Schiffbruch, Profil und Konzentration

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von Tobias Graßmann (@luthvind)

Im erbitterten Streit, den er mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze um die Bedeutung der Heiligen Schrift führt, versucht der Aufklärungsdichter Lessing, seinen Gegner mit einem kleinen Gedankenexperiment in Bedrängnis zu bringen. So erzählt er eine unerhörte und erfundene, aber doch mögliche Begebenheit. Diese kleine, hintersinnige Modellerzählung, lässt sich in Kürze folgendermaßen zusammenfassen:

Ein lutherischer Pfarrer, der zur Auswanderung gezwungen ist, strandet schiffbrüchig mit seiner Familie auf einem kleinen Karibikatoll. Angeschwemmt wird er mit nur ein paar Besitztümern und einem Buch: Luthers kleinem Katechismus. Mit diesem unterweist er seine Kinder und Enkel. Sie lernen die Worte auswendig und geben sie mündlich weiter, auch wenn bald niemand mehr lesen kann. Die Gruppe pflanzt sich fort und lebt nach der Lehre des Katechismus, die ihren Alltag und ihre Sprache prägt. Bald ist das Büchlein bis auf die Buchdeckel zerlesen, die als eine Art Reliquie aufbewahrt werden. Nach mehreren Generationen verirrt sich schließlich ein Prediger auf die Insel und trifft auf dieses „nackte, fröhliche Völkchen“.

Nun stellt Lessing seinem Gegenüber eine Fangfrage: Kann der Prediger diese Menschen  wohl als Christen erkennen? Wo sie doch keine Bibel haben?

Man kann in Goeze durchaus einen aufrechten Verteidiger seiner Kirche sehen. Man muss auch Lessings argumentative Zielsetzung nicht befürworten, die lutherische Katechismusfrömmigkeit und die Lehre von der Heilswirksamkeit der Bibel gegeneinander auszuspielen. Aber unmittelbar – darauf setzt Lessings Gedankenspiel und darauf kommt es mir an! – ist man wohl geneigt, diese Inselbewohner mit Lessing als Christinnen und Christen anzusehen.

Der Verweis auf den Katechismus Luthers liegt im Streit mit einem spätorthodoxen Pastor natürlich nahe. Hier könnte man stattdessen auch an ein Gesangbuch oder ein heutiges Religionslehrbuch denken. Wäre das Ergebnis vergleichbar? Vermutlich schon. Aber wie sähe es eigentlich aus, wenn der Pfarrer mit einem Tischkicker aus seinem Jugendraum angeschwemmt worden wäre? Mit dem Kaffeeservice des Seniorenkreises? Mit einer Posaune vom Posaunenchor, ein paar Orgelpfeifen oder auch einem Stapel Kirchenvorstandsprotokolle?

Ich finde: All die Menschen, die an kirchlichen Strukturprozessen wie dem bayerischen Profil und Konzentration (PuK) beteiligt sind, sollten sich einmal gemeinsam die Zeit nehmen, über Lessings kleines Gedankenspiel nachzudenken! Vielleicht würde sich endlich der Fokus von den nachrangigen Organisationsfragen auf die wesentlichen Aufgaben der Kirche verschieben!

Denn die Beteiligten müssten dann, so meine ich, erkennen, dass es bei allen Diskussionen um die Zukunft der Kirche im Kern um diese eine Frage geht: Wie geben wir die christliche Lehre – man könnte auch von einer christlichen Elementarbildung sprechen – an unsere Nachkommen weiter?

Was muss alles gegeben sein, dass Menschen wie die Inselbewohner Lessings unmittelbar als Christinnen und Christen erkannt werden können? Welche Geschichten und Texte, welche Formeln und Gebete, welche Praktiken und Überzeugungen gehören zum Kernbestand? Und in welcher Form werden diese Gehalte am Besten vermittelt? Über all das ist damit ja noch nichts ausgemacht. Aber für die Reformatoren, ja noch für Lessing und seinen Kontrahenten waren diese Fragen schlechthin zentral. Sie wussten, dass es hier ums Ganze geht.

Warum werden sie dann, allem Anschein nach, in den entsprechenden Gesprächsprozessen kaum gestellt? Das hängt wahrscheinlich auch mit einer langen Tradition an Begründungsversuchen zusammen, warum Ballpumpen und Kaffeemaschinen für den Auftrag der Kirche mindestens ebenso wichtig sind wie Bibel und Bekenntnis. Lessings Gedankenexperiment führt die Haltlosigkeit dieser Versuche vor. Dennoch gehe ich auf ein paar typische Erwiderungen ein.

Geht es nicht eigentlich um den Glauben? Ja, aber dieser Glaube ist für kirchliches Handeln strikt unverfügbar. Wir können keinen Glauben vermitteln. Was wir als Kirche tun können und müssen, ist, unsere Lehre weiterzugeben. Für den Glauben sorgt der Heilige Geist, wann und wo er will.

Geht es nicht eigentlich um Ethik und Gemeinschaft? Jein. Die christliche Ethik ist eben eine solche, die an der Bergpredigt und den Paulusbriefen, an der Geschichte vom Samariter oder von der Ehebrecherin geschult ist. Und eine Gemeinschaft ist christlich, weil und insofern sie in diesem Horizont der christlichen Lehre lebt.

Aber läuft Lehre nicht darauf hinaus, Menschen nach theoretischen Bestimmungen ihr Christsein abzusprechen? Nein. Es mag durchaus Menschen geben, die auf nahezu alles verzichten können, was der Theologie an Lehrgehalten vorschwebt, und die trotzdem „ihren Glauben“ haben. Es gibt gar keinen Grund und kein Recht, ihnen das Christsein abzusprechen. Aber diese Fälle sind die Ausnahme, nicht die Regel und schon gar nicht der Maßstab für kirchliches Handeln! Warum sollte ein abstrakter Minimalbestand an Christlichkeit uns das Ziel vorgeben?

Wenn man die Frage nach der christlichen Lehre und ihrer Vermittlung ins Zentrum rückt, dann lassen sich die Zuständigkeit, der Auftrag, das Profil der Kirche endlich klar bestimmen. Damit ergibt sich aber die notwendige und gewünschte Konzentrationen fast schon von alleine. Die Prioritäten rücken sich zurecht. Konzentrationsprozesse werden dann nicht mehr danach geplant, wer im Vorfeld besonders furchterregend auftritt und mutmaßlich den meisten Schaden anrichtet, sollte man seine kirchlich finanzierte Spielwiese antasten. Und die Gesprächsprozesse kreisen auch nicht primär um die Bedürfnisse der Amtsträgerinnen und Amtsträger sowie die Ängste der Kerngemeinde.

Was mit Blick auf die Vermittlung der christlichen Lehre an die folgenden Generationen nichts oder wenig austrägt, ist für uns als Kirche nachrangig. So einfach ist das! Kindergottesdienst und Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht und Glaubenskurse treten dann neben Verkündigung und Liturgie in die vorderste Reihe. Es kann von diesem Standpunkt aus nur verwundern, dass auch viele Theologinnen und Theologen den Religionsunterricht lieber heute als morgen in allgemeine Religions- und Wertekunde auflösen würden!

Die Kritik betrifft bei weitem nicht nur das sogenannte „Gemeindehausleben“ oder den bürokratischen Apparat der Kirchenämter. Alle kirchlichen Handlungsfelder muss man kritisch durchleuchten, auch grundsätzlich in Frage stellen oder gegebenenfalls umgestalten: Was muss Kirche selbst machen? Und was können Christinnen und Christen jenseits kirchlicher Strukturen genauso leisten?

Warum bieten wir etwa offene Jugendarbeit an, wenn die Stadt mit ihrem Jugendzentrum die besseren Räume hat und breitere Zielgruppen anspricht? Wollen wir die kirchliche Presselandschaft erhalten oder stärker darauf setzen, dass bei den großen Zeitungen Journalistinnen mit Kirchenbindung und theologischer Bildung schreiben? Verstehen wir Kirchenleitungen als politische Taktgeber oder braucht es nicht vielmehr Politikerinnen und Politiker in den Parteien, die sich zum Christentum bekennen und danach handeln? Wo unterhalten wir diakonische Unternehmen, welches christliche Profil können wir der Marktlogik abtrotzen und wie stärken wir Christinnen und Christen, die bei nichtkirchlichen Arbeitgebern ihren Beruf und tätige Nächstenliebe ausüben?

Die Orientierung an der Lehre schafft Raum, solche Fragen zu stellen. Und wir müssen diese Fragen jetzt stellen. Wir müssen sie viel radikaler stellen, als das bisher geschieht! Betrachten wir uns als Schiffbrüchige! Damit in ein-, zweihundert Jahren ein verirrter Prediger – vielleicht aus Afrika, China oder Indien – in Deutschland auf Menschen treffen müsste, die er unmittelbar als Christinnen und Christen wiedererkennt!

5 Gedanken zu „Schiffbruch, Profil und Konzentration“

  1. Da spricht mir vieles aus der Seele. Nur an einem Gedankengang bleib ich hängen: Ja, es geht im Kern um die Weitergabe der Lehre. Aber geht es nicht auch um das Leben dieser Lehre in Gemeinschaft?
    Ist Kirche Lehrinstitution, oder ist die communio sanctorum?
    Und das Leben der Communio Sanctorum kann sich IMHO ganz verschiedendlich gestalten, je nach Frömmigkeitsstil kann das Gebetsbuch genauso (?) wichtig werden wie der Tischkicker (ist ja immer die Frage, wie der Tischkicker auf der Insel eingesetzt wird und welche Rituale sich darum entwickeln oder fortentwickelt werden).
    All diesen Gedanken zu Trotz sehe ich es durchaus so, daß der Anfang immer im Vermitteln der Lehre liegt und das der Lehre entsprechende Leben eine Folge ist. Wenn also gespart werden muß, dann nicht auf Kosten der Lehre. Fußball spielen geht auch ohne Tischkicker, und Gemeinschaft sowieso.

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  2. Ja, das ist ist genau das, was Profil und Konzentration in Bayern macht: den Auftrag der Schrift thematisieren in den konkreten Lebenskontexten der Menschen und daraus folgernd Strukturen der Kirche kritisch zu betrachten. Ob es vorrangig Ziel der Kirche ist, den Menschen eine „Lehre“ zu vermitteln oder nicht doch eher in lebendige Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu führen, darüber kann man sicher streiten. Daher spricht PuK eben vom Auftrag der Schrift und nicht von der Lehre. Ihre Beispiel für Vor- und Nachrangigkeiten lassen sich zahlreich aus PuK ergänzen,

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  3. Profil und Konzentration hat genau den Ansatz, den Sie beschreiben: Ausgehend vom Auftrag der Schrift werden die konkreten Aufgaben in konkreten Lebenskontexten vor Ort erarbeitet und daraus Folgerungen für die Struktur gezogen. Ihre konkreten Beispiele ließen dich vielfach aus PuK ergänzen. An einem Punkt gibt es allerdings einen Unterschied: Bei PuK sehen wir es nicht als vorrangige Aufgabe von Kirche, eine Lehre zu vermitteln, sondern in eine lebendige Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu führen (Grundaufgabe 1 bei PuK). Viele Grüße aus dem PuK-Team, Thomas Prieto Peral

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    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich bin natürlich keineswegs der Meinung, dass die Frage der Lehre (oder, wenn man so möchte: der inhaltlichen Identifizierbarkeit der Kirche) bei PuK keine Rolle spielt. Ich bin überzeugt, dass viele engagierte Christinnen und Christen ihr Verständnis von Lehre immer schon mitgebracht haben in den Gesprächsprozess und es auch produktiv einzubringen wissen, wenn sie die entsprechenden Fragen diskutieren. Allerdings scheint mir die explizite Besinnung auf Wesen und Auftrag der Kirche oft als nur impliziter Horizont hinter Strukturfragen zurückzutreten. Dies führt meines Erachtens zu Problemen.

      Die zentralen Probleme scheinen mir gerade in der Aufgabenbestimmung „in eine lebendige Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu führen“ anzuklingen.

      Diese Bestimmung ist zunächst einmal inhaltlich unterbestimmt. Da es sicher sachgemäß ist, sich vornehmlich an der Schrift zu orientieren, sei nur auf Mt 28,19f. verwiesen: „Darum gehet hin und lehret (!) alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret (!) sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ (LUT 2017). Die Bekenntnisse (CA 7, Katechismen usw.) sprechen sich ganz ähnlich aus. Die lebendige Gemeinschaft mit Gott und den Menschen lebt als Kirche von einem bestimmten Bestand an Praktiken, Symbolen, Erzählungen usw., der sie als christliche Gemeinde identifizierbar und den christlichen Gott als Vater ansprechbar macht. Wie lässt sich diese inhaltliche Bestimmtheit, die in der zitierten Formel eben völlig ausgeklammert ist, im Prozess angemessen zur Geltung bringen?

      Dies führt zu dem zweiten Punkt, der mir im Blick auf den PuK-Prozess noch wichtiger scheint: Die Aufgabe, „lebendige Gemeinschaft“ zu ermöglichen, ist meines Erachtens völlig ungeeignet, um eine Unterscheidung hinsichtlich der Prioritäten im Feld kirchlichen Handelns vorzunehmen. Unterläuft diese Bestimmung, die sich letztlich mit gleichem Recht auf alle (!) kirchlichen Aktivitäten mit Ausnahme der (gleichwohl ja schwer verzichtbaren) Verwaltungstätigkeit beziehen lässt, nicht gerade die Schärfung des Profils? Wie lässt sich hinsichtlich dieser Gemeinschaft zwischen wichtigeren und weniger zentralen Verwirklichungsformen unterscheiden? Mir scheint, hier soll ein klares theologisches Profil gerade vermieden werden. Wenn so eine Formel überhaupt zu – für Einzelne auch schmerzhafte – Entscheidungen führen soll, dann ist zur Begründung eine Menge zusätzlicher „Lehre“ notwendig.

      Geht es nicht auch jenseits der aktuellen Strukturdiskussionen darum, im Lichte des Evangeliums das unbedingt Gebotene vom vielleicht nur Wünschenswerten oder auch Hinderlichen zu unterscheiden? Wenn ja, dann muss die Kompetenz dazu auch gepflegt und vermittelt werden. Nicht zuletzt das meint der Begriff der Lehre. Dafür würde ich gerne das Bewusstsein schärfen.

      Herzliche Grüße aus Göttingen,
      Tobias Graßmann

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