weil altbekannte Worthülsen und Vorschläge liefert. Die Stärke dort, wo er anhand der aktuellen Ereignisse grundsätzliche systematische Fragen des Verhältnisses von Politik und Kirche als unterschiedliche Möglichkeitsräume in der selben Wirklichkeit beleuchten kann.

Körtner offeriert ein Plädoyer. Das Plädoyer mit »engagierter Vernunft« sich der Aufgabe zu stellen »der Stadt Bestes zu suchen (Jer 29,7), […] in der rechten Verhältnisbestimmung von Glaube, Hoffnung und Liebe, von Herz und Verstand, politischer und theologischer Vernunft« (161).

Martin Böger ist Pfarrer und Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen.

Veröffentlicht auf www.nthk.de am 19.09.2017